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# taz.de -- H.C. Andersens Hüs neu eröffnet: Eine Erbse, fürstlich gebettet
> Im dänischen Odense hat das neue Hans-Christian-Andersen-Haus eröffnet.
> Dem Märchenerzähler begegnet man hier zwischen grünen Hügeln.
Bild: Schon die Museumsanlage mutet märchenhaft an
Eine fette Durchgangsstraße verschwindet, ein Stadtteil mit Kulturzentrum
entsteht. Das H. C. Andersens Hus wird neu erfunden. Auf dem Reißbrett des
Büros Kengo Kuma & Associates (Tokio/Paris) und im stets fluiden Prozess
während der Planungs- und Bauphase.
Odense, die Geburtsstadt Hans Christian Andersens, hat mit Mitteln aus
kommunalen und privaten Töpfen Kumas architektonischen Markenkern, die
Verschmelzung von Landschaft und Bauwerk, gleichsam als märchenhaft-urbane
Arabeske verwirklicht.
Auf einem Gelände von knapp 6.000 Quadratmetern winden sich geschwungene
Wege durch einen labyrinthisch angelegten Park mit hohen Hecken und einer
Pflanzenvielfalt, die Licht, Luft und Farbenspiel je nach Jahreszeit
orchestrieren (Masu Planning, Kopenhagen).
Hügel müssen erklommen werden, von denen der Blick in die Tiefe geht (zwei
Drittel der mehrstöckigen Ausstellungsgebäude befinden sich freigelegt
unter der Erde). Gerundete Pavillons mit sanft geschwungenen Flachdächern,
hölzernem Skelett und viel Glas öffnen sich zum magischen, teils
versunkenen Garten hin. Es gibt ein weitläufiges Kinderzentrum für Spiel
und Unterricht, es gibt – natürlich – eine Bibliothek und ein Restaurant.
Andersens Universum wird nicht erklärt. Durch Naturerfahrung, pfiffige
Szenografien, den Wechsel vom düsteren Raumerlebnis zum heiteren Tableau
wird es empfunden. Fantasie und Wirklichkeit durchdringen einander, bilden
H. C. Andersens (er hat seine Vornamen nie ausgeschrieben) Wahrheit. Seinen
Wunsch Schauspieler zu werden, konnte er sich nicht erfüllen, hat aber früh
schon angefangen zu schreiben.
Gedichte, diverse Romane, [1][doch sein weltweiter Erfolg basierte auf den
mit Ironie und Gesellschaftskritik gewürzten Märchen.] Er erdachte – anders
als die Brüder Grimm, die sich für ihre Volksmärchen auf Moral und Ideale
der mündlichen Überlieferung stützten – Kunstmärchen, deren wahrer Kern in
der kontroversen Interpretation des Lesers liegt (der Reporter und
„proletarisch-revolutionäre“ [2][Schriftsteller Egon Erwin Kisc]h
bezeichnete Andersen in den zwanziger Jahren als „feinen Satiriker, dessen
vermeintliche Märchen wir den Kindern zu lesen geben, weil die Erwachsenen
sie nicht verstehen“).
168 Märchen umfasst sein Lebenswerk. Zwölf lassen sich im Untergeschoss des
großen Ausstellungspavillons in szenischen Ensembles interaktiv in Bild,
Figur, Ton und Bewegung erleben.
Etwa die traurige Geschichte vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, deren
Fortgang man selbst bestimmen kann. Wer’s übertreibt, bekommt am Ende aus
dem Off den lakonischen Bescheid, dass man nun aufhören solle, Tempo zu
machen, das Mädchen sei schon tot. Daneben behauptet sich eine auf
fürstlich rotem Samt gelagerte winzige Erbse gegen einen monströsen
märchenbunten Matratzenturm. Und natürlich die Meerjungfrau....
## Abgründe des rastlosen Dichters
Rastlosigkeit bestimmte sein Leben, ohne Unterlass reiste er, schrieb,
besuchte – möglichst berühmte – Menschen. Das Konzept des
Andersen-Erlebniszentrums in Odense konzentriert sich auf pointierte
Einblicke in die Eigenheiten, die Gewohnheiten und die Abgründe des
zeitlebens unverheirateten Dichters, der sich auch sehr gern dem
Verfertigen von Scherenschnitten widmete.
Der Besucher gleitet auf dem spiralförmigen Weg in den Untergrund des
Museumspavillons vorbei an dem Brief seiner einzigen großen Liebe, in dem
sie dem Dichter eine präzise Absage erteilte, vorbei an einer silbernen
Zahnbürste, die er für einen Freund, den er sehr verehrte, anfertigen ließ.
Andersens erotisch-sexuelle Ausrichtung gab von jeher Anlass zu
kontroversen Diskussionen. Sicher ist, dass der aus ärmsten Verhältnissen
stammende und durch Zielstrebigkeit immens erfolgreiche Mann ein
Hypochonder sondergleichen war, der sich nur zu gern feiern ließ,
leidenschaftlich-gefühlvolle Auftritte zelebrierte und bisweilen mit
nervenzerfetzendem Charisma verstörte. Einzelne, sorgfältig ausgewählte
Belegstücke informieren und amüsieren gleichermaßen.
Trockene Dokumente und Fakten entlang der Lebenslinie eines großen Dichters
wird man in diesem Ensemble nicht finden, vielmehr eine auf hierarchische
Anordnung verzichtende Melange aus Attitüde und Werkillustration. Sie
bedient sich aller erdenklichen technischen Finessen, wird unseren
inzwischen adaptierten Sehgewohnheiten gerecht.
Inwieweit sich diese vorbildhaft aktuelle Präsentation auf Dauer bewähren
wird, muss sich zeigen. Die Lust an einer schönen Portion Nostalgie und das
nie versiegende Bedürfnis, eine harmonische, gern auch magische Verknüpfung
von Natur und Mensch wird fürs Erste zu einer respektablen Langzeitwirkung
beitragen.
8 Jul 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Annegret Erhard
## TAGS
Märchen
Grimms Märchen
Dänemark
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Literatur
Kino
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