| # taz.de -- Erste Professorin für antike Philosophie: Philosophie ist weiblich | |
| > Dorothea Frede ist Expertin für Aristoteles – trotz seines schwierigen | |
| > Frauenbilds. Von männlichen Philosophen hat sie sich nie beirren lassen. | |
| Bild: Studierte Germanistik, Musikwissenschaft, Philosophie und Philologie: Dor… | |
| Philosophia heißt sie, die Philosophie, auf Griechisch. Dorothea Frede | |
| sagt: „Philosophia ist feminin.“ Auch in einem von Fredes Vorträgen wird | |
| die Philosophie als Frau beschrieben, als „Mutter der Wissenschaften“. | |
| 1998, als Frede diesen hielt, war sie an der Universität Hamburg | |
| Professorin für antike Philosophie – auf diesem Posten die erste Frau. Und | |
| das, obwohl die Philosophie doch weiblich ist. | |
| Frede sitzt in ihrem Wohnzimmer in einem Hamburger Backsteinhaus, fußweit | |
| der Alster. Neben ihr steht eine gelbe Schirmlampe, die in das dunkle | |
| Zimmer an diesem Regentag ihr Licht gießt. Frede, international anerkannte | |
| Expertin für antike Philosophie, sitzt leicht breitbeinig und spricht | |
| selbstbewusst von ihrer Karriere. Sie zeigt sich zugleich bescheiden. Ob | |
| ich mir nicht eine jüngere Fachvertreterin suchen wolle, hatte sie auf | |
| meine Anfrage geantwortet, bevor sie für das Gespräch zusagte und | |
| versicherte, dass „einschließlich des Geistes“ trotz des fortgeschrittenen | |
| Alters noch alles funktioniert. | |
| Liegt es an dieser gesellschaftlich antrainierten Bescheidenheit von | |
| Frauen, dass die Philosophie an der Universität bis heute | |
| [1][männerdominiert] ist? Die 80-Jährige erklärt, dass das an den | |
| philosophischen Diskussionen liege, die oft mit Härte geführt würden. | |
| „Männer mögen diese Art von geistigen Boxkämpfen.“ Sie spricht von | |
| philosophischen „knockdown arguments“, die das Gegenüber bildlich | |
| erschlagen sollen. | |
| Ihr früherer Mann sei solch ein Boxkämpfer gewesen. Michael Frede, 1940 in | |
| Berlin geboren, war Professor für Philosophie in Oxford. 2007 ist er in | |
| Griechenland gestorben. „Er hat vorher, wie er es immer machte, noch | |
| jemanden auseinandergenommen“, sagt Frede mit Sarkasmus auf den Lippen über | |
| seinen Todestag. Sie waren in Delphi auf derselben Konferenz. Zufällig. | |
| „Wir waren lange schon nicht mehr verheiratet.“ Der Tod erwischte ihn beim | |
| Schwimmen in der Pause. Michael Frede ertrank im Golf von Korinth. Doch | |
| hier soll es nicht um den Mann gehen. | |
| 1941 in Wien geboren, ist Dorothea Frede ein Kriegskind. Mit ihren Eltern | |
| floh sie von Wien nach Bayern. Aus der Nachkriegszeit habe sie nicht viele | |
| Erinnerungen. Doch sie weiß noch: Zwischen österreichischen und | |
| ostpreußischen Flüchtlingen gab es eine Hierarchie. „Wir waren bessere | |
| Flüchtlinge, weil wir aus Wien kamen.“ Wo es hingegen keine Hierarchie gab: | |
| zwischen ihr und ihren Brüdern. Jedenfalls dann nicht, wenn es um die | |
| Ausbildung ging. | |
| Ihre Eltern ließen Frede studieren: Germanistik, Musikwissenschaft, | |
| Philosophie und Philologie. Im Philosophie- und Philologiestudium in | |
| Göttingen gab es neben ihr [2][bloß eine Frau]. „Die beiden Damen“, habe … | |
| immer geheißen. Die Philologen mochten keine Philosophinnen. Jedoch lag es | |
| weniger an den Frauen, als daran, dass die Philologen „an Aristoteles | |
| gescheitert sind“. | |
| Frede ist Aristoteles-Expertin. Ihre Promotion hat sie über das Problem der | |
| Wahrheit von Zukunftsaussagen bei Aristoteles geschrieben. Und Aristoteles’ | |
| „Nikomachische Ethik“ hat sie übersetzt und kommentiert. Der Philosoph hat | |
| sie geprägt. „Manche Dinge, die man im Leben nicht so durchdacht hat, die | |
| durchdenkt man dann doch zumindest im Rückwärtsgang, wenn man dann so mit | |
| einer Philosophie konfrontiert ist“, sagt sie. | |
| Aristoteles betrachtet das Leben als Ganzes. Doch: Er sei keiner, „der | |
| glaubt, dass man einen Lebensplan haben muss“. Frede sagt: „Das scheint mir | |
| eine Fehlinterpretation zu sein.“ Vielmehr geht es ihm um die Fähigkeiten, | |
| die der Mensch im Unterschied zum Tier besitzt und in seinem Leben im | |
| Idealfall realisiert. Der Mensch soll die Vernunft einsetzen, um die | |
| Tätigkeit auszuüben, die ihm am meisten liegt, denn darin liegt sein Glück. | |
| „Tiere haben ihre Instinkte und Pflanzen, die wachsen, das ist ein | |
| natürliches Programm“, sagt Frede. „Bei dem Menschen ist es anders. Wir | |
| haben zwar Fähigkeiten von Natur aus. Aber wie wir sie ausbilden und ob wir | |
| sie ausbilden und ob wir sie anwenden, das liegt an uns.“ | |
| Etwas nachzugehen, was einem nicht liege, sei nach Aristoteles eine | |
| „sinnlose Sache“. Von der Musikwissenschaft habe Frede sich darum früh | |
| verabschiedet. In einem Regal liegen Notenhefte. In ihrer Freizeit hat sie | |
| später noch gern Bratsche und Geige gespielt. Doch auch das lässt sie | |
| inzwischen bleiben; der Grund: eine Operation an der Hand. | |
| Frede findet ihr Glück bis heute in der Philosophie. „Ich habe ein gutes | |
| Gedächtnis, nicht nur für Sprache, sondern auch für Argumente“, sagt sie. | |
| Sie möge das klare, präzise Denken – gewissermaßen auch das Einfache, etwa | |
| die klare Unterscheidung zwischen wahr und falsch. | |
| Die wenigsten würden diese Banalität des Faches erahnen. Als Frede mit | |
| ihrem damaligen Mann und ihren beiden Kindern in den USA lebte, erklärte | |
| sie in San Francisco in einem Seminar über Heidegger den Unterschied | |
| zwischen „Zuhandenheit“ und „Vorhandenheit“ so: „‚Zuhandenheit‘ i… | |
| Praktisches, das man tut, und ‚Vorhandenheit‘, das kann auch ganz weit weg | |
| sein.“ Einer ihrer Studenten habe daraufhin enttäuscht gefragt: „Is that | |
| all?“ Er habe Mystischeres gesucht. Frede lacht. Man merkt, dass sie gern | |
| unterrichtet hat. | |
| Aber wie war das mit der Frau bei Aristoteles? Die kommt in seiner Lehre | |
| nicht gut weg. „Er meinte nicht, dass Frauen dasselbe können wie Männer“, | |
| sagt Frede. Platon hingegen sei revolutionärer – visionärer auch. Während | |
| Platon in seiner „Politeia“ erklärt, dass Frauen und Männer gleichermaßen | |
| unterrichtet werden und am öffentlichen Leben teilhaben sollen, richtete | |
| Aristoteles sich nach der historischen Gegebenheit. „Die Frauen waren eben | |
| nicht am öffentlichen Leben beteiligt“, sagt Frede. | |
| Trotz des Frauenbildes verlässt sie sich auf Aristoteles. „Ich glaube auch | |
| nicht an die Unsterblichkeit der Seele.“ Bei Platon ist die Seele etwas, | |
| das den Körper überlebt. Für seinen Schüler Aristoteles hingegen sind | |
| Körper und Seele untrennbar verbunden. | |
| In dieser Hinsicht sei Aristoteles aktueller. Frede sagt: „Heute weiß man, | |
| wie sehr unsere ganze Persönlichkeit mit den Hirnfunktionen zusammenhängt“, | |
| und fügt nach kurzem Überlegen nachdenklich hinzu: „Wenn man nicht mehr so | |
| gut denken kann, nimmt auch die Persönlichkeit ab.“ | |
| Der Philosophin bereitet das Sorgen. „Wenn es einem passiert, dass einem | |
| ein Name nicht einfällt, dann denkt man: Oh je.“ Sie hofft, dass sie diesen | |
| Prozess mit Üben aufhalten kann. | |
| Während sie zu Beginn des Gesprächs noch etwas zaghafter antwortete, kommt | |
| Frede am Ende aus dem Reden nicht mehr heraus. Als ältere Vertreterin ihres | |
| Fachs hat sie viel zu erzählen. Und auch körperlich ist sie fit. Frede geht | |
| den Weg mit zur S-Bahn, vorbei am Wasser. Sie will laufen, habe den ganzen | |
| Tag gesessen. Vor dem Gespräch war sie noch bei einem Konzert. | |
| [3][Und die Zukunft?] Die ist nach Aristoteles offen. | |
| Derzeit arbeitet sie an einem Buch, von dem sie nicht weiß, ob sie es in | |
| ihrem Leben noch fertigbekommt: eine Monografie über Platons „Timaios“. | |
| „Das habe ich immer von mir geschoben, weil ich ursprünglich nicht so viel | |
| damit anfangen konnte“, sagt sie. Aber der Appetit käme schließlich beim | |
| Essen. „Wie es bei Platon immer ist: Wenn man sich einmal darauf einlässt, | |
| dann zieht einen das doch irgendwie.“ | |
| Solange der Geist funktioniert, philosophiert Frede weiter. | |
| 30 Dec 2021 | |
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