# taz.de -- Schönste Autobahnstrecke Deutschlands: Straße des Führers | |
> Ein Künstlerpaar aus dem Schwäbischen hat in der Geschichte der | |
> Autobahn vor seiner Haustür gegraben. Sie fanden eine erschreckende | |
> Kontinuität. | |
Bild: Damals schon: Stau auf der Autobahn Stuttgart-München, Juli 1958 | |
[1][Autobahnen] sind viel mehr als Straßen. Sie sind ein | |
Freiheitsversprechen: Schau, da kannst du hinfahren! Die großen, fett | |
gedruckten Linien im heiligen Autoatlas zeigten die Routen an, sie | |
wucherten über die Seiten von unten nach oben, von links nach rechts. Es | |
ging in die Berge, es ging ans Meer, es ging nach München oder auch nur die | |
Schwäbische Alb hoch, eingeklemmt auf dem Rücksitz eines Opel Rekord, der | |
nur sehr langsam die Steigung nahm und darum immer rechts zwischen die Lkws | |
zu rutschen drohte. Und draußen? Zog die Landschaft vorbei mit ihren | |
Kirchtürmen, Tälern, Burgen. Schwäbischer geht’s nicht. | |
Diese Eindrücke gehören zu einer Stuttgarter Kindheit, bei der ja vieles um | |
das Auto kreist, vielleicht mehr noch als anderswo. Sie haben sich ins | |
topografische Gedächtnis eingegraben, ins Gefühl dafür, was eine Gegend | |
ausmacht: Autobahn A8, [2][Albaufstieg, Drackensteiner Hang]. Seit ein paar | |
Jahren gibt es hier sogar ein Schild, es ist dieser braune Typ von | |
Autobahnschildern, der Touristenattraktionen anzeigt (die aber oft, wenn | |
das Schild kommt, nicht zu sehen sind): „Schönste Autobahnstrecke | |
Deutschlands“, steht da. Wer denkt sich so was aus? | |
Das Schild zeigt ein Pärchen in einem Cabrio, das auf ebenjener Autobahn | |
durch die schwäbische Landschaft fährt, an der das Schild steht. Genau | |
genommen sind es sogar zwei Schilder. Eines steht da, wo die Autobahn die | |
Alb hoch führt, eins da, wo es – auf einer anderen Route – die Alb | |
runtergeht, die Autobahn teilt sich hier für ein paar Kilometer. Auf dem | |
einen Schild ist der Mann am Steuer, auf dem anderen die Frau, und beide | |
Male ist die Autobahn merkwürdig leer: so leer, wie sie in Wirklichkeit nie | |
ist. Denn die zwei Spuren in jeder Richtung – ohne Randstreifen, weil es so | |
eng ist – sind viel zu wenig für den Verkehr. | |
Über die Hinweisschilder an der heimischen Autobahn war auch das | |
Künstlerduo Stef Stagel und Steffen Schlichter gestolpert, die in Kirchheim | |
unter Teck wohnen, direkt an der A8, kurz bevor sie die Alb hoch geht. „Uns | |
hat verwundert, wie man das so einfach hinschreiben kann“, sagt Stef | |
Stagel: „ ‚Schönste Autobahnstrecke Deutschlands‘. Und dann auch noch | |
dieser Retrolook. Muss das sein?“ | |
Die beiden begannen in der Geschichte der Autobahn vor ihrer Haustür zu | |
graben. Die Schilder waren 2018 aufgestellt worden, und zur Einweihung | |
hatte der baden-württembergische Verkehrsminister von den Grünen, Winfried | |
Hermann, gesprochen. Unter anderem sagte er: „Diese Autobahn ist, | |
historisch betrachtet, ein Kunstwerk, ein aufwendig und schön gemachtes | |
Bauwerk.“ | |
Das kann man so sehen, aber in welcher Tradition steht so eine Aussage? | |
Stef Stagel und Steffen Schlichter fühlten sich an die Diskurse aus der | |
Frühzeit der Autobahn erinnert, in denen deren Schönheit und die | |
Verschmelzung mit der Landschaft gepriesen wurden. Für Hitler waren | |
Autobahnen ein Renommierstück, hier konnte er die arbeitslosen | |
„Volksgenossen“ in die „Arbeitsschlacht“ schicken, damit sie etwas Gro�… | |
Gewaltiges bauten, dessen Bedeutung für das Deutsche Reich sich erst in der | |
Zukunft erschließen sollte. | |
„Straßen machen Freude“ heißt ein Propagandafilm von 1939, worin gezeigt | |
wird, wie die neuen Straßen die Natur, in die sie hineingebaut sind, | |
regelrecht in Szene setzen. Man solle, heißt es da, die Autobahnen „nicht | |
nur befahren, sondern auch genießen“. „Autowandern“ ist das Wort, das in | |
diesem Zusammenhang erfunden wurde, und es ließ sich ja auch gut fahren auf | |
diesen Straßen, die unglaubliche zwei Fahrbahnen in jeder Richtung hatten. | |
In dem Propagandastreifen „Bahn frei“ von 1933 gibt es diesen Dialog: | |
„Schau, das ist eine Reichsautobahn! Jede Fahrbahn hat zwei Fahrstreifen, | |
auf dem äußeren wird gefahren, auf dem inneren überholt“, sagt er. | |
Daraufhin sie: „Na großartig, da kann ja beim besten Willen keiner dem | |
anderen mehr in die Quere kommen.“ | |
Um ihre Aufarbeitung des Komplexes zu dokumentieren, haben Stagel und | |
Schlichter in kleiner Auflage einen [3][„Autowanderführer“] herausgebracht, | |
Titel: „Edle Strecken und Kunstbauwerke“. Vorne drauf ist das historische | |
Foto einer Reichsautobahn zu sehen, die gut einen Abschnitt der jetzigen A8 | |
zeigen könnte, und im Inneren sind die Stationen einer Wanderung | |
beschrieben, die gleichzeitig eine Wanderung durch die Geschichte ist. | |
Die erste Station liegt nahe: Die Autobahnmeisterei Kirchheim unter Teck, | |
vormals Straßenmeisterei der Reichsautobahn, wurde von der Bevölkerung vor | |
Ort „Organisation Todt“ genannt – nach Fritz Todt, dem strammen Gefolgsma… | |
Adolf Hitlers und Generalinspekteur für das Straßenwesen des Deutschen | |
Reichs. In [4][Propagandafilmen] tritt Todt markig vor eine | |
überdimensionale Deutschlandkarte, auf der die Linien der Reichsautobahn | |
entstehen, von Osten nach Westen, von Norden nach Süden. „Die Bauarbeiten | |
bringen Arbeit größten Ausmaßes auf lange Sicht“, verkündet Todt. | |
Deutschland bekomme nun „endlich Straßen, die der technischen Entwicklung | |
des Kraftwagens entsprechen“. | |
In Wirklichkeit lagen die Pläne für die Autobahnen seit Jahren in der | |
Schublade, als die Nazis sie hervorholten. Und wegen des Kriegs stockte der | |
Ausbau 1942 bei der Marke von 4.000 Kilometern. Menschen und Material | |
wurden jetzt für die Rüstungsproduktion gebraucht. | |
Ganz am Ende des Albaufstiegs, bevor die Autobahn die Hochfläche der | |
Schwäbischen Alb erreicht, führt sie durch den Lämmerbuckeltunnel. Heute | |
deutet im Tunnel nichts mehr auf die Rüstungsfabrik hin, die hier unter | |
anderem von Daimler-Benz betrieben wurde. „Die Lage ist ideal dafür, da | |
diese Fabrik aus der Luft nahezu unsichtbar und bombensicher ist“, zitiert | |
das schwäbische Weltunternehmen auf seiner Homepage zur Konzerngeschichte. | |
Dieses Zitat ist ebenso wie die anderen Informationen zur | |
[5][Rüstungsproduktion im Tunnel] mittlerweile von der Daimler-Homepage | |
verschwunden. Stagel und Schlichter haben im Kreisarchiv Göppingen | |
Bauanträge ausgegraben, worin Daimler im Tunnel „Schlaf- und Waschräume“ | |
für „ausländische Arbeiter“ und in den darüberliegenden oberirdischen | |
Baracken Räume für „24 Russen“ sowie „24 Russenfrauen“ vorsieht, die … | |
Doppelstockbetten schlafen sollten. | |
Daimler leugnet nicht, Zwangsarbeiter beschäftigt zu haben. „1944 ist fast | |
jeder zweite der 63.610 Daimler-Benz-Mitarbeiter ein ziviler | |
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangener oder KZ-Häftling“, [6][schreibt der | |
Konzern]. Doch fährt man heute auf stillen Nebenstraßen durch blühende | |
Wiesen auf den Lämmerbuckel, steht dort ein Hochsicherheitstrakt der Firma | |
namens Haus Lämmerbuckel, ein Schulungszentrum von Daimler. Es steht genau | |
an der Stelle, wo die Baracken der Zwangsarbeiter standen. | |
„Eine unglaubliche Kontinuität“, nennt das Stefan Schlichter, und es ist ja | |
wirklich so, dass die in der Nazizeit begonnene Geschichte sich immer | |
weiter fortgeschrieben hat. Die Autobahnen wurden weitergebaut, die Zahl | |
der Autos – in den 1930er Jahren noch eine Schwachstelle, weil das Projekt | |
eines für jedermann erschwinglichen [7][„Kraft-durch-Freude-Wagens“] nur | |
sehr schleppend Fahrt aufnahm – explodierten; auch weil VW mit seinem | |
Volkswagen dort weitermachte, wo die Nazis angefangen hatten. | |
Inzwischen hat die Verkehrsdichte auch auf der „schönsten Autobahnstrecke | |
Deutschlands“ derart zugenommen, dass die Fahrer*innen oft nur noch im | |
Stau stehen. Und weil sich die alte Strecke nicht verbreitern lässt, haben | |
längst die Bauarbeiten für eine [8][neue Autobahn] begonnen – dreispurig in | |
jeder Richtung und mit neuen Brücken und neuen Tunneln. | |
Die alte Strecke könnte damit bereits in wenigen Jahren stillgelegt werden. | |
Abgerissen werden wird sie wohl nicht, denn das Bauwerk | |
Albaufstieg/Drackensteiner Hang steht [9][unter Denkmalschutz], was nicht | |
zuletzt an der vorletzten und vielleicht berühmtesten Station von Stagls | |
und Schlichters Autowanderführer liegt: der Drachenlochbrücke, erbaut vom | |
Stuttgarter Architekten Paul Bonatz. | |
Die hohe, filigrane Bogenkonstruktion ist aus Beton, ihre Oberfläche | |
wurde von Bonatz aber so bearbeitet, dass sie aussah, als wäre sie aus | |
Naturstein. Am Ende des Kriegs wurde die Brücke teilweise gesprengt, um den | |
Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Die bemoosten Trümmer liegen immer | |
noch unten im Tal. 1949/50 wurde die Drachenlochbrücke wiederaufgebaut – | |
diesmal allerdings ohne die Fake-Steinfassade. | |
Paul Bonatz hatte sich gegen Ende des Kriegs in die Türkei abgesetzt, kam | |
aber später wieder zurück. Im Zentrum der Landeshauptstadt steht noch sein | |
wohl berühmtestes Bauwerk, der Stuttgarter Hauptbahnhof. Auf dessen Turm | |
rotierte immer der Mercedes-Stern. Wegen der Bauarbeiten am Bahnhof ist der | |
Stern derzeit verschwunden, er soll aber [10][2025 wiederkommen]. | |
Auch Hitler ließ sich übrigens im Mercedes fahren. Für die Marke war das | |
von Vorteil. | |
25 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Autobahn/!t5007852 | |
[2] https://www.drackenstein.de/gemeinde-drackenstein/historisches/drackenstein… | |
[3] https://ststs.de/ststs/allgemein/aktuell/ | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=8POPs0YhsQk | |
[5] https://fgut.wordpress.com/bauwerke/wk2/werkluftschutz/wiesensteig-lammerbu… | |
[6] https://group.mercedes-benz.com/unternehmen/tradition/geschichte/1933-1945.… | |
[7] https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Gruendung-des-Volkswagenwerks-Naz… | |
[8] http://www.albaufstieg-aichelberg.de/drackenstein/html/neu.html | |
[9] /C:/Users/wie/AppData/Local/Temp/12447-Artikeltext-22440-1-10-20140225.pdf | |
[10] https://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/presse/pressemitteilungen/newsdet… | |
## AUTOREN | |
Daniel Wiese | |
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