| # taz.de -- Feministische Philosophie und Körper: Müssen wir Butler verabschi… | |
| > In den 90er-Jahren verschwand der Körper aus dem Blick feministischer | |
| > Philosophie. Judith Butler sei schuld, sagten viele. Jetzt ist er wieder | |
| > da. | |
| Bild: Die feministische Theoretikerin Judith Butler ist angeblich schuld am Ver… | |
| Der weibliche Körper ist zurück. Die Diskussionen um ihn sind entflammt, | |
| als seien sie nie verloschen. Er ist zurück als Objekt, kommentierbar, | |
| antastbar und verletzbar in der #MeToo-Diskussion über Machtmissbrauch und | |
| sexuelle Gewalt. Er ist zurück als regulierter und kontrollierter Körper in | |
| der Neuauflage der Abtreibungsdebatte und, wenn es um seine „Modelmaße“ | |
| geht, als Teil einer heteronormativen wie auch einer warenförmigen | |
| Optimierungsstrategie. Er ist zurück als markiert durch Hautfarben und | |
| Kleidung. Als wäre er nie weg gewesen. | |
| Ja, war er denn weg? Durchaus. Er verschwand ungefähr Ende der neunziger | |
| Jahre. Das war nicht nur zufällig die Zeit des Siegeszugs neoliberalen | |
| Gedankenguts in den sich zuvor eher links verstehenden Parteien SPD und | |
| Grüne. Die Grundmelodie der Selbstermächtigung im Namen der Freiheit fegte | |
| auch den Gedanken an Frauensolidarität angesichts der Verletzbarkeit des | |
| weiblichen Körpers hinweg. Was als sinnvolle Mahnung vor der Einrichtung in | |
| der Opferrolle begann, wurde bald in einem FDP-artigen Liberalpopulismus | |
| kurzgeschlossen: Opfer? Selbst schuld. Frauen wurden lieber „Top Girls“, | |
| wie Angela McRobbie schreibt: Vollständig angepasst an ein modernisiertes | |
| neoliberales Patriarchat, in dem sogar einige von ihnen eine hübsche | |
| patriarchale Dividende kassieren können. Germanys Next Topmodel. Das war’s | |
| mit der Frauensolidarität. | |
| Alle Körper sind gleichermaßen weich und verletzbar. Dieses Wissen ist in | |
| unserer Gesellschaft vollständig vergeschlechtlicht, gegendert. Männer | |
| haben das ganz dringende Gefühl, sie müssten wehrhaft sein, | |
| durchsetzungsfähig und am besten unverwundbar. Frauen dagegen bekommen | |
| heutzutage eine hübsche Doppelbotschaft: Du musst wehrhaft sein wie ein | |
| Mann. Aber du bist es nicht. Man kann dich verletzen. Männer fühlen sich | |
| berechtigt, dich zu verletzen. Das meinen Soziolog*innen, wenn sie davon | |
| sprechen, dass ein Geschlecht in unserer Gesellschaft als | |
| „verletzungsmächtig“ gilt – und eines als „verletzungsoffen“. | |
| Die Doppelbotschaft an die Frauen führte des Längeren zu einer Art | |
| Maskerade: Männer fühlen, dass sie Waffen sein können, sagen es aber nicht | |
| laut. Frauen fühlen, dass sie als verletzbar gelten, dürfen es sich aber | |
| nicht anmerken lassen. Nicht wenige von ihnen durchschauen das Spiel und | |
| sagen: „Die angebliche Verletzbarkeit der Frauen, das ist doch nur ein | |
| Konstrukt! Ich weigere mich, daran zu glauben.“ Sie postulieren, dass eine | |
| Vergewaltigung nicht unbedingt traumatisch sein muss, dass der Körper doch | |
| „nur“ der Körper ist, wie die französischen Frauen um Catherine Deneuve es | |
| in der #MeToo-Debatte kundtaten. | |
| ## Zur Verletzung „ermächtigt“ | |
| Sie haben damit auf einer Metaebene teilweise recht: Die Angst der Frauen | |
| vor der Verletzung ist quasi eine Stütze des Patriarchats. Doch diese | |
| Kritikerinnen vergessen den anderen Teil des Konstrukts. Jemand anderes | |
| nämlich fühlt sich zur Verletzung „ermächtigt“. Und dieser Teil muss ins | |
| Licht gerückt werden. Das ist #MeToo. #MeToo erkennt an, dass alle Körper | |
| verletzlich sind. Und dass die Konvention verändert werden muss, die auf | |
| der einen Seite die verletzbare Frau konstruiert und auf der anderen Seite | |
| den verletzungsmächtigen Mann. | |
| Deshalb die These, dass der Körper – in seiner Verletzlichkeit – zurück | |
| ist. Das Opfersein wird nicht genutzt, um Männer zu dämonisieren. Das | |
| Opfersein wird thematisiert, um den Männern das Tätersein zu nehmen. | |
| Und was hat Judith Butler nun damit zu tun? Die feministische Theoretikerin | |
| aus Berkeley ist angeblich schuld am Verschwinden des Körpers. Denn Judith | |
| Butler hat den Geschlechtsunterschied angeblich „kulturalisiert“. 1990 | |
| erschienen ihr Bestseller „Gender Trouble“ („Das Unbehagen der | |
| Geschlechter“). Darin erklärt sie, der „kleine Unterschied“ sei nur ein | |
| Effekt von Konventionen und Diskursen. Allein die biologische Zweiteilung | |
| sei schon eine Einengung der Vielfalt der Materie. | |
| Alice Schwarzer wirft ihr dies bis heute bitter vor. Als könne man sich aus | |
| seinem Geschlecht hinausschleichen, indem man es zur bloßen Konstruktion | |
| erkläre. Andere tun dasselbe mit den Genderstudies, als deren Begründerin | |
| Judith Butler gilt. Die Genderstudies vertrieben sich die Zeit mit der | |
| Frage, wie der Geschlechterunterschied sich in diesem oder jenem Diskurs | |
| manifestiert hat. „Dabei sterben da draußen Frauen!“, hört man Alice | |
| Schwarzer und die ihren rufen. | |
| ## Was soll dieses Gender-Chichi? | |
| Dass man sich zu sehr um dieses Gender-Chichi gekümmert habe statt um | |
| richtige Probleme, ist ein Diskurs, der in viele Richtungen hin | |
| ausgeschlachtet wird. Die Feministinnen, die das Ganze eher als | |
| Ablenkungsmanöver sehen, gepaart mit einer feministischen Tradition des | |
| Antiintellektualismus (Wer versteht schon diesen Genderquatsch?). Die Jungs | |
| natürlich, die nicht dekonstruiert werden wollen, weil sie Angst haben, | |
| ihre patriarchale Dividende, kurz gesagt: Macht, zu verlieren. Und von da | |
| geht’s stramm nach rechts: Björn Höcke von der AfD will die deutsche | |
| Männlichkeit wiederherstellen. Wozu? Natürlich um die als verletzungsoffen | |
| konstruierten Frauen zu „schützen“. Aber nur die deutschen. Gegen die als | |
| unendlich verletzungsmächtig konstruierten „Ausländer“. Sie benutzen also | |
| die alte Geschlechterkonstruktion erneut, um rassistische Differenzen zu | |
| erzeugen. | |
| Natürlich wird so ein „Femonationalismus“, der die Rollen klar verteilt, | |
| durch die auflösende Wirkung der Genderforschung bedroht. Folglich wird | |
| Gender bekämpft. Umso bedenklicher ist es, dass es die Kritik an „Gender“ | |
| ist, die den Rechten, deren Rassismus noch nicht als gesellschaftsfähig | |
| gilt, den Weg bis weit in die Mitte und auch in die Linke ebnet. | |
| Ein Problem gibt es immer bei der Tatsache, dass Judith Butler quasi den | |
| sichtbaren Körper mit Brüsten, Gebärmutter, Hoden und Penis als | |
| historisches Konstrukt betrachtet. Das halten viele für absurd, so oft | |
| Butler auch beteuert, dass sie nicht die Materialität der Körper an sich in | |
| Frage stellt. | |
| Gerade die feministische Forschung in Deutschland lehnte Butler deshalb zu | |
| Beginn in großen Teilen bis hin zu einer oft zitierten „Rezeptionssperre“ | |
| ab. „Die Frau ohne Unterleib“, spottete Barbara Duden, Grande Dame der | |
| historischen Körperforschung, über Butler. Viele ärgerten sich vor allem | |
| darüber, dass Butler ihren Kampfbegriff „Geschlecht“ mittels Dekonstruktion | |
| in der Hand zerbröseln zu lassen schien. Wer die Zweigeschlechtlichkeit an | |
| sich in Frage stellt, wie kann der noch für eines dieser Geschlechter | |
| kämpfen? | |
| ## Emanzipatorische Gedanken mitdenken | |
| Bedeutet die „Rückkehr zum Körper“ also eine Abwendung von Butlers These, | |
| dass auch der Körper eine Konstruktion sei? | |
| Das ist meines Erachtens die feministische Gretchenfrage heute. Und ich | |
| behaupte, dass sich emanzipative und konservative Praxis an dieser Frage | |
| scheiden. Mit anderen Worten: Wer jetzt Butler wegwirft, der kann bestimmte | |
| emanzipatorische Gedanken nicht mehr mitdenken. | |
| Wieso? Weil jeder Versuch, zwei biologische Geschlechter anhand von Materie | |
| dingfest zu machen, dazu tendiert, diese Geschlechter als Oppositionen oder | |
| bestenfalls komplementär zu setzen. (Ganz davon abgesehen, dass die | |
| Genforschung große Schwierigkeiten hat, das Vorkommen von „Männern“ mit | |
| „weiblichem“ Chromosomensatz und umgekehrt zu erklären). Aus ein paar | |
| wackeligen Genunterschieden und nicht sehr konstanten Hirnaktivitäten | |
| leitet etwa die Hirnforscherin Louann Brizendine („Das weibliche Gehirn“, | |
| „Das männliche Gehirn“) ab, wie Frauen und Männer sich verhalten. Und | |
| merkwürdigerweise schließen sich diese beiden Verhaltensweisen immer | |
| gegenseitig aus. Und die eine zieht dabei immer den Kürzeren. Der eine | |
| setzt sich durch, die andere gibt nach. Der eine ist hart, die andere ist | |
| weich, der eine ist rational, die andere emotional, der eine aggressiv, die | |
| andere passiv. So soll Natur funktionieren, dieses Wunder an sich ständig | |
| ändernder Varietät? | |
| Es ist eine Kippfigur der Geschlechter: Was das eine ist, kann das andere | |
| nicht sein. Das sind die Zuschreibungen, die in all unseren Seelen sitzen | |
| und, wie der französische Theoretiker Michel Foucault es sagt: die „Seele | |
| zum Käfig des Körpers“ machen. Ich muss mich als Frau oder Mann | |
| inszenieren, bei Höchststrafe des Ausschlusses aus der Gemeinschaft. Im | |
| Übrigen muss ich auch mein Begehren so ausschließlich inszenieren – Schwule | |
| und Lesben werden immer noch wie eine Extra-Menschengattung betrachtet. | |
| ## Ein Dildo statt eines Penis | |
| Gelänge es, diese Kippfigur zu integrieren, könnte das einzelne Wesen sich | |
| als Mensch mit diesen und jenen Eigenschaften begreifen. Keine | |
| Rosa-Hellblau-Falle, keine ausschließliche und biologisch begründete | |
| „Verletzungsoffenheit“ der Frau und „Verletzungsmacht“ des Mannes. Frei. | |
| Judith Butler schreibt in „Körper von Gewicht“: „Die biologische Basis d… | |
| Besonderheit des Körpers der Frau in Frage zu stellen kann durchaus ein Weg | |
| zu einer Rückkehr zum Körper sein, dem Ort als einem gelebten Ort der | |
| Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell | |
| erweiternder Möglichkeiten.“ | |
| Und trotzdem kann man sagen: Ihr nehmt mich als Frau, als lesbisch wahr | |
| oder als schwarz oder als behindert – und diskriminiert mich aufgrund | |
| dieser Wahrnehmung. Das ist die Lehre des Konstruktivismus Butlers: Er | |
| redet nicht der Beliebigkeit das Wort, sondern eher den mühsam dem | |
| stahlharten Konstrukt der Identität abgerungenen Freiheitsräumen: Das | |
| Kopftuch auf- oder absetzen. Einen Dildo statt eines Penis verwenden. Sich | |
| vom Hetero-Diktat befreien – nicht weil alle homosexuell werden sollen, | |
| sondern weil mit dem heteronormativen Modell Jahrhunderte lang die | |
| Unterordnung der Frau einhergeht und ihr Begehren nach dem „Mann um jeden | |
| Preis“ eine Art Sklavenpeitsche werden kann. | |
| Wer die binäre Geschlechterordnung in Frage stellt, stellt immer auch die | |
| Machtfrage. Weil er und sie damit auch die Hierarchie der Geschlechter in | |
| Frage stellen. Das ist das große Freiheitsversprechen der Judith Butler. | |
| Wir sollten es keinesfalls verabschieden. | |
| Ist der Mann biologisch aktiv und die Frau passiv? Die Biologie selbst hat | |
| das längst ad acta gelegt. Aber die Biologist*innen wollen diese Ordnung | |
| zurückhaben. Die Frauen* sollten ihnen nicht dabei helfen. Sie sollten den | |
| weiblichen Körper keinesfalls verabsolutieren. Aber sie sollten um ihn | |
| kämpfen, um jeden Zentimeter. Gebt ihnen kein einziges Gen! | |
| 7 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Heide Oestreich | |
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