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# taz.de -- Schriftstellerinnen über das Schreiben: Jenseits der Schubladen
> In dem von Ilka Piepgras herausgegebenen Band „Schreibtisch mit Aussicht“
> denken 24 hochkarätige Autorinnen über das Schreiben nach.
Bild: Siri Huvstedt an ihrem Schreibtisch in New York
Ob sie schon Arbeit gefunden habe, fragte eine Mutter die
[1][Schriftstellerin Anne Tyler], während beide Frauen auf dem Pausenhof
auf ihre Kinder warteten, oder ob sie immer noch nur schreibe.
Aus dieser Frage ging ein Essay hervor: „Ich schreibe nur“ (im Original:
still just writing) von Anne Tyler. Er war der Impulsgeber für die
Journalistin Ilka Piepgras, die Situation schreibender Schriftstellerinnen
zu erhellen, und bildet nun auch das Herzstück der Anthologie „Schreibtisch
mit Aussicht“.
24 europäische und amerikanische Schriftstellerinnen reflektieren in dem
von Ilka Piepgras herausgegebenen Band auf sehr persönliche Weise über das,
was ihren Schreiballtag ausmacht, und die Bedingungen, unter denen sie
ihrer Arbeit nachgehen. Sie schreiben über Inspirationsfindung, unmögliche
Identitäten und literarische Vorbilder.
Männer kommen in dieser Anthologie nicht zu Wort. Das ist programmatisch so
gewollt. Männliche Schriftsteller arbeiten unter privilegierten Umständen.
Niemand würde ihnen die obige Frage stellen oder ermitteln, wie sie Beruf
und Vatersein vereinbarten.
Sowohl als Rezensentinnen als auch als Gegenstand von Rezensionen sind
Frauen dagegen in Kunst und Literatur nach wie vor stark
unterrepräsentiert. Männer, lautet das gängige Klischee, produzierten
Weltliteratur, wohingegen Frauen Selbstbeschau betrieben und allenfalls
sogenannte Bekenntnisliteratur lieferten. Literarische Frauenfiguren, die
in die Geschichte eingegangen sind, man denke an Madame Bovary, Anna
Karenina oder Effi Briest, entsprangen männlichen Federn.
Das hat natürlich Spuren hinterlassen. Die Frau, notiert die
[2][Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek] in „Schreibtisch mit
Aussicht“, habe kein Werk: „Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und
Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort: Verachtung.“
Werkstattberichte von Frauen sind tatsächlich rar. Mit umso größerem
Interesse liest man deshalb, wie etwa [3][Joan Didion] George Orwells Essay
„Why i write“ für sich beantwortet und über „die aufregendsten Stunden
ihres Lebens“ berichtet, die sie damit zubringe, „Worte auf Papier
rumzuschieben“. Die Schriftstellerin Sibylle Berg rechnet nach, dass sie
ungefähr zehn Jahre gebraucht hat, „um das Schreiben zu lernen“.
[4][Zadie Smith] denkt nach über das „Ich, das ich nicht bin“, die
[5][amerikanische Autorin Siri Hustvedt] wirft die Frage auf, ob ein Text
männlich oder weiblich sein kann und was ihn zu dem einen oder dem anderen
mache, und die [6][französische Autorin Leila Slimani] hält es für völlig
normal, sowohl gute als auch schlechte Bücher zu schreiben: Ich setze mich
dann einfach an den Computer und arbeite weiter.“
Die Schriftstellerin [7][Eva Menasse] erinnert sich an eine Aussage von
Joyce Carol Oates: „Die Leute glauben, ich schreibe den ganzen Tag. Dabei
schreibe ich den ganzen Tag nur um.“ Die österreichische Schriftstellerin
habe sich diesen Lehrsatz zu eigen gemacht: „Es macht mir unendlich große
Freude, umzuschreiben. Rumzuprobieren. Die Satzstellung zu ändern. Da gibt
es im Deutschen so viele Möglichkeiten. Es gibt so viele Möglichkeiten
dafür, im Deutschen. Im Deutschen gibt es so viele Möglichkeiten dafür.
Welche ist die beste?“
Interessant auch die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich, Lebensgefährtin
des amerikanischen Autors Jonathan Franzen. Sie schreibt in ihrem erstmals
in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay „Neid“ auf fesselnde Weise üb…
das Gefühl, mit einem Schriftsteller zusammen zu sein, der bei Weitem
erfolgreicher ist als man selbst.
## „Ich mache die Arbeit, die ich mir ausgesucht habe“
Glaubwürdig und selbstkritisch nimmt die Autorin Geltungsbedürfnis,
Vergleichsprozesse und Geschlechtergefälle unter die Lupe. Sie schließt
ihre Geschichte mit einem kühnen Akt der Selbstermächtigung, sich selbst
eine Erlaubnis zu geben, die, so die Autorin, immer noch vielen Frauen
fehle: „In dieser Geschichte mache ich nicht die Arbeit, für die ich
geboren wurde, und vielleicht nicht einmal die Arbeit, die ich am besten
kann, sondern die Arbeit, die ich mir ausgesucht habe.“
Auch die Selbstzensur, der Schriftstellerinnen häufig stärker als ihre
männlichen Kollegen unterliegen, kommt zur Sprache. So reflektiert Antonia
Baum die eigene Angst, Nabelschau zu betreiben und dafür in die Schublade
„weibliches Schreiben“ gesteckt zu werden, aber auch, wie die Geburt ihres
Kindes ihren Alltag und ihr Zeitmanagement verändert hat. Denn, formuliert
Antonia Baum, solange es genderspezifische Ungerechtigkeiten gebe, werde
eine schreibende Frau auch häufig einen Text „in diesem genderspezifischen
Blick“ schreiben.
„Schreibtisch mit Aussicht – Schriftstellerinnen über ihr Schreiben“
schließt mit einer Korrespondenz zwischen der kanadischen Schriftstellerin
[8][Sheila Heti] und [9][Elena Ferrante], Autorin der neapolitanischen Saga
„Meine geniale Freundin“, und stellt Fragen zu Kinderlosigkeit,
eingeimpften Schuldgefühlen und dem Vorwurf des Narzissmus, den sich viele
zeitgenössische Schriftstellerinnen gefallen lassen müssen.
„Die Frau, die sich selbst überwacht“, antwortet Ferrante, „ohne sich
überwachen zu lassen, ist die große Errungenschaft unserer Tage.“
22 Nov 2020
## LINKS
[1] /Neuer-Roman-von-Anne-Tyler/!5683727
[2] /Elfriede-Jelineks-Ibiza-Stueck-in-Wien/!5658829
[3] /Netflix-Doku-ueber-Joan-Didion/!5457717
[4] /Zadie-Smiths-neuer-Roman-Swing-Time/!5442382
[5] /Neuer-Roman-von-Siri-Hustvedt/!5595022
[6] /Leila-Slimanis-Debuetroman/!5599541
[7] /Eva-Menasses-Tiere-fuer-Fortgeschrittene/!5420950
[8] /Sheila-Hetis-Buch-Mutterschaft/!5587169
[9] /Neuer-Roman-von-Elena-Ferrante/!5722549
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
## TAGS
Literatur
Frauen
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Buch
Kulturkritik
Literatur
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