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# taz.de -- Homophobe Politik in Osteuropa: „Sei intolerant, sei normal“
> Homophobie wird in Osteuropa instrumentalisiert. In Belarus, Polen und
> Russland ist sie eine ideologische Säule rechter Gruppierungen.
Bild: Replik: „Besser Diktator als schwul“ beschimpfte Lukaschenko 2012 Gui…
Die Nachricht kommt am späten Abend des 25. März: [1][Belarus darf nicht am
Eurovision Song Contest (ESC) 2021 im kommenden Mai teilnehmen]. Der
Veranstalter European Broadcasting Union (EBU) schließt die vom
Belarussischen Staatsfernsehen (BT) nominierte regierungstreue Band Galasy
ZMesta aus.
Während die demokratische Öffentlichkeit zufrieden reagiert, zeigt sich die
staatlich kontrollierte belarussische Presse pikiert und gereizt. Der EBU
wird beschimpft und der ESC, bei dem der Sender BT noch vor kurzem
unbedingt dabei sein wollte, als „geschmacklose Propagandaveranstaltung
sexueller Minderheiten“ abgewertet. Gleichzeitig wird die offen homophobe
Band Galasy ZMesta paradoxerweise kurzerhand zum wahren ESC-Sieger 2021
erklärt.
Der vom Diktator Alexander Lukaschenko geschätzte und als fanatischer
Schwulenhasser bekannte TV-Moderator Grigori Asarjonok atmet hingegen
erleichtert auf: Und was wäre, wenn Galasy ZMesta den
„Schwuchtelwettbewerb“ tatsächlich gewonnen hätte? Im nächsten Jahr fän…
dann diese Veranstaltung in Minsk statt, und wir müssten eine halbe Million
„Schwuchteln“ als ESC-Gäste ertragen.
## Inspiriert von nationalsozialistischer Propaganda
Ist aber der Hetzer Asarjonok, der sich in seinen Sendungen von der
nationalsozialistischen Propaganda inspirieren lässt, bloß ein Phänomen der
verzweifelten, durch die Massenproteste verunsicherten belarussischen
Diktatur?
Nein, die aktuellen Entwicklungen in Belarus sind vielmehr eine besonders
perfide Ausprägung der in Ost-, Südost- und Ostmitteleuropa weit
verbreiteten, von Populisten, Nationalisten und Rechtsextremisten
instrumentalisierten radikalen Homophobie. Diese lässt sich sowohl in
[2][EU-Ländern wie Polen] oder Ungarn und bei Beitrittskandidaten wie
Serbien als auch in EU-freundlichen postsowjetischen Staaten wie Georgien
und der Ukraine sowie in den postsowjetischen Diktaturen Russland und
Belarus beobachten.
Seit Jahren stellen diverse Studien fest, dass tradierte, noch aus der
kommunistischen Zeit bekannte politisch, kulturell, religiös und
psychologisch bedingte schwulenfeindliche Stereotype und Vorurteile in den
ehemaligen Ostblockstaaten und im postsowjetischen Raum fest verankert
sind. Homosexualität wird wenig akzeptiert. Viele Menschen befürworten die
Diskriminierung und sogar Verfolgung von LGBTQ-Personen.
## Euroskeptizismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie
Zwar längst entkriminalisiert, wird Homosexualität jedoch nicht selten als
Krankheit oder unerwünschte „widernatürliche Erscheinung“ stigmatisiert u…
zudem mitverantwortlich für die niedrige Geburtenrate erklärt. Homosexuelle
bleiben eine vergessene Opfergruppe des Nationalsozialismus, die
Geschichte der Homophobie wird kaum aufgearbeitet.
Neben Euroskeptizismus und Fremdenfeindlichkeit gehört die Homophobie – oft
gepaart mit Antiziganismus und Antisemitismus – zu einer wichtigen
ideologischen Säule rechtspopulistischer, nationalistischer und vor allem
rechtsextremistischer Gruppierungen in Südost-, Ost- und Ostmitteleuropa.
Während die Rechtsextremisten von obszönem Schwulenhass und homophoben
Verschwörungstheorien besessen zu sein scheinen, agieren Rechtspopulisten
und Nationalisten eher geschickt und pragmatisch.
Auf Unterstützung homophober Wähler*innen bedacht, knüpft die
traditionell und erzkonservativ geprägte rechtspopulistische und
nationalistische Szene bewusst an die homophobe Stimmung an und verfolgt
eine gezielte Strategie der politischen und propagandistischen
Instrumentalisierung schwulenfeindlicher Ressentiments.
Die polnische PiS, Viktor Orbáns Fidesz oder die Estnische Konservative
Volkspartei heizen die Stimmung bewusst an. Sie profilieren sich als Hüter
der von der LGBTIQ-Gemeinschaft angeblich bedrohten traditionellen
Familienwerte und grenzen sich gleichzeitig vom „alten Westen“ ab, der als
schwulenfreundlich und somit vom fortgeschrittenen Sittenverfall
kennzeichnet gilt.
## Hetze und manchmal Gewalt
Das kalkulierte gefährliche Spiel mit Stereotypen und Vorurteilen führt zu
einer rasanten Verschlechterung der Situation von LGBTIQ-Menschen: Hetze
und manchmal sogar Gewalt gehören in Bulgarien, wo die Rechtsextremisten
einst die Parole „Sei intolerant, sei normal“ ausgerufen haben, in
Rumänien, in Serbien oder in der Ukraine zum Alltag. Im EU-Land Polen
werden sogenannte LGBT-ideologiefreie Zonen errichtet, die im Westen eine
Welle der Empörung hervorrufen, aber in Russland und in anderen
postsowjetischen Staaten wohlwollend registriert werden.
Im postsowjetischen Raum gibt die Russische Föderation den homophoben Ton
an: Presseberichten zufolge wurden in Tschetschenien und in weiteren
nordkaukasischen Republiken Homosexuelle aufgespürt, gefoltert und
ermordet.
2013 verabschiedete die Staatsduma das von europäischen Traditionalisten
als Vorbild gefeierte Gesetz gegen die „Propaganda von nichttraditionellen
sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“. In der 2020 revidierten
russischen Verfassung ist inzwischen die „Wahrung traditioneller
Familienwerte“ und der Schutz der „Institution der Ehe als Vereinigung
eines Mannes und einer Frau“ festgeschrieben.
## Feindbild „Gayropa“
Bestrebt, den Westen zu diffamieren, schlachten die kremltreuen Medien
genüsslich das noch in den 2000er Jahren entstandene und im Zuge der
Ukrainekrise aufgewertete Feindbild „Gayropa“ aus und suggerieren dabei
die Vorherrschaft einer „Schwulenlobby“ in der Europäischen Union.
Während der Kreml mit dieser schwulenfeindlichen Dauerkampagne eine
Konsolidierung der russischen Gesellschaft auf der Grundlage
traditioneller Werte anstrebt und diese gleichzeitig als Teil seiner
Propagandaoffensive gegen die Europäische Union betrachtet, verzichtet der
russische Staatschef Wladimir Putin in der Regel auf direkte homophobe
Äußerungen und Anspielungen.
Hingegen nimmt sein belarussischer Kollege Alexander Lukaschenko kein Blatt
vor den Mund. Von Toleranz will der Autokrat, der nicht selten als
„Europas letzter Diktator“ bezeichnet wird, nichts wissen und macht keinen
Hehl aus seinem tiefgründigen Schwulenhass: Noch in den frühen 2010er
Jahren ließ er die Öffentlichkeit stolz wissen, dass es sicherlich
[3][besser sei, Diktator zu sein als schwul]. Er könne überhaupt nicht
nachvollziehen, wie sich Männer auf eine gleichgeschlechtliche sexuelle
Beziehung einlassen können. Homosexualität sei ein Import aus dem Westen,
auf den die Belarussen gewiss verzichten könnten.
Trotz dieser Ausfälle und schwulenfeindlichen Rhetorik ließ Lukaschenko
seinen drastischen Worten aber keine Taten folgen und sah zunächst von
einer diskriminierenden LGBTIQ-Politik nach dem russischen Vorbild ab, wohl
um das ohnehin angespannte Verhältnis zum Westen nicht zusätzlich zu
strapazieren.
## Traditionelle Familienwerte wie in Russland
Nach dem Beginn der Revolution in Belarus scheint das außenpolitische
Kalkül für den ums Überleben kämpfenden und von Moskaus Gnaden abhängigen
Diktator keine Rolle mehr zu spielen. Die Propagandawaffe „Homophobie“
kommt zum Einsatz, wobei das Regime von der ohnehin starken
schwulenfeindlichen Stimmung profitieren will: In der neuen Verfassung, die
Lukaschenko ausarbeiten lässt, sollen die traditionellen Familienwerte
ähnlich wie im „Bruderstaat“ Russland hervorgehoben werden.
Bei Protestaktionen festgenommene LGBTIQ-Menschen werden nicht nur brutal
misshandelt, sondern öffentlich als „Sodomiten“ verhöhnt. Aktivisten und
Anführer der Protestbewegung werden als offene beziehungsweise verkappte
Homosexuelle dargestellt, die Lukaschenkos Belarus als „Hort des
Traditionalismus“ zerstören und dort die gleichgeschlechtliche Ehe
einführen wollen. Die aktuelle Krise gilt als Kulturkampf zwischen den
„wahren“ belarussischen (slawischen) und den „schwulen“ westlichen Wert…
Das homophobe Narrativ wird auch von manchen Gegnern Lukaschenkos
aufgegriffen und gegen die Diktatur angewendet. Diese Tendenz manifestiert
sich etwa in Gerüchten über vermeintliche „schwule Netzwerke“, die sich
gerade in repressiven Sicherheitsorganen des nach außen offen homophoben
Regimes etabliert haben sollten.
„Sei intolerant, sei normal.“ Die berüchtigte Parole hat auch 2021 ihre
Aktualität nicht verloren. Und das nicht nur in Belarus.
24 Apr 2021
## LINKS
[1] /Belarus-beim-Eurovision-Song-Contest/!5758670
[2] /Polnischer-Aktivist-ueber-LGBTI-Szene/!5701043
[3] /LGBT-in-Weissrussland/!5507955
## AUTOREN
Alexander Friedman
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