| # taz.de -- Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“: Mit den scharfen Augen e… | |
| > Aus einem Armenviertel verschwinden Kinder spurlos. Deepa Anapparas | |
| > grandioser Debütroman ist eine wahre Abenteuergeschichte aus Indien. | |
| Bild: Die indische Schriftstellerin Deepa Anappara | |
| Wie lässt sich von schlimmen Dingen erzählen, ohne dass die Lektüre zur | |
| Qual wird? Wie kann man über ein Leben in extremer Armut schreiben, ohne | |
| diese Situation am eigenen Leibe erfahren zu haben? Darf man das überhaupt? | |
| Mit diesen und ähnlichen Fragen schlug Deepa Anappara sich herum, als sie | |
| für ihren Debütroman recherchierte. | |
| Anappara stammt aus dem südindischen Bundesstaat Kerala. Sie ist in | |
| Indien geboren und aufgewachsen, hat dort studiert und elf Jahre als | |
| Journalistin gearbeitet, bevor sie nach Großbritannien zog und Creative | |
| Writing studierte. Mit ihrem ersten Roman erfüllte sie sich „einen | |
| Kindheitstraum“, wie sie auf Nachfrage dieser Zeitung per Mail schreibt. | |
| „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ handelt von einem schrecklichen | |
| Serienverbrechen: Aus einem Armenviertel in einer indischen Großstadt | |
| verschwinden Kinder. Zuerst ein kleiner Junge, dann ein zweiter, dann ein | |
| halbwüchsiges Mädchen. Und es scheint kein Ende zu nehmen. Die Polizei | |
| lässt sich bestechen, unternimmt aber nichts, verhaftet nur irgendwann, | |
| aufgestachelt von einem radikalen Hindu-Anführer, aufs Geratewohl ein paar | |
| Muslime. | |
| ## Bedrohung und dichter Smog über dem Slum | |
| Außer einem permanenten Gefühl der Bedrohung hängt die meiste Zeit dichter | |
| Smog über dem Slum, dessen BewohnerInnen auch noch ständig Angst haben | |
| müssen, dass Bulldozer kommen und ihre Hütten abreißen. All das wird | |
| erträglich gemacht durch einen ungewöhnlichen, nicht zuletzt ungewöhnlich | |
| liebenswerten Ich-Erzähler. Wir sehen diese Welt der Armut und Gewalt durch | |
| die Augen eines neunjährigen Jungen: Jai lebt auf engem Raum zusammen mit | |
| seinen Eltern und seiner großen Schwester Runu. | |
| Runu ist zwölf, macht die Hausarbeit fast allein, weil beide Eltern | |
| arbeiten, und geht trotzdem noch jeden Nachmittag auf dem Schulhof | |
| Leichtathletik trainieren. Jai ist ein Tagträumer, der gern große Töne | |
| spuckt und ansonsten nicht viel tut, anders als seine beiden besten | |
| Freunde: das Mädchen Pari, eine kluge und ehrgeizige Überfliegerin, die | |
| immer für die Schule lernt und alles weiß, und der muslimische Junge Faiz, | |
| der trotz seines zarten Alters schon in verschiedenen Jobs arbeitet. | |
| Eines aber hat Jai den anderen voraus: Er liebt Detektivgeschichten, guckt | |
| Polizeiserien im Fernsehen und weiß daher einiges über Ermittlungsarbeit. | |
| So erklärt er sich und seine Freunde kurzerhand zu Detektiven, als ihr | |
| Schulkamerad Bahadur verschwunden ist. | |
| Die Kinder beginnen den Basar in ihrem Viertel zu durchstreifen, suchen | |
| nach Spuren und befragen Leute. Sie schlagen sich sogar bis zum | |
| Hauptbahnhof durch, auch wenn Jai dafür den Notgroschen seiner Mutter | |
| stibitzen muss. | |
| Der Junge erzählt, kurz gesagt, die meiste Zeit eine große, bunte | |
| Abenteuergeschichte. Es ist gar nicht so, dass die Kinder den Ernst der | |
| Lage nicht begreifen. Ihnen ist bewusst, dass sie im Ernstfall dem Bösen | |
| schutzlos ausgeliefert wären. Nur knapp entgehen sie im Bahnhof einer Frau, | |
| die Kinder mit Bonbons anzulocken pflegt, sie betäubt und verschleppt – das | |
| erzählen ihnen Straßenkinder, die sich auskennen und die gegen die Ängste, | |
| die alle bedrängen, Geschichten erzählen: meist solche über die Geister | |
| guter Menschen, die Kinder beschützen. | |
| Fantasie und Fabulierlust bestimmen auch die Detektivarbeit von Jai und | |
| seinen Freunden. Faiz glaubt, dass Dschinns die Verschwundenen entführt | |
| haben. Pari und Jai halten das für Blödsinn, sind aber auch nicht in der | |
| Lage, die realen Gefahren immer richtig einzuschätzen, wenn sie bei ihren | |
| Recherchen durch die Gegend streifen. Jais Erzählungen bewegen sich auf | |
| einem sehr schmalen Grat zwischen Fantasie und Realität. | |
| Was das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität auf der übergeordneten | |
| Ebene betrifft, so erklärt Deepa Anappara, alles in ihrem Roman reflektiere | |
| die soziale und wirtschaftliche Situation in Indien: „Leider ist nichts | |
| davon meiner Fantasie entsprungen.“ Es gehört zur furchtbaren Realität, | |
| dass in Indien ständig Kinder verschwinden: Schätzungen zufolge sind es – | |
| wie eine schnelle Internetrecherche ergibt – jährlich an die 100.000. | |
| Während ihrer Tätigkeit als Journalistin habe sie, sagt Anappara, immer | |
| wieder Geschichten über Gebiete gehört, wo „während einer Zeitspanne von | |
| zwei bis drei Jahren zwischen zwanzig und dreißig Kinder verschwunden | |
| waren. Man hatte keinerlei Anstrengungen unternommen, sie zu finden, weil | |
| sie aus armen Familien stammten. | |
| Ich habe mich immer gefragt, wie es für Kinder sein muss, so aufzuwachsen; | |
| zu wissen, dass auch sie selbst jeden Moment einfach so entführt werden | |
| können. Wie gehen sie mit ihrer Angst um? Wie nehmen sie die | |
| Ungerechtigkeiten wahr, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind?“ Ihr | |
| Roman sei ein Versuch, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. | |
| Auch weitere soziale Schieflagen finden durch die Kinderperspektive in den | |
| Roman Eingang, ohne dass die Autorin dafür den Zeigefinger heben müsste. | |
| Der ungleiche soziale Status von Jungen und Mädchen etwa oder die | |
| zunehmende Ausgrenzung von Muslimen in der hinduistisch geprägten | |
| Mehrheitsgesellschaft. Nicht nur müssen die Muslime im Roman als | |
| Sündenböcke herhalten; am Ende ist das gemeinsame Zusammenleben so | |
| zerrüttet, dass Jai einen guten Freund verliert. Faiz’ Familie zieht in ein | |
| anderes Viertel: eines, in dem ausschließlich Muslime leben. | |
| Auch das, so Deepa Anappara, habe seine Entsprechung in der Wirklichkeit: | |
| „Segregation nach Religion gibt es in Indien seit Jahren. Muslime ziehen in | |
| ihre eigenen Viertel, weil es zum einen sicherer erscheint, zum anderen, | |
| weil man sie in manchen Vierteln gar nicht wohnen lässt. Es gibt ganze | |
| Apartmentblocks in Mumbai und auch in anderen Städten Indiens, wo es | |
| Muslimen nicht erlaubt ist, Wohnungen zu kaufen oder zu mieten.“ | |
| ## Konflikte zwischen Hindus und Muslimen | |
| Sie selbst habe als Journalistin ausführlich aus Gujarat berichtet, wo es | |
| 2002 zu gewalttätigen antimuslimischen Ausschreitungen gekommen war. Viele | |
| Familien konnten nie wieder in ihre Häuser zurück, weil sie von ihren | |
| Hindu-Nachbarn bedroht wurden. Noch Jahre später saßen die Vertriebenen | |
| ohne eigenes Dach über dem Kopf und ohne staatliche Unterstützung da. | |
| „Wenig überraschend hieß der Ministerpräsident von Gujarat damals Narendra | |
| Modi, der heute Indiens Premierminister ist.“ | |
| Auf die Frage, ob sie glaube, dass Literatur politisch etwas bewirken | |
| könne, erklärt die Autorin, dass sie persönlich sich nicht vorstellen | |
| könne, „rein unterhaltende“ Literatur zu schreiben. | |
| „Ich bin in einer Gesellschaft voller Ungleichheiten aufgewachsen, und die | |
| Konsequenzen solcher krassen sozialen Unterschiede beschäftigen mich bis | |
| heute. Für mich ist es nicht möglich, mein Schreiben von dem zu trennen, | |
| was in der Welt um mich herum passiert. Ich persönlich mag Literatur, die | |
| mich herausfordert und die mein Verhältnis zur Welt infrage stellt. | |
| Natürlich kann ich nur hoffen, dass das auf andere auch zutrifft.“ | |
| Zu den großen Stärken von Anapparas Roman gehört allerdings auch, dass | |
| man ihn ganz schlicht eben auch als das lesen könnte, was er gar nicht sein | |
| soll: reine Unterhaltung. Als originell aufbereiteten Kriminalfall mit dem | |
| vermutlich jüngsten Ermittler (tierische Detektive nicht mitgerechnet) der | |
| Literaturgeschichte – wenn man die Erwachsenenliteratur betrachtet. | |
| Zur Inspiration hatte die Autorin sich noch einmal quer durch die | |
| Kinder-Genreliteratur gelesen, von „Die drei???“ bis hin zu Kästners „Em… | |
| und die Detektive“. Aber der Erzählperspektive zum Trotz ist „Die Detektive | |
| vom Bhoot-Basar“ alles andere als ein Kinderbuch. Sein größter Reiz liegt | |
| gerade in der Diskrepanz zwischen dem Weltwissen, das erwachsene LeserInnen | |
| in die Lektüre mit einbringen, und der einerseits genialisch | |
| unvoreingenommenen, andererseits herzzerreißend naiven Sichtweise des | |
| Ich-Erzählers. | |
| Als die sehr scharfen Beobachter, die Kinder sein können, werden Jai und | |
| seine Freunde übrigens am Ende einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung des | |
| Serienverbrechens geleistet haben. | |
| 29 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
| ## TAGS | |
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| Valeria Luiselli | |
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