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# taz.de -- Diskussion um Judith Butler: Der Griff der Normen
> Wieder gibt es den Vorwurf an die Philosophin Butler, Theorie und
> Aktivismus seien bei ihr untrennbar. Dabei sollte man ganz andere Fragen
> stellen.
Bild: Judith Butler gilt als eine der einflussreichsten Denker*innen der Gegenw…
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde die [1][US-amerikanischen
Philosophin Judith Butler] kürzlich als eine Theoretikerin bezeichnet, „die
Unterwerfung lehrt“. Statt als Intellektuelle, die mit ihrer Gendertheorie
und ihrem politischen Aktivismus für Menschenrechte und Befreiung eintritt,
müsse Butler mittlerweile längst als zynische Kommentatorin des politischen
Geschehens gesehen werden, die „die willenlose Unterordnung unter ein
namenloses Kollektiv“ predige.
Mit dieser Behauptung wird einmal mehr die in den Zirkeln der sogenannten
Antideutschen ventilierte These vertreten, Theorie und Aktivismus Butlers
seien nicht voneinander zu trennen und beide letztlich antiaufklärerisch.
Politischer Hintergrund dieser Einschätzung sind die wiederholten
Äußerungen Butlers gegenüber der [2][Politik des Staates Israel und ihre
Sympathien für die antiisraelische bis antisemtische Boykottkampagne BDS]
(Boycot, Divestment, Sanctions). Für Antideutsche ist das ein rotes Tuch
und Grund genug, sich gegen Butler und den mit ihrem Namen verknüpften
linken Poststrukturalismus in Stellung zu bringen.
Der Autor des FAZ-Artikels, der Historiker Marco Ebert, hatte auch in dem
viel diskutierten Band „[3][Beißreflexe]“ (2017) publiziert. In dem Buch,
das sich der „Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten und
Sprechverboten“ – so der Untertitel – gewidmet hatte, war bereits mehrfach
gegen Butler [4][Stellung bezogen worden]. Das theoretische Augenmerk auf
kulturelle Differenzen selbst geriet darin in Verdacht, bloß regressive
Affekte zu fördern: irrationale Abgrenzungen, starre
Gruppenzugehörigkeiten.
## Frage nach der Handlungsfähigkeit
Gegen die Rede von der Kultur, so Eberts eigene These in dem Buch, helfe
nur Klassenanalyse. Klasse macht Ebert irrigerweise als „den
sozialistischen Gegenbegriff zu Kultur“ aus und ignoriert dabei die
jahrzehntelangen – theoretischen wie aktivistischen – Debatten um
Arbeiterkultur ebenso wie die Bedeutungsvielfalt des Begriffes selbst:
Kultur bezeichnet schließlich nicht nur Gruppen, gegen deren vermeintlichen
Partikularismus dann ein abstrakter Universalismus aufgefahren werden kann.
Sondern Kultur meint auch Denk- und Wahrnehmungsweisen ganz allgemein und
betrifft damit Ebenen der Sozioanalyse, mit denen sich Linke nicht ohne
Grund seit Karl Marx beschäftigen.
Warum darüber hinaus und abgesehen davon die These absurd ist, dass Butler
eine Theoretikerin der Unterwerfung sei, kann die Lektüre ihres neuen
Buches aufzeigen – wie im Übrigen auch die jedes ihrer früheren Bücher. In
„Wenn die Geste zum Ereignis wird“ (2019) stellt Butler die Frage nach
individueller und kollektiver Handlungsmacht neu.
Die Frage nach der Handlungsfähigkeit, von Ebert bloß als schwacher Ersatz
für aufklärerische Begriffe wie Individuum oder Selbstbestimmung
interpretiert, stellt sich laut Butler deshalb, weil sie davon ausgeht,
dass Sprache „gegen unseren Willen, ja vor unserem Willen und vor unserem
eigenen Sprechen auf uns ein[wirke]“.
Nicht aus gegenaufklärerischen Motiven verwirft Butler die Rede von Subjekt
und Individuum, sondern weil sie die mit ihnen verbundenen, starken
Annahmen von Autonomie infrage stellt. Eine Infragestellung, die sich im
Übrigen ohne Weiteres als sprachtheoretische Übersetzung jener Marx’schen
Feststellung lesen ließe, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen,
„aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten
Umständen“.
## Was passiert mit dem Handeln?
Gesellschaftliche Normen und Konventionen prägen uns, bevor wir es
überhaupt merken. Dennoch sind unsere Handlungen laut Butler (und Marx)
nicht vorherbestimmt. Gerade weil die Konvention als solche immer wieder
bestätigt werden muss, gibt es auch Möglichkeiten, diese Bestätigungen zu
verweigern, zu ignorieren, zu unterlaufen.
Darin sieht Butler trotz der Analyse, dass Normen gewalttätige
Zuschreibungen sind, die prinzipielle Handlungsfähigkeit aufscheinen.
Butler ging und geht es darum, wie sie im neuen Buch zusammenfasst, mit
ihrer Theorie der Genderperformativität „den zwingenden Griff der Normen
auf das vergeschlechtlichte Leben zu lockern“.
Darüber hinaus stellt sie in dem kleinen Büchlein aber noch eine andere
Frage. Sie geht in die entgegengesetzte Richtung: Wenn die Normen schwächer
werden, wenn die Autoritäten nicht mehr gültig erscheinen, die die Praxis
absichern, was passiert dann mit dem Handeln?
## Erörterung von Solidarität
Das ist eine sehr politische Frage. Denn es geht darum zu erörtern, ob etwa
Solidarität staatliche Unterstützung, also Gesetze braucht oder gerade aus
prekarisierten Verhältnissen heraus entstehen kann. Hier sieht Butler eine
Tendenz: In den Mobilisierungen der letzten Jahre gegen „soziale und
ökonomische Ungleichheit“ sieht sie hoffnungsvolle Momente dafür, dass es
für solidarische Praktiken eben keiner starken, absichernden Struktur
bedarf.
Sie knüpft mit diesen Überlegungen an ihr letztes Buch, die „Anmerkungen zu
einer performativen Theorie der Versammlung“ (2016) an. Darin hatte sie
versucht, am Beispiel von nicht autorisierten Versammlungen, die nicht
einmal als Protest formiert sein müssen, den Begriff des „politischen
Raumes“ zu erweitern.
Eine der Thesen dabei lautete: Die versammelten Körper sagen nicht immer
das, was man ihnen unmittelbar ansieht oder was auf ihren Schildern steht.
Butler greift diese Einsicht nun wieder auf und versucht – unter Bezugnahme
auf Bertolt Brecht und Walter Benjamin – sie im Vokabular der Performance-
und Theatertheorie neu zu fassen. Der Name für den verkörperten Ausdruck,
hinter dem keine Intention, keine Demoparole steht, lautet Geste.
Die Geste wird damit zu einer Möglichkeit, sich vom vermeintlich
natürlichen Ausdrucksrepertoire zu lösen. Sie ermöglicht Distanz und damit
Kritik. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird deutlich, dass es hier um alles
andere als die „radikale Ablehnung liberaler und linker
Freiheitsvorstellungen“ (Ebert) geht. Es handelt sich um ein Projekt für
deren Erweiterung.
## Was zu fragen wäre
Fraglich an Butlers Position ist nicht deren Einbettung in einen linken,
emanzipatorischen Kontext. Zu fragen wäre vielmehr, wann und unter welchen
Bedingungen die doch sehr individuelle Geste zu einer kollektiven Kraft
werden kann? Macht mein Körper allein gute Miene zum bösen Spiel, beginnt
schließlich noch lange keine Revolution. Zu fragen wäre außerdem, ob die
Geste, wenn sie zur Unterbrechung des scheinbar natürlichen Laufs der Dinge
und damit zum Ereignis wird, überhaupt gezielt eingesetzt werden kann. Wie
können wir auf sie vertrauen?
Auch wenn Butler diese Fragen nicht ausreichend klärt, arbeitet sie
zweifelsohne an der Veränderung der gesellschaftlichen Denk- und
Wahrnehmungsweisen zum Guten hin. Verfechterinnen und Verfechter einer
„unveränderlichen Ohnmacht“, als die Ebert und andere Butler gerne sehen
würden, tun diese Arbeit nicht.
Und schließlich: Butlers einmal in einem Interview geäußerte Einschätzung,
Hamas und Hisbollah seien progressiv und Teil der globalen Linken, kann und
sollte als krasse Fehleinschätzung von deren autoritären Strukturen, deren
religiöser Ideologie und von deren Antisemitismus kritisiert werden. Mit
ihrer Theorie hat diese Fehldiagnose allerdings wenig zu tun.
28 Sep 2019
## LINKS
[1] /60-Geburtstag-von-Judith-Butler/!5280144
[2] /Streit-um-Israel-Kritik-und-BDS-Bewegung/!5584787
[3] /Kritik-an-der-queerfeministischen-Szene/!5409519
[4] /Alice-Schwarzer-gegen-Judith-Butler/!5439384
## AUTOREN
Jens Kastner
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