# taz.de -- Geschichtsaufarbeitung in Russland: Späte Genugtuung | |
> Einem 34-Jährigen gelingt es, die Befehlskette zu rekonstruieren, die | |
> seinem Urgroßvater unter dem Diktator Stalin das Leben kostete. | |
Bild: Friedhof für Opfer stalinistischer Repressionen in St. Petersburg | |
MOSKAU taz | Denis Karagodin war fest davon überzeugt. Eines Tages würde er | |
die Namen der Verantwortlichen kennen, die seinen Urgroßvater 1938 | |
umgebracht haben. Der Bauer Stepan Karagodin war unter Stalin als | |
vermeintlicher Spion im Januar 1938 festgenommen und hingerichtet worden. | |
Karagodins Familie erfuhr von seinem Tod erst in den 1950er Jahren, als den | |
Angehörigen posthum die Rehabilitierung mitgeteilt wurde. Karagodin war in | |
der „Sache Harbin“ als Drahtzieher und vermeintlicher „japanischer Spion�… | |
angeklagt worden. Mindestens 30.000 Verdächtige sollen in dieser Sache | |
damals inhaftiert und erschossen worden sein. | |
2011 beschloss Denis Karagodin dem Schicksal des Urgroßvaters | |
nachzuforschen. Der studierte Philosoph wollte anhand von Dokumenten die | |
Befehlskette aufzeigen, die für den Mord am Urgroßvater verantwortlich war. | |
Vom Politbüro der KPdSU in Moskau bis zu den Handlangern vor Ort im | |
sibirischen Tomsk: Leiter des örtlichen Büros des NKWD, Fahnder, Fahrer, | |
Gefängniswärter und Sekretärinnen, die die Urteile abtippten. | |
Historiker und Archivmitarbeiter des Geheimdienstes FSB, der | |
Nachfolgeorganisation der Geheimpolizei NKWD, hielten das für | |
ausgeschlossen. „Die meisten glaubten, die Akte gäbe es nicht mehr“, meint | |
Karagodin. „Ich war mir jedoch sicher, dass sie noch existiert.“ | |
## Akte aus Nowosibirsk | |
Fünf Jahre korrespondierte er mit Archiven und Nachkommen von Terroropfern. | |
Der Schriftverkehr mit den Geheimdienstarchiven sei mühselig gewesen. Mitte | |
November traf die Kopie einer Akte aus Nowosibirsk ein. Es war ein | |
Spezialarchiv, auf das er zufällig durch einen Vermerk auf dem Vorgang | |
eines ebenfalls hingerichteten Nachbarn des Urgroßvaters aufmerksam wurde. | |
Später sollte sich herausstellen, dass Akten regelmäßig dorthin ausgelagert | |
wurden. | |
Die Akte enthielt das Urteil und den Erschießungsbefehl der Tomsker | |
NKWD-Abteilung gegen Stepan und drei Dutzend weitere Inhaftierte. Die | |
Verantwortlichen im Tomsker NKWD-Büro und das Erschießungskommando waren | |
namentlich erwähnt. „Da begriff ich, meine Arbeit ist zu Ende, die Kette | |
ist komplett“, so Karagodin. | |
Mit jedem Jahr geben die FSB-Archive unwilliger Auskunft. Karagodin | |
vermutet daher, die Archivare in Nowosibirsk seien sich über die Brisanz | |
der Akte nicht im Klaren gewesen. | |
Der 34-Jährige scheint bislang der erste zu sein, dem es gelang, die | |
tödliche Befehlskette lückenlos nachzuweisen. | |
## Bitte um Vergebung | |
Die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Medien in Windeseile. Kurz | |
darauf meldete sich die Enkelin eines Mannes aus dem Erschießungskommando. | |
Sie war bestürzt. Denn auch ihr Urgroßvater mütterlicherseits gehörte zu | |
Stalins Opfern. „Jetzt stellt sich heraus, dass es in einer Familie Opfer | |
und Täter gab. Das ist sehr schmerzlich.“ Sie bitte um Vergebung. Karagodin | |
dankte ihr. Für ihn sei das eine Geste ziviler Versöhnung. | |
Der Philosoph will nun vor Gericht ziehen. Auftraggeber, Mitläufer und | |
Mörder sollen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Juristisch | |
dürfte das wegen der Verjährungsfristen schwierig sein. | |
Nicht allein deswegen. Auch der unausgesprochene Konsens zwischen Staat und | |
Gesellschaft blockiert die Aufarbeitung. Gräueltaten werden verschwiegen, | |
die Stalinzeit beschönigt. | |
Karagodins Vorstoß ist auch in den sozialen Medien umstritten. Fast | |
zeitgleich veröffentlichte die Menschenrechtsgesellschaft Memorial, seit 30 | |
Jahren betreibt sie die Aufarbeitung des Stalinismus, die Liste von fast | |
40.000 Mitarbeitern der Geheimpolizei NKWD. Der Hobbyhistoriker Andrej | |
Schukow notierte 15 Jahre Namen, die in Urteilen gegen Volksfeinde | |
auftauchten, und verfolgte deren weiteren Karriereweg. | |
Das offizielle Russland ist beunruhigt. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow | |
warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Die kremlnahe Iswestija lehnt | |
Aufarbeitung ab, da dies nur den Wunsch nach persönlicher Rache fördere. | |
Das Blatt Komsomolskaja Prawda meldete, Geheimdienstveteranen hätten | |
Präsident Putin gebeten, die im Internet zugängliche Memorialliste zu | |
schließen. Sie fürchten die Rache der Kinder. | |
16 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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