# taz.de -- Schutz menschlichen Lebens: Liebe deine Fernsten | |
> Die Gendertheoretikerin Judith Butler denkt über universelle | |
> Betrauerbarkeit nach, um eine neue Theorie der Gewaltlosigkeit zu | |
> begründen. | |
Bild: Judith Butler ist eine der renommiertesten Philosophinnen | |
Spätestens seit den Debatten der 1970er Jahre um Ulrike Meinhof und die | |
[1][RAF] oder um die in den 1990er Jahren stattfindende Blockade von | |
Mutlangen, um die Stationierung von Pershing-Raketenzu verhindern, steht | |
die Frage nach Sinn und Grenzen gewaltfreien Widerstands im Zentrum | |
politischer Ethik. | |
Genau dieser Frage widmet sich das soeben erschienene, auf Vorlesungen und | |
einem bereits veröffentlichten Beitrag der [2][US-Philosophin und | |
Gendertheoretikerin Judith Butler] beruhende Buch „Die Macht der | |
Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen“. | |
Zwar definiert Butler anfangs das, was sie als „Gewaltlosigkeit“ | |
bezeichnet, kompliziert aber die vermeintlich einfache Frage nach deren | |
Grenzen dadurch, dass sie den Begriff der „Gewalt“ vorsätzlich undefiniert | |
lässt. Demnach ist Gewaltlosigkeit „weniger Handlungsunterlassung als | |
vielmehr physischer Einsatz für die Ansprüche des Lebens, ein lebendiger | |
Einsatz und ein Anspruch, erhoben durch Sprache, Gestik und Aktion in | |
Netzwerken, Protestlagern und Versammlungen“. Und ist immer dort sinnvoll | |
und geboten, wo „Zerstörung am wahrscheinlichsten oder sogar mit Sicherheit | |
zu erwarten ist“. | |
So einleuchtend das klingt, so sehr verweigert sich Butler gleichwohl | |
einfachen Antworten, versucht sie doch wieder und wieder zu belegen, dass | |
das, was gemeinhin als „Gewalt“ bezeichnet wird, nicht eindeutig | |
definierbar ist – werde doch etwa friedlicher Widerstand von Machthabern | |
durchaus auch als „Gewalt“ bezeichnet. | |
## Schutz menschlichen Lebens | |
Diese Schwierigkeit führt Butler zur Grundlegung einer neuen Ethik, die sie | |
als eine Ethik der „Betrauerbarkeit“ bezeichnet und die in striktem | |
Gegensatz zum modernen, westlichen Individualismus stehen soll. Butler | |
lehnt diesen Individualismus mit dem stichhaltigen Argument ab, dass kein | |
Individuum seine Existenz sich selbst verdankt, sondern dass wir alle – als | |
die Individuen, die wir sind und sein wollen – das ausschließlich der | |
hilfreichen Abhängigkeit von anderen verdanken. | |
Entsprechend plädiert sie für einen radikal egalitären Ansatz zum Schutz | |
menschlichen Lebens (worunter sie nicht das „ungeborene Leben“ versteht): | |
könne doch nur ein solcher Ansatz „eine Perspektive radikaler Demokratie in | |
die ethischen Überlegungen zur besten praktischen Umsetzung von | |
Gewaltlosigkeit“ einbringen. Diesen Egalitarismus will Butler eben durch | |
besagte Ethik der Betrauerbarkeit begründen. | |
Erst dann nämlich, wenn allgemein eingesehen werde, dass jedes | |
(menschliche) gleichermaßen betrauerbar und entsprechend wertgeschätzt sei, | |
ließe sich die fatale Bestimmung von „Gewalt“ als bloßem Mittel zur | |
Durchsetzung höherer Zwecke überwinden und ihre Spirale beenden. Sei doch | |
„Gewaltlosigkeit“ im Unterschied dazu weder ein Mittel zum Zweck noch | |
Selbstzweck, sondern eine „Technik jenseits sowohl der instrumentellen | |
Logik wie teleologischer Entwicklungsmuster.“ | |
Gewaltlosigkeit sei – wie Butler unter Bezug auf [3][Walter Benjamins] | |
„Kritik der Gewalt“ aus dem Jahr 1921 schreibt – eine Technik, die weder | |
herrsche noch beherrschbar sei. An dieser Stelle ist der | |
[4][Adorno-Preisträgerin Butler], einer vorzüglichen Kennerin sowohl der | |
Philosophie des Idealismus als auch der Kritischen Theorie, ein Rückgang | |
auf die Philosophie Griechenlands zu wünschen: wäre ihr doch dann klar | |
geworden, dass selbstzweckhafte Handlungen eben keine „Techniken“, sondern | |
– so schon Aristoteles – „Praxen“ sind. | |
## Freund-Feind-Beziehungen | |
Butlers Philosophie der Betrauerbarkeit gipfelt jedenfalls in der | |
Forderung, „dass kein Leben in seinem Fortbestand der Drohung von Gewalt, | |
systemischer Vernachlässigung oder militärischer Auslöschung unterworfen | |
sein sollte“. So überzeugend dieses Postulat auch im Grundsatz sein mag, so | |
sehr führt es doch in jene auch von Butler anfänglich erwähnten Aporien | |
zurück, die mit den Fragen der Legitimität gewaltsamer Selbstverteidigung | |
beziehungsweise revolutionärer Gewalt zur Herstellung besserer Zustände | |
verbunden sind. | |
Man muss Carl Schmitt nicht grundsätzlich zustimmen, um ihm darin recht zu | |
geben, dass (tödliche) Freund-Feind-Beziehungen ein wesentlicher | |
Bestandteil des politischen Lebens sein können: Dann aber stellt sich die | |
Frage, ob und in welchem Ausmaß auch das Leben (unserer) Feinde betrauerbar | |
ist oder doch sein sollte. | |
In der Summe lässt sich sagen, dass Butler für eine neue, metaethische | |
Grundhaltung plädiert, womit freilich das von ihr anfangs erwähnte | |
grundsätzliche Dilemma, ob es zulässig ist, zur Selbstverteidigung Gewalt | |
anzuwenden, ungelöst bleibt; ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, was es | |
heißen kann, dass sogar Menschen, die unmenschlich gehandelt haben oder | |
handeln wollen, betrauerbar sein sollen. | |
Ohne ihn zu erwähnen, scheint Butler für eine Haltung zu plädieren, die | |
Friedrich Nietzsche ironisch als „Fernstenliebe“ bezeichnet hat. Lässt er | |
seinen Zarathustra doch sagen: „Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber | |
noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!“ Aber | |
vielleicht will Butler auch nur mitteilen, dass in einer Welt, in der alle | |
Menschen ihre grundsätzliche Interdependenz erkannt und alle anderen als | |
betrauerbar anerkannt haben, das Problem von Gewalt und Gewaltlosigkeit | |
ohnehin verschwindet: messianische Zeiten! | |
13 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /40-Jahre-Deutscher-Herbst/!5441131 | |
[2] /60-Geburtstag-von-Judith-Butler/!5280144 | |
[3] /Neue-Biografie-ueber-Walter-Benjamin/!5728844 | |
[4] /Pro-und-Contra-Adorno-Preis/!5084212 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
## TAGS | |
Judith Butler | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Gender | |
Gewalt | |
Philosophie | |
Philosophie | |
Islam | |
Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erste Professorin für antike Philosophie: Philosophie ist weiblich | |
Dorothea Frede ist Expertin für Aristoteles – trotz seines schwierigen | |
Frauenbilds. Von männlichen Philosophen hat sie sich nie beirren lassen. | |
Diskussion um Judith Butler: Der Griff der Normen | |
Wieder gibt es den Vorwurf an die Philosophin Butler, Theorie und | |
Aktivismus seien bei ihr untrennbar. Dabei sollte man ganz andere Fragen | |
stellen. | |
Forschung zum politischen Islam: „Butler hat nichts verstanden“ | |
Kritik am politischen Islam gerät schnell unter Rassismusverdacht. Ein | |
Interview mit Susanne Schröter vom Forschungszentrum Globaler Islam. | |
Linker Antisemitismus: Das strafende Volk | |
Die politische Rechte hat den Antisemitismus nicht exklusiv. Im Angriff auf | |
Alain Finkielkraut in Paris zeigt sich ein Problem der Linken. |