# taz.de -- Buch aus dem Nachlass Bourdieus: Mit den Nackten kam der Umbruch | |
> Vorlesungen aus dem Nachlass: Der Soziologe Bourdieu untersuchte an der | |
> Malerei Manets, wie sich eine symbolische Revolution vollzieht. | |
Bild: Ein Besucher des Musée d‘Orsay vor Manets Werk „Le déjeuner sur l�… | |
Eine nackte junge Frau sitzt in einer Waldlichtung, daneben zwei bekleidete | |
junge Männer. Die Kritiker überschlugen sich, als Édouard Manet 1863 im | |
Salon des Refusés mit seinem Bild „[1][Le déjeuner sur l’herbe – Frühs… | |
im Grünen“] den offiziellen Salon der Akademie herausforderte. Für ein | |
Landschaftsbild – damals eine „niedere Gattung“ – war das Werk viel zu | |
groß. | |
Die Kritik höhnte über die flächige Malweise, bemängelte die fehlerhafte | |
Perspektive und schmähte das Sujet als obszön. Nicht nur, weil die Frau | |
nackt war; sondern weil sie das Gespräch mit den Männern verweigerte. | |
Stattdessen visiert sie den Betrachter außerhalb des Bildes an. Für die | |
Kunstgeschichte gilt der Maler seither als Wegbereiter der Moderne. | |
Wenn der [2][französische Soziologe Pierre Bourdieu] sein nachgelassenes | |
Werk über Manet im Untertitel „Eine symbolische Revolution“ nennt, schlägt | |
er in die gleiche Kerbe. Folgt man seiner Definition dieses Begriffs, | |
wälzte die Kunst Manets „die kognitiven und sozialen Strukturen“ der | |
damaligen Zeit um. Denn sie beendete die traditionelle Weise, Welt | |
abzubilden ebenso wie die Macht der Institution, die diese Normen | |
tradierte. | |
Auch Bourdieu sieht Manet als eine Art Revolutionär in diesem Sinne. | |
Dennoch will er mit dem „Mythos vom Bruch brechen“, mit dem die | |
Kunstgeschichte ihn bis heute umwölkt. Er sieht den 1832 geborenen Künstler | |
keineswegs als genialischen Einzelgänger. Exemplarisch will er an ihm die | |
„sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion“ aufzeigen. Die „Ikonolo… | |
muss soziologisiert werden“, hält er einer stilfixierten Kunstgeschichte | |
entgegen. | |
In der „dispositionalistischen Ästhetik“, die Bourdieu gegen den „Kult d… | |
Einzigartigen“ setzt, ist unschwer die Fortführung dessen zu erkennen, was | |
er 1992 mit dem Werk „Die Regeln der Kunst“ (Deutsch 1999) begann. Damals | |
untersuchte er die „Genese und Struktur des literarischen Feldes“ am | |
Beispiel von Gustave Flauberts „Éducation Sentimentale“. Jetzt ist die | |
Bildende Kunst dran. | |
## Einer musste es tun | |
Manet, der 1883 mit 51 Jahren starb, fungiert darin vor allem als | |
exemplarischer Platzhalter. Lesende lernen den Maler aber durchaus hautnah | |
kennen: Seine Jahre in der Akademie, seine Ateliers, seine Streifzüge durch | |
die Pariser Bohème. Bourdieu nähert sich Manet dennoch nicht klassisch | |
biografisch, sondern analytisch. | |
Akribisch zeichnet er nach, wie der „aristokratische Revolutionär“ Manet | |
schon über sein großbürgerliches Elternhaus mit einem „Netzwerk von | |
Beziehungen“ seinen Aufstieg absichert. Wie schon vor ihm alternative | |
Ausstellungen geduldet wurden, sich eine antiakademische Malweise | |
entwickelte. | |
Die neureiche Bourgeoisie des zweiten Kaiserreiches unter Napoleon III. | |
kaufte gern gefällige Genremalerei. Und unterminierte damit ebenfalls das | |
pathetische Ideal, das die Akademie beim Künstlernachwuchs festzuschreiben | |
suchte. Eingehend analysiert Bourdieu die Krise des französischen | |
Bildungssystems. Das staatsmonopolistische System der Kunstausbildung von | |
Akademie und Salon passte nicht mehr mit der gestiegenen Zahl von Künstlern | |
und Sammlern zusammen. | |
Des Künstlers spektakuläre Aktion von 1863 wird in Bourdieus Lesart so zum | |
notwendigen Schlusspunkt der „Emergenz eines autonomen künstlerischen | |
Produktionsfeldes“. Mit anderen Worten: Das System war überfällig, sein | |
Sturz absehbar. Einer musste es tun: Der ehrgeizige Maler nutzte den | |
historischen Moment. | |
„Manet“ ist kein klassisches Buch, sondern eine Materialsammlung. Es | |
besteht aus den Vorlesungen Bourdieus im Collège de France und dem – teils | |
nur thesenhaften – Manuskript des Buches, zu dem er es verdichten, wegen | |
seines Todes aber nicht vollenden konnte. Doch selbst als unvollendeter | |
Umriss einer Kunstsoziologie setzt es Standards für Kunstkritik und | |
-wissenschaft zu Zeiten, in denen Art-Celebrities an die Stelle der großen | |
Meister getreten sind. | |
## Kein soziologischer Fundamentalist | |
Akribisch fächert Bourdieu die Analysevariablen systematisch auf: soziale | |
Herkunft, ökonomische Verhältnisse, Statuskonflikte im Konkurrenzfeld. In | |
einer Tabelle listete er sogar auf, welche Kritiker damals wie oft welches | |
Kriterium für Manets Werke benutzten. So wollte er der diskursiven Matrix | |
auf die Spur kommen, die seine Rezeption prägte. | |
Kunsthistorischen Sprengstoff birgt die „dispositionalistische“ Ästhetik, | |
weil sie am Ideal des autonomen Künstlers rüttelt. Zugespitzt gefragt: | |
Erzwingen soziale Determinanten einer Zeit eine bestimmte Ästhetik? | |
Bourdieu will kein soziologischer Fundamentalist sein, wehrt sich gegen | |
jede „mechanistische Sichtweise“. Und rettet sich in die salomonische | |
Formel, dass Manet „eine Position innerhalb eines Raums einnimmt, den er | |
mit geschaffen hat und der gleichzeitig ihn erschafft“. | |
Wenn er das bekannte Zitat kolportiert, dass sich Manet nach einer heftigen | |
Kritik von Thomas Couture, seinem traditionell orientierten Akademielehrer, | |
in den Kopf gesetzt habe, eines Tages ein Bild zu malen, das diesem „Hören | |
und Sehen vergeht“, belegt das seinen Ansatz von der Wirkmacht sozialer | |
Faktoren. | |
Nur auf die ästhetische Eingebung hat Manet nicht gewartet. Warum er der | |
nackten Frau auf dem „Frühstück im Grünen“ allerdings dieses coole Läch… | |
aufs Gesicht gelegt hat, kann freilich auch die dispositionalistischste | |
Ästhetik nicht erklären. | |
1 Feb 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/%C3%89douard_Manet_-_Le… | |
[2] http://www.suhrkamp.de/autoren/pierre_bourdieu_535.html | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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