# taz.de -- Geschlechtergerechtes Märchen im Kino: Viel Action in den alten Kn… | |
> Der US-Regisseur und Schauspieler Osgood Perkins nimmt sich „Gretel & | |
> Hänsel“ vor. Sein Update der Brüder Grimm ist feministisch, aber zu | |
> bildverliebt. | |
Bild: Knusper, Knusper, Knäuschen: nach Pferfferkuchen duftet das Hexenhaus be… | |
Auch Hexen haben Backstorys. Sie waren nicht immer alt und gebeugt, wohnten | |
nicht immer in Knusperhäuschen im Wald, und koberten und mästeten | |
vermutlich nicht immer kleine Kinder, um sie beizeiten aufzufressen. | |
Doch Osgood Perkins’ filmische „Gretel & Hänsel“-Adaption legt – wie d… | |
originale Erzählung – den Fokus zunächst auf die beiden Geschwister, deren | |
Schicksal seit 1812 (da erschien die [1][Urfassung in Grimms „Kinder- und | |
Hausmärchen“)] besiegelt ist: Arm sind sie, in den Wald müssen sie, sich | |
verirren und die Hexe treffen. | |
Was vielleicht sogar das kleinere Übel sein könnte: „Are you intact?“, wi… | |
die pubertierende Gretel (Sophia Lillis) kurz zuvor von einem geifernden | |
potenziellen Arbeitgeber gefragt, an den ausgerechnet die Mutter sie | |
verwiesen hatte. | |
Perkins’ Gretel beweist, bei all der Armut und Lieblosigkeit um sie herum, | |
genug Selbstschutz, um nicht auf das Angebot einzugehen. Anstatt bei der | |
verzweifelten Mutter zu bleiben, die angesichts der fatalen Mittel- und | |
erwartbaren Arbeitslosigkeit einen erweiterten Suizid ankündigt, schnappt | |
sie den kleinen Bruder und geht ihm voraus in den Wald: Gretel steht auch | |
im Filmtitel nicht ohne Grund an erster Stelle. | |
Und nach einer mit wabernden Nebelschwaden, düsteren Bäumen, einem | |
Fliegenpilztrip und ausufernder Dreiecksymbolik gestalteten Waldwanderung | |
treffen das Kind und der Teenager märchengetreu auf ein Häuschen, das zwar | |
nicht nach Pfefferkuchen duftet, sondern einem dreieckigen Requisit aus | |
einem Stanley-Kubrick-Film ähnelt. | |
## Eine warzenfreie Gastgeberin | |
Aber drinnen biegen sich, wie bei Grimms, die Tische vor köstlichen Speisen | |
– Grund genug für Gretel und Hänsel, die betagte, immerhin warzenfreie | |
Gastgeberin zu akzeptieren, deren Motive sie sich fast nicht mehr | |
rechtzeitig bewusst werden. | |
Perkins und sein Drehbuchautor Rob Hayes haben sämtliche | |
psychoanalytischen, historischen, esoterischen und philosophischen | |
Interpretationen des Märchenstoffs gelesen, und einen großen Teil davon | |
benutzt: Verhalten entdeckt man Hinweise auf familiäre Konflikte, auf | |
sexuellen Missbrauch, auf Schizophrenie, auf das Verhältnis zwischen | |
pubertierenden Mädchen und Nahrung, das zuweilen in Essstörungen münden | |
kann. | |
Die Hexe, in einer großartig-trockenen Maske gespielt von Alice Krige, hat | |
aber auch etwas von einer naturaffinen Präfeministin: Gibt sie nicht ihr | |
Wissen über das Beherrschen der Bäume an Gretel weiter? Fordert sie nicht | |
deren uneingeschränkte Solidarität gegenüber dem Bruder (= männlichen | |
Wesen) ein, soll sich Gretel nicht gar von ihm lossagen? Und erklärt sie | |
nicht, dass ein Mädchen seine Kraft mit der ersten Menstruation erkennt? | |
## Formvollendete Gruseltableaus | |
Aber Perkins findet von Anfang an keinen Rhythmus für seinen modernen | |
Horror. Zum alptraumhaft düsteren, elektronischen Score von Robin Coudert | |
baut der Regisseur zwar formvollendete Gruseltableaus – doch er ist zu | |
bildverliebt, um sie dramaturgisch zu verbinden. | |
Und so verschwimmen die finsteren Sequenzen von Kindern hinter Spiegeln, | |
von blutigen Leichen, die einem kannibalistischen „Vanitas“-Gemälde ähnel… | |
und von verlotterten Puppen. Die Handlung steht zumeist, genau wie die | |
Handelnden – dabei mag die Hexe nach außen hin uralt sein, in ihren Knochen | |
steckt – das lernen Gretel und Hänsel – noch viel Action. | |
## Die Vorgeschichte der Hexe | |
Sogar die endlich offenbarte Vorgeschichte der Hexe kann am Ende nicht mehr | |
viel retten: Wer nun wen einst geboren, aufgefressen oder gekidnappt hat | |
und wer dafür leiden oder besser: in einer Art Ofen brennen muss, das | |
versinkt in der statischen Erzählweise, den Dreiecken und den humor- und | |
manchmal auch sinnfreien Dialogen. | |
Auch die Hoffnung, „Gretel & Hänsel“ könnte wie Robert Eggers’ | |
außergewöhnlicher [2][Hexenverfolgungs-Fantasyfilm „Die Hexe“] (2016) in | |
eine historische Richtung gehen, zerschlägt sich spätestens, wenn eine der | |
Traumfiguren ihre modernen „ignorant tattoos“ enthüllt. Schade – nicht m… | |
mit Lebkuchen kann man sich trösten. Denn ausgerechnet die kommen in | |
„Gretel & Hänsel“ gar nicht vor. | |
10 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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