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# taz.de -- Zwangsarbeit in Berlin: Arbeitszwang
> Dreitausend Zwangsarbeitslager gab es im Krieg in Berlin. In der Reihe
> „NS-Zwangsarbeit vor unserer Haustür“ will man darüber ins Gespräch
> kommen.
Bild: Niederländische Zwangsarbeiter in einem Lager in Spandau, 1943
Berlin taz | Als die Spandauerin mit ihrer Familie das
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide besuchte, erlebte sie
einen Schock. „Das ist doch unser Haus“, hätte ihre Tochter plötzlich
gerufen, erinnert sich die Frau, und dabei auf ein historisches Foto in der
Ausstellung gezeigt. Das hing in einer langen Reihe von Fotos, die Orte von
Zwangsarbeit dokumentierten.
Das Haus, das die Spandauerin bewohnt, ist ein Familienerbstück.
Zwangsarbeit aber kommt in der Erinnerung ihrer Familie nicht vor. Bisher
nicht. „Ich habe mich an die Leitung des Dokumentationszentrums und an die
Berliner Geschichtswerkstatt gewandt und wollte mehr erfahren“, berichtet
die Frau. „Ich wollte Erinnerungen aus meiner Familie organisieren. Ich
wäre die Letzte, die sich einem Gedenkort vor unserem Haus verwehrt hätte.“
Aber sie erhielt lange überhaupt keine Antwort, berichtet die Frau. Alles,
was sie dann erfuhr: Das Foto stamme aus einem Fotofonds tschechischer
Zwangsarbeiter. Ob die in dem Haus untergebracht waren oder dort Arbeiten
verrichten mussten – unbekannt.
Genau solche Debatten und Nachfragen sind es, die das Dokumentationszentrum
NS-Zwangsarbeit mit einer Tour durch die Bezirke initiieren will. Jeden
Monat zieht sie in diesem Jahr in einen anderen Bezirk und diskutiert
gemeinsam mit den Bezirksmuseen, mit Archäologen, Geschichtsprojekten von
Schulen, Bezirkspolitikern und interessierten Bürgern über, so der Titel
der Reihe, [1][„NS-Zwangsarbeit vor unserer Haustür“].
Im April war Station in Spandau. In den Gotischen Saal der Zitadelle, wo
die Diskussion stattfand, waren rund 80 Interessierte gekommen. Die
Erforschung der NS-Geschichte brauche den Austausch zwischen
WissenschaftlerInnen, dem Bezirk und den vielen Privatinitiativen, sagt Uwe
Hofschläger, der Leiter der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau. Das private
Engagement in Spandau an der Erforschung dieses Teils der Bezirksgeschichte
sei riesig. „Aber ohne finanzielle und politische Unterstützung aus dem
Bezirk können wir keine Erinnerungsorte schaffen, keine Stolpersteine
verlegen.“
Zwangsarbeit war in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in Berlin nicht zu
übersehen. Knapp 500.000 ZwangsarbeiterInnen aus 20 Ländern lebten in der
Reichshauptstadt. Aus Polen, der Ukraine, Frankreich und den anderen von
der Wehrmacht eroberten Gebieten verschleppte Menschen sollten die
Arbeitskräfte der deutschen Männer ersetzen, die an der Front waren. Vor
allem in der Rüstungsindustrie wurden sie eingesetzt, aber nicht nur.
3.000 Zwangsarbeitslager gab es in den Kriegsjahren in Berlin, über das
gesamte Stadtgebiet verteilt. Anders als man meinen könnte, waren sie nicht
umzäunt. Die zwangsweise nach Berlin verschleppten Menschen mussten sie
selbstständig zur Arbeit verlassen. Durch Aufnäher an ihren Kragen waren
sie als Zwangsarbeiter erkennbar. Wer floh, dem drohte die Einweisung in
KZ-ähnliche Arbeitserziehungslager.
Spandau war als Industriestandort ein Zentrum der Zwangsarbeit. Über 100
Orte im Bezirk sind heute als Zwangsarbeitslager identifiziert worden,
durch Archivstudien, Erinnerungen von Nachbarn oder durch archäologische
Forschungen. Darunter eine Fleischerei, in der nur ein einziger
Zwangsarbeiter tätig war und auch hausen musste, mehrere Lager mit 20 oder
30 Insassen, aber auch das riesige Lager in Haselhorst mit mindestens 3.000
Insassen, die bei Siemens schufteten. Für die Zwangsarbeiter bei Siemens in
Spandau gab es auch im benachbarten Falkensee riesige Lager. Der Historiker
Florian Kemmelmeier von der „Topographie des Terrors“ führte im Auftrag des
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit im Siemens-Archiv gerade
Archivarbeiten zur NS-Zwangsarbeit durch. Siemens unterhielt in den
Kriegsjahren 127 Zwangsarbeiterlager in Berlin, mehr als jedes vierte davon
in Spandau, berichtet er.
Doch es gibt auch Orte in Spandau, wo noch geforscht werden muss, ob es
dort Zwangsarbeit gab. Beispielsweise die 1933/34 von der SA zu
Schulungszwecken genutzten Baracken in Neu-Kladow. Man weiß nicht, ob die
in den Kriegsjahren ein Zwangsarbeitslager waren. Auch zum Spandauer Horn
zwischen Havel und Spree gibt es noch Fragezeichen. Archäologische
Ausgrabungen brachten Indizien von Zwangsarbeit zutage, aber noch keine
gesicherten Erkenntnisse, sagt Archäologe Torsten Dressler.
An anderen Orten wird darüber debattiert, ob man Orte von Zwangsarbeit
erhält oder nicht. Das betrifft etwa die noch erhaltenen Baracken in
West-Staaken, die zu DDR-Zeiten von den Grenztruppen genutzt wurden. Der
Bezirk will dort eine Schule bauen, was den Abriss der Baracken bedeuten
würde.
Seit 2005 erinnert im Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau ein Mahnmal an
die Zwangsarbeiter im Bezirk. Auch wenn das heutige Krankenhausgebäude ein
authentischer Ort der Zwangsarbeit war und der Stein dem Krankenhausträger
willkommen war, die Initiatoren hätten ihn gern in der Spandauer Altstadt
aufgestellt. Dort, wo die Spandauer flanieren und sich treffen. Das
scheiterte damals allerdings am Widerstand der CDU.
5 May 2022
## LINKS
[1] https://www.ns-zwangsarbeit.de/veranstaltungen/
## AUTOREN
Marina Mai
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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