# taz.de -- Psychoanalytikerin über Geschlecht: „Wir sind nicht fluide“ | |
> Es gibt in unserer Gesellschaft ein Bedürfnis nach geschlechtlicher | |
> Eindeutigkeit, sagt Psychoanalytikerin Becker. Und zugleich das Bemühen, | |
> diese aufzuweichen. | |
Bild: In ihrer Fotoarbeit „Lying Still“ beschäftigt sich Birthe Piontek mi… | |
taz: Frau Becker, Freud hat gesagt, Anatomie ist Schicksal. Sehen Sie das | |
auch so? | |
Sophinette Becker: Da begebe ich mich natürlich auf Glatteis. Trotzdem | |
würde ich sagen: Ja, auch. In der ganzen Nachfolgedebatte um Judith Butler | |
wurde zum Teil so getan, als sei auch der Körper nur eine kulturelle | |
Zuschreibung. | |
Butler sagt: Auch Körper werden performativ konstruiert. Sie wird oft so | |
verstanden, dass es eigentlich keine Körper gibt, sondern nur Sprache – und | |
dass die unsere Vorstellung von Körper formt. | |
Ja, aber sie relativiert das auch wieder. Natürlich hat es eine Bedeutung | |
für uns, wie wir uns unseren Körper aneignen. Es macht auch heute noch | |
einen Unterschied, dass ein kleiner Junge seinen Penis sehen, während ein | |
kleines Mädchen ihre Vagina nur ertasten kann. Das sind unterschiedliche | |
Erfahrungen. Daraus kann man aber natürlich keine Wesenszuschreibungen | |
ableiten. | |
Welchen Unterschied macht dieses verschiedene Entdecken denn? | |
Es führt zum Beispiel dazu, dass wir mit den Worten für die weiblichen | |
Genitalien noch nicht sehr weit sind. Für die Vulva gibt es immer noch kein | |
deutsches Wort außer Scham. | |
Vielsagend, dass es ausgerechnet Scham ist. | |
Es erstaunt mich, dass sich das noch immer nicht geändert hat. Auch die | |
Pubertät verläuft übrigens anders: Eine Erektion ruft andere Gefühle hervor | |
als eine Menstruation. Weibliche Brüste fühlen sich anders an als | |
männliche. Daraus aber abzuleiten, dass Mädchen fürsorglicher seien oder zu | |
sein hätten, ist eine kulturelle Zuschreibung. Und wie wir als Gesellschaft | |
mit dem Körper umgehen, das ändert sich immer wieder. | |
Wie ist das momentan: Lösen sich Geschlechterrollen eher auf? | |
Es gibt beides, eine Annäherung und eine Akzentuierung. Frauen dringen in | |
alle öffentlichen Räume vor. Trotzdem verkaufen sich Bücher wie „Warum | |
Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können“ immer noch in hohen | |
Auflagen, weil es auch ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit gibt. | |
Woher kommt das? | |
Ich habe dazu nur eine Vermutung: Seit der Kapitalismus sich in seiner | |
gegenwärtigen Form manifestiert, gibt es eine starke Tendenz zu | |
Individualisierung und Selbstoptimierung. Jeder und jede ist dafür | |
verantwortlich, wie fit er oder sie ist, wie sie oder er aussieht oder | |
Ähnliches. Solidarität hat kaum noch einen Raum. Das ist mit einer | |
Identitätssuche verbunden, die sich auch am Geschlecht festmacht. | |
Mehr Solidarität, weniger starre Geschlechterrollen? | |
Leider fallen Solidarität und weniger starre Geschlechterrollen nicht | |
automatisch zusammen. Auch die Verfechter der geschlechtlichen Vielfalt | |
sind ständig auf der Suche nach neuen Identitäten. Asexuell, polyamourös, | |
dauernd muss man Identitäten kreieren. Anstatt Gemeinsamkeiten | |
wahrzunehmen, werden Unterschiede akzentuiert. Aber die Wahrnehmung von | |
gemeinsamen Interessen ist eine Voraussetzung von | |
Solidarisierungsprozessen. | |
Führt die Auflösung binärer Geschlechterrollen letztlich nur zu mehr | |
Schubladen? | |
Geschlecht muss momentan flüssig sein, fluide. Das scheinen die Strukturen | |
zu sein, die der gegenwärtige Kapitalismus braucht. Die früheren Formen | |
brauchten den autoritären Charakter, wie ihn Adorno und andere beschrieben | |
haben. Möglicherweise sind in einer Welt, in der viele gezwungen sind, | |
immer wieder Arbeitsplatz und Wohnort zu wechseln, flüssige und flexible | |
Identitäten viel adäquater. | |
Der Kapitalismus verleibt sich fluide Geschlechtsidentitäten ein? | |
Er scheint ihre Entstehung zu begünstigen. | |
Vielleicht wehren wir uns aber auch gegen kapitalistische Strukturen, indem | |
wir uns nicht in starre, autoritäre Geschlechtermodelle pressen und darin | |
ausbeuten lassen. | |
Das hoffen viele. Aber was Avantgarde ist, wissen wir erst hinterher. | |
Warum spielt Geschlecht überhaupt eine so zentrale Rolle für uns? Warum | |
können wir nicht sagen, es ist egal, in welchem Körper wir leben? | |
Der Körper hat uns einfach sehr lange sehr stark geprägt, wir machen | |
Erfahrungen mit ihm. Als Kinder erleben wir so etwas wie eine bisexuelle | |
Omnipotenz. Jungen können mädchenhaft sein, Mädchen können Tomboys sein, | |
ohne dass sich daraus große Fragen ergeben. Später wird der geschlechtliche | |
Körper sehr viel eindeutiger, die sexuelle Orientierung festigt sich. Ich | |
kann mir nicht vorstellen, dass wir uns geschlechtslos fühlen können, den | |
realen Körper kann man nicht vollkommen sozialkonstruktivistisch auflösen. | |
Aber nur, weil etwas verschieden ist, muss es noch nicht hierarchisch | |
sein. | |
Wir müssen Differenz ohne Hierarchie denken? | |
Ja. Das gilt gegenüber anderen Hautfarben, Ethnien und eben auch | |
Geschlechtern. Geschlecht ist spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts als | |
strikte Hierarchie verstanden worden, davon müssen wir loskommen. Wir | |
müssen anerkennen, dass wir etwas vom anderen haben können, ohne das andere | |
zu sein. Ich will, dass wir verschieden sind, in tausend Eigenschaften | |
verschieden. Ich will nur keine Hierarchie. In meinen Augen gibt es auch | |
eine körperliche Grenze: Wir können nicht alles sein. | |
Warum nicht? | |
Ich kenne niemanden, der oder die das ganz leben könnte. Es gibt | |
mittlerweile Menschen, die hätten gern alles, eine Brust und einen Penis, | |
und setzen das zum Teil auch um. Aber die bisexuelle Omnipotenz, psychisch | |
wie physisch, können wir nur als Kind erleben. Spätestens ab der Pubertät | |
ist sie nur mehr um den Preis der Verleugnung zu haben. | |
Weil einem später die Sexualität dazwischenkommt? | |
Auch. Zu mir kommen viele Menschen, die das Geschlecht wechseln wollen. | |
Manche wollen eine Operation, andere nur Hormone. Manche sagen, ich möchte | |
gerade so viel Hormone, dass ich noch Geschlechtsverkehr haben kann, aber | |
eine Brust bekomme. Manche wechseln sozial das Geschlecht und machen nichts | |
Körperliches, und es geht ihnen gut damit. | |
Also doch weg von den Schubladen. | |
Schön wär’s. Die Grenzen werden fließender, aber ich glaube nicht, dass sie | |
ganz verschwinden. Glauben Sie das? | |
Ich achte oft gar nicht so sehr darauf, welches Geschlecht der Mensch hat, | |
der vor mir steht, ob das jetzt Mann oder Frau oder trans oder inter ist. | |
Aber wenn Sie sich verlieben, machen Sie etwas daran fest. | |
Ich bin heterosexuell, ja. | |
Wenn ich mich mit jemandem über Politik unterhalte, denke ich da auch | |
weniger dran. Aber wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker sagt: Das | |
Geschlecht ist in das Begehren eingebrannt. Ich frage mich, warum wir | |
überhaupt ganz von der Dualität wegkommen sollen, warum das momentan so | |
wichtig ist. Ursprünglich ist queer mal angetreten, um diese enorm | |
hierarchisierenden heteronormativen Zuschreibungen aufzulösen. Queer war | |
eine Fragestellung, eine Infragestellung. Und jetzt wird versucht, das | |
umzuformen in eine Konstruktion, dass man alles sein kann oder muss. Auch | |
bei Butler geht es um eine Kritik, eine Fragestellung. Wie eine | |
genderfluide Praxis aussieht, wie permanentes „undoing gender“ aussieht, | |
ist aber noch lange nicht geklärt. An der Uni hier in Frankfurt werden | |
jetzt auf Beschluss des Asta Urinale produziert, solche Pappteile, mit | |
denen Frauen auch im Stehen pinkeln können … | |
… die finde ich ja super. | |
Was finden Sie denn daran super? | |
Fahren Sie mal auf ein Festival, überall Dixieklos. Die Kloschlangen werden | |
kürzer, ich muss mich nicht hinsetzen, das ist ein Stück Freiheit. | |
Okay, das leuchtet mir ein. Trotzdem: Ich kenne viele Leute, die sich als | |
queer bezeichnen, die offen sein wollen für alles, die sich das wünschen. | |
Das ist ein Anspruch, ein Etikett. Aber es in eine konkrete Lebenspraxis | |
umsetzen zu können, ist Wunschdenken. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Deren Lebensrealität unterscheidet sich in vielem nicht so sehr davon, was | |
andere Leute auch leben: Sie sind eifersüchtig, unsicher, leiden unter | |
mangelndem Selbstwertgefühl oder Annäherungsschwierigkeiten. Vor so etwas | |
schützt auch queere Identität nicht. Es ist ja auch nicht schlimm, wenn wir | |
da noch auf der Suche sind. Was mich stört, ist, dass das schnell etwas | |
Normatives bekommt: Nicht nur ich soll so sein, sondern alle. Vielfalt als | |
Gebot. Das möchte ich aber gern noch selbst entscheiden. Verstehen Sie sich | |
als Frau? | |
Ja. | |
Da würde ich auch nie sagen, nur deshalb sind Sie eine reaktionäre | |
konventionelle Tussi. | |
Na ja, ich würde auch sagen, ich bin keine Tussi, ich bin Feministin. Ich | |
bin mit meiner Identität als Frau im Reinen, aber ich will trotzdem die | |
gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Da scheint es mir ganz bereichernd, | |
Geschlechterrollen in Frage zu stellen. | |
Das sehe ich auch so. Ich glaube nur, dass queer und Feminismus nicht | |
nahtlos ineinander übergehen. Das braucht noch Diskussionen. Queer verliert | |
durch die Konzentration auf Fluidität zum Teil genau die gesellschaftlichen | |
Verhältnisse aus dem Blick, die wir ändern müssen. | |
Zum Beispiel? | |
Ungerechte Verteilung, Machtstrukturen. Auch die Eigentumsverhältnisse | |
lassen sich nicht von der Geschlechterfrage trennen. Wenn Frauen mehr | |
verdienen würden, wären sie weniger auf den Job angewiesen und würden sich | |
weniger gefallen lassen. Das ist, wie bei der #MeToo-Debatte, ein viel | |
größeres Thema, als immer nur der Anspruch, Geschlecht zu dekonstruieren. | |
9 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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