# taz.de -- Kolumne Darum: Sei verdammt, Pierre Bourdieu! | |
> Verhalten sich meine Kinder „wie Bourgeois“ oder wie Päpste? Über | |
> Pausenbrote, Gurken und die Frage, was „mehr oder minder früh“ bedeutet. | |
Bild: Hübsch anzusehen – kommt ohne Butterbrotpapier wieder ungegessen nach … | |
Wenn ich die Pausenbrotdosen meiner Kinder sehe, verfluche ich neuerdings | |
den französischen Soziologen Pierre Bourdieu. [1][Lange dachte ich, die | |
Dankbarkeit der Kinder müsse groß sein], dass da jemand vor sieben Uhr | |
morgens in der Küche steht, im Akkord Brote schmiert und Salatgurken | |
schneidet, damit sie in der Schule was zu essen haben. | |
Denkste! Vor zwei Jahren bekam ich von den Kindern stattdessen eine | |
Dienstanweisung: „Wenn du mir ein Brot machst, dann pack es in | |
Butterbrotpapier ein, bevor du es in die Dose tust. Sonst berührt es die | |
Gurkenstücke und weicht auf. Das können wir nicht leiden.“ | |
Debatten an dieser Stelle sind zwecklos, denn ich weiß: Ein angeweichtes | |
Brot kommt nachmittags zurück nach Hause, dann ist es durchgeweicht und | |
selbst für mich kaum genießbar. Mit viel Vaterliebe kann ich zugestehen: | |
Faktisch haben die Kinder zumindest im Ansatz Recht. | |
Und doch ärgere ich mich jeden Morgen wieder, wenn ich in Eile bin und noch | |
das verdammte, verfluchte Butterbrotpapier rauskramen muss. Woher kommt | |
diese Wut? Es liegt wohl am kompromisslosen Kommunikationsstil. „Nimm | |
gefälligst Butterbrotpapier!“ bedeutet nichts Anderes als: „Mach es einfach | |
so, wie wir es dir sagen!“ | |
Da ist er wieder, der diktatorische Sound der Kinder, von dem ich glaubte, | |
er liege hinter uns. Als sie klein waren, haben sie, ohne es zu wollen, | |
vieles bestimmt: wann aufgestanden und gegessen wird, wer wann welches Buch | |
vorzulesen hat und was danach zu tun ist. Wir Eltern hatten zu springen und | |
konnten allenfalls abends ein wenig Gegenmacht ausüben: „Nun geht es aber | |
ins Bett!“ | |
## Leben wie ein Bourgeois | |
Oft haben wir uns damals darüber unterhalten, was für ein populistischer | |
Krakeeler Herbert Grönemeyer sein muss, wenn er sich „Kinder an die Macht“ | |
wünscht und welcher Art die Diktatur denn wäre, wenn er seinen grauenvollen | |
Willen bekäme. | |
Uns war klar: Je kleiner ein Kind ist, desto abhängiger ist es von anderen. | |
Damit ließen sich Diktaturformen wie Nationalsozialismus, Faschismus, | |
Stalinismus und Militärherrschaft ausschließen. Wir dachten eher an | |
mittelalterliche Feudal- oder Klerikaldynastien, wo auch Minderjährige mal | |
[2][König] oder [3][Papst] werden konnten, ihre Macht sich aber auf | |
erwachsene Helfer stützte. | |
Diktatur ist wohl der falsche Begriff und der Zufall will es, dass ich | |
neulich Pierre Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“ las. Darin fand | |
ich einen Satz, der mein Denken über kindliche Autorität vom Mittelalter in | |
die Neuzeit transformierte: „Jedes Kind beginnt sein Leben wie ein | |
Bourgeois: in einem Verhältnis magischer Gewalt über die anderen und | |
vermittels ihrer über die Welt, tritt dann aber, mehr oder minder früh, aus | |
dem Stadium der Kindheit heraus.“ | |
Da stehe ich nun morgens in der Küche und in den zwei Brotdosen sind die | |
Salatgurken wieder einmal kurz davor, die Pausenbrote unsittlich zu | |
berühren. Verzweifelt suche ich das Butterbrotpapier, hebe mir aber den | |
Fluch, den es sonst abbekommt, diesmal für einen anderen auf: Was genau, | |
verdammter und verfluchter Pierre Bourdieu, bedeutet denn „mehr oder minder | |
früh“? Wer das nicht exakter sagen kann, sollte von „feinen Unterschieden�… | |
schweigen. | |
29 Jun 2015 | |
## LINKS | |
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[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_das_Kind | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_XII._(Papst) | |
## AUTOREN | |
Maik Söhler | |
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