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# taz.de -- Transsexuelle in Weißrussland: „Ich bin einsam in meinem Land!“
> Geschlechtsangleichende Eingriffe sind in Weißrussland kostenlos. Dennoch
> ist das gesellschaftliche Klima gegenüber Transsexuellen rückständig.
Bild: Alina Meiers komplette Familie hat sich wegen ihrer Transsexualität von …
Alina Meier hat die falsche Ziffer. Denn die ID-Nummer, die jedem
weißrussischen Bürger zugeteilt wird, enthält eine Geschlechtszuordnung –
zumindest bis 2012. Wer bis dahin seinen oder ihren ersten Pass beantragt
hat, bekam als Mann eine ungerade, als Frau eine gerade Zahl zugewiesen.
Die Nummer bleibt für immer gleich. Angaben von Namen und Geschlecht lassen
sich ändern, die Gender-Ziffer jedoch nicht. Und das hat Folgen.
Eigentlich würde Alina Meier niemandem weiter auffallen. Schwarze Jacke,
lila Schal, enge Jeans, helle Sportschuhe. Doch dann fällt der Blick auf
grobe Hände mit grell lackierten Fingernägeln. Sie sitzt auf einer Parkbank
neben dem Rathaus mitten im Herzen der weißrussischen Hauptstadt Minsk.
„Ich bin sehr einsam in meinem Land!“, sagt Meier und blinzelt dabei in die
Kamera der Fotografin.
„Dass ich in einem falschen Körper lebe, habe ich begriffen, als ich sechs
Jahre alt war“, erzählt Meier. Sie ist schlank und groß, das Haar fällt ihr
in langen dunklen Locken auf die Schultern. Ihre Eltern hätten sich damals
gerade getrennt, die Mutter sei überlastet gewesen. So waren die Kinder
sich selbst überlassen.
## Sex war kein Thema
„Solange ich zurückdenken kann, war mein Lieblingsspiel, sobald keiner zu
Hause war, mir Frauenkleidung anzuziehen und eine Verkäuferin zu spielen.“
Sie sei auf ihre Schwestern unsäglich neidisch gewesen, weil diese Brüste
hatten und Kleider tragen konnten. Es waren die wilden 1990er Jahre, die
Sowjetunion war gerade zusammengebrochen. Sex allerdings war kein Thema,
Transsexualität schon gar nicht. „Ich konnte mich vor meinen Verwandten
erst im Alter von 29 Jahren outen. Und das per Telefon.“
Alina Meier verließ ihr Heimatdorf gleich nach dem Schulabschluss. In Minsk
absolvierte sie eine Baufachschule. Heute verdient die 33-Jährige ihren
Lebensunterhalt mit dem Renovieren von Wohnungen. Aufträge findet sie über
private Annoncen. Eine eigene Wohnung hat sie nicht, übernachtet einfach
dort, wo sie gerade arbeitet.
Vor einigen Jahren wandte sich ihre Familie von Alina Meier ab. Wegen ihrer
Transsexualität. Selbst die Lieblingsschwester, ihre engste Vertraute, habe
sie im Stich gelassen. „Dabei habe ich sie immer unterstützt, ihren Sohn
habe ich mit aufgezogen“, sagt Meier. „Für mich bleibst du für immer mein
Bruder, sagte sie zu mir.“
## Eine Egoistin
Besonders schmerzhaft sei für sie die Haltung der Mutter gewesen. Diese
habe versucht, der Tochter einzutrichtern, dass sie eine Egoistin sei und
sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen müsse. „Das ist ihr
Standpunkt, bis heute.“
Meiers Bewegungen sieht man an, dass sie sich darüber Gedanken macht: Wie
setze ich mich hin, wie hebe ich diesen Arm, wie lege ich die Haare
zurecht. Sie entschuldigt sich, dass ihre Augen nicht perfekt geschminkt
seien, sie habe sich sehr beeilen müssen. Der blaue Lidschatten über den
Augen stammt noch aus dem Besitz ihrer Mutter, deren Schubladen sie als
Jugendliche durchwühlte.
Es dauerte sehr lange, bis Alina Meier endgültig wusste, wer sie in
soWirklichkeit war. Freunde aus Russland, die sie über das Internet
kennengelernt hat, halfen ihr dabei. Sie ermunterten Meier, zum ersten Mal
in Frauenkleidung auf die Straße zu gehen. Sicherheitshalber bat sie eine
Bekannte, sie zu begleiten. Mit der Zeit traute sie sich, allein im Rock
auszugehen. Abends, wenn nicht mehr mit allzu vielen neugierigen Blicken zu
rechnen war. Ein solcher Spaziergang kann in Weißrussland böse Folgen
haben. In Minsk werden Menschen mit einer „nicht traditionellen sexuellen
Orientierung“ regelmäßig Opfer schwerer Verbrechen – bis hin zum Mord.
An die Polizei brauche sie sich gar nicht erst zu wenden, wenn sie
angepöbelt oder überfallen werde, sagt Meier. Solange keine Verstöße gegen
ein Gesetz oder körperlichen Schäden vorliegen, würden die Beamten nichts
unternehmen.
## Vertreter aus Ministerien entscheiden mit
Im Moment lässt Meier alle nötigen medizinischen Untersuchungen über sich
ergehen, um die Genehmigung für eine Geschlechtsangleichung zu bekommen.
Wobei ihr nicht klar ist, warum in der 15-köpfigen Kommission, die darüber
entscheidet, auch Vertreter aus den Ministerien für Justiz, Bildung und
innere Sicherheit sitzen. „Heißt das etwa, dass die Entscheidung, ob ich
ich selbst bleibe, in der Obhut des Staates liegt?“
Die erste Geschlechtsangleichung in Weißrussland wurde 1992 an einer Frau
vorgenommen. Bis jetzt haben sich dieser Operation 200 Menschen unterzogen
– die, nach erteilter Genehmigung, kostenfrei ist.
Das Procedere einer Geschlechtsangleichung in Weißrussland umfasst drei
Etappen. Zuerst werden umfangreiche psychiatrische, psychologische und
geschlechtsspezifische Untersuchungen durchgeführt. Erst dann bekommt der
Antragsteller oder die Antragsstellerin gegebenenfalls eine Erlaubnis,
seine oder ihre Dokumente zu ändern. Darauf folgt eine Hormontherapie, die
etwa sechs Monate dauert. Erst dann und nur im Falle einer gelungenen
Anpassung an das neue Geschlecht ist ein chirurgischer Eingriff zulässig.
Der gesamte Verlauf dauert anderthalb bis drei Jahre.
„In unserem Land gibt es keine staatlichen Dienste, die transsexuellen
Menschen mit Rat und Tat zur Seite stehen“, sagt Irina Solomatina,
Soziologin und Initiatorin des Projekts Gender-Route. Das mache die
Situation so schwierig. Die Zahl der Geschlechtsoperationen in Weißrussland
steigt, während Transsexuelle immer noch als Kranke wahrgenommen werden.
Um die Situation und vor allem die Einstellung zu diesen Menschen
grundlegend zu ändern, braucht es deren gesellschaftlichen Anerkennung.
Wohl ein Ding der Unmöglichkeit in einem Land, dessen autokratisches
Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko dem früheren deutschen Außenminister
Guido Westerwelle bei einem persönlichen Treffen 2011 in Anspielung auf
dessen Homosexualität riet, „ein normales Leben“ zu führen. Ein Jahr spä…
legte er nach. „Besser Diktator sein als schwul“, sagte Lukaschenko am
Rande eines Sportwettbewerbs. Wohl wissend, dass er damit die
vorherrschende Meinung seiner Landsleute zum Ausdruck bringt.
## Fast unmöglich, die Privatsphäre zu schützen
Mit der Änderung in Pass und Militärausweis enden die Probleme von
Transsexuellen in Weißrussland noch lange nicht. Vielmehr tauchen danach
neue Schwierigkeiten auf. „Wir arbeiten daran, persönliche Informationen
von Transsexuellen zu schützen, und führen Verhandlungen mit staatlichen
Institutionen“, sagt Menschenrechtlerin Natalja Mankowskaja von der Gruppe
„Identität und Recht“.
Wegen der geraden und ungeraden Ziffern im Ausweis bekommen viele
Transsexuelle Probleme bei der Stellensuche und beim Wohnungswechsel – von
dem Verdacht auf Dokumentenfälschung bis zum Verlust der Arbeitsstelle.
„Außerdem erhält ein transsexueller Mann einen Militärausweis, worin ihm
eine bestimmte Untauglichkeitskategorie bescheinigt wird. Diese ist
gleichbedeutend mit einer ernsten psychischen Störung. Das hat in der
Praxis Diskriminierung seitens der potenziellen Arbeitgeber zur Folge“,
sagt Mankowskaja. In Weißrussland sei es für Transsexuelle so gut wie
unmöglich, ihre Privatsphäre zu schützen und ein normales Leben zu führen.
Der Hass der Gesellschaft verschärfe die Situation.
„Ich verstehe ja, dass unsere Gesellschaft in jenen fernen kommunistischen
Zeiten stecken geblieben ist“, sagt Alina Meier. Es sei naiv zu glauben,
dass sich das so schnell ändern würde. Sie werde es wohl immer schwer
haben, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. „Alles, wovon ich träume, sind
eine Familie und echte Freunde!“
Die Fotosession mit ihr neigt sich dem Ende zu. Auf den ersten Aufnahmen
sieht Alina noch verkrampft und verschlossen aus. Nach einer Viertelstunde
fängt sie an zu lächeln. Zum Schluss bedankt sie sich bei der Fotografin
für den „Crashkurs in weiblicher Koketterie“.
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk
Die Autorin Olga Deksnis lebt in Minsk. 2016 war sie Teilnehmerin eines
Osteuropa-Workshops der [1][taz Panter Stiftung]
5 Jan 2017
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## AUTOREN
Olga Deksnis
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