# taz.de -- Skandalautorin Goliarda Sapienza: Alles so unerhört frei | |
> Posthum erschien Goliarda Sapienzas Roman „Die Kunst der Freude“ über ein | |
> Leben voller Lust, Gewalt und Politik. Sie wäre nun 100 Jahre alt | |
> geworden. | |
Bild: Fand in der Gefängnishaft zur „Ursprache“: Goliarda Sapienza 1992 | |
Ein Jahrhundertroman, der mit einer Lustszene eines jungen Mädchens beginnt | |
und schon auf den ersten sechzig Seiten eine Vergewaltigung und vier Morde | |
schildert: „Die Kunst der Freude“, das monumentale Meisterwerk der | |
sizilianischen Schriftstellerin Goliarda Sapienza, musste zwanzig Jahre | |
lang in einer Truhe darauf warten, dass Verleger:innen sein Potenzial | |
erkannten. „Unveröffentlichbar“, „sehr lang“, „zu experimentell“ l… | |
die Gründe für die Ablehnung. | |
Gründe, die wohl weniger mit dem Text als mit dem Geschlecht der Autorin zu | |
tun hatten. Immerhin, gibt der Verleger der französischen Übersetzung | |
Frédéric Martin in der „Arte“-Doku „Begehren und Rebellion – der Roma… | |
Kunst der Freude‘“ zu bedenken, sei zu jener Zeit Vladimir Nabokovs | |
„Lolita“ verlegt worden und Marquis de Sade mit seinen | |
gewaltpornografischen, antiklerikalen Romanen habe längst zu den | |
Klassikern der Weltliteratur gezählt. Eine Frauenfigur mit dem ironischen | |
Namen Modesta („Bescheidenheit“) jedoch, die bereits als kleines Mädchen | |
ihre Lust erkundet und von einem Mann, der vorgibt, ihr Vater zu sein, | |
vergewaltigt wird, dann Mutter und Schwester verbrennt, Frauen wie Männer | |
liebt und das Konzept der Kernfamilie aus den Angeln hebt, sei skandalös | |
gewesen. | |
Um ihren Roman endlich veröffentlicht zu sehen, wandte sich Goliarda | |
Sapienza in ihrer Verzweiflung sogar an den damaligen italienischen | |
Staatspräsidenten Sandro Pertini, einen Freund und Kampfgefährten [1][ihrer | |
Mutter, der anarchistischen Sozialistin und Syndikalistin Maria Giudice:] | |
Seit zwei Jahren versuche sie, schreibt Goliarda Sapienza in ihrem Brief | |
aus dem Jahr 1979, ihr Buch über die weltliche Freude am Kampf ihrer | |
Protagonistin Modesta „gegen alle Faschismen, die ihre Entwicklung und ihre | |
Freiheit behindern“, zu veröffentlichen. Doch Goliarda Sapienza starb, | |
ohne ihre Protagonistin Modesta zum Leben erweckt zu sehen. Nach ihrem Tod | |
veröffentlichte ihr Mann Angelo Pellegrino „Die Kunst der Freude“ im | |
römischen Selbstverlag „Stampa Alternativa“. | |
Waltraud Schwarze, Lektorin beim Berliner „Aufbau-Verlag“, entdeckte den | |
Text auf der Frankfurter Buchmesse und machte die französische Verlegerin | |
Viviane Hamy und ihren damaligen Kollegen Frédéric Martin auf ihn | |
aufmerksam. Der Roman wurde in Frankreich binnen weniger Monate zur | |
literarischen Sensation. Das Interesse der Nachbarländer ließ die | |
italienischen Verlage aufhorchen: 2008 erschien „L’arte della gioia“ bei | |
„Einaudi“, der ihn im Jahr 1979 noch kommentarlos abgelehnt hatte. | |
## Heute ist das Fluide ihres Denkens Gegenwart | |
Sapienza war ihrer Zeit voraus: Heute ist das Fluide in Modestas Denken | |
Gegenwart geworden. Ihr eklektischer Roman, der formale Regeln über den | |
Haufen schreibt, mit theatralen Dialogen und direkter | |
Leser:innenansprache operiert und unaufhörlich zwischen erster und | |
dritter Person changiert, ist der unbedingten Freiheit seiner Protagonistin | |
auch stilistisch ebenbürtig, wie auch die Neuübersetzung von Esther Hansen | |
und Constanze Neumann darlegt. | |
Dabei ähnelt die bis zum heutigen Tage wohl freieste Frauenfigur der | |
Literatur keineswegs der idealisierten feministischen Vorzeigefrau, die mit | |
apodiktischer Solidarität die Romane der heutigen Zeit flutet. Modesta | |
manipuliert, verachtet Jammerei und ist anderen Frauen gegenüber | |
paternalistisch. „Wie ich es mir vorgenommen hatte“, verkündet sie, nachdem | |
sie mit Schläue und List zum Oberhaupt einer alten Adelsfamilie | |
aufgestiegen ist, „wurde ich ein weiser, alter Herrscher.“ | |
Und doch, es wäre zu kurz gegriffen, Modestas Freiheitsmaxime schlicht mit | |
Egoismus gleichzusetzen: Denn anders als die neoliberale Narrative „Ich | |
gegen alle“ vorgibt, verändert Modesta die Welt für sich und für andere. | |
Sie erschafft eine Wahlfamilie, die im Verlauf des Romans stetig größer | |
wird und die gängige Art, emotionale wie sexuelle Beziehungen zu führen, | |
hinterfragt. Frédéric Martin bezeichnet „Die Kunst der Freude“ als | |
„anarchistischen Roman“, da er sich gegen jede moralische Autorität | |
auflehne: „gegen jeden Versuch, eine Lektion zu erteilen, eine Richtlinie | |
vorzugeben“. | |
Modesta erkennt das Übel in „all den Wörtern, die die Tradition | |
verabsolutiert hat“. Deswegen untersuche sie die Wörter, um sie vom | |
Schimmel zu reinigen, von den „jahrhundertealten Verkrustungen der | |
Tradition“ zu befreien, neue zu erfinden und vor allem die zu verwerfen, | |
die man jeden Tag benutze, die aber innerlich verrottet seien: „Pflicht, | |
Tradition, Entsagung, Demut, Seele, Scham, Herz, Heldentum, Gefühl, | |
Barmherzigkeit, Opfer, Resignation.“ | |
Dadurch gelingt Modesta, was sowohl in der Literatur als auch in der | |
Gesellschaft nach wie vor selten ist: tatsächlich ideologiefrei zu sein. | |
Modesta widersteht sämtlichen Ideologien – egal, ob sie sich hinter | |
Sozialismus, Marxismus, Leninismus, Faschismus, Katholizismus, Atheismus, | |
Feminismus oder anderen auf -ismus endenden Kirchen verstecken. Sie | |
begreift sie alle, auf je unterschiedliche Art, als Fesseln. | |
## Liebe zur Freiheit, Liebe zum Zweifel | |
Die mit ihrer Protagonistin geteilte Liebe Sapienzas zur Freiheit und zum | |
Zweifel(n) hatte einen Preis. Um „Die Kunst der Freude“ zu schreiben, | |
hängte sie ihre Karriere als Schauspielerin an den Nagel und isolierte sich | |
von der bourgeoisen römischen Intelligenzija, der sie seit ihrer Beziehung | |
mit dem Regisseur Francesco Maselli angehört hatte. Fast zehn Jahre lang | |
arbeitete sie ausschließlich am Roman. Dann, verarmt und ohne Aussicht auf | |
Veröffentlichung, stahl sie, um die Miete zu zahlen, einer ihrer | |
wohlhabenden Freundinnen Schmuck, wurde von ihr angezeigt und zur Haft im | |
römischen Frauengefängnis „Rebibbia“ verurteilt. | |
Zu ihrem großen Glück, wie Sapienza später sagte, denn die Zeit im | |
Gefängnis habe ihr die Möglichkeit gegeben, den „tiefgründigen, schlichten | |
Zungenschlag der Gefühle“ zurückzuerlangen: jene „Ursprache“, die alle | |
Klassen- und Bildungsunterschiede, Sprachen und Dialekte als „nutzlose | |
Maskeraden wahrer, urinnerster Beweggründe (und Bedürfnisse)“ beiseitefege. | |
Nicht das Gefängnis, das sie in „Tage in Rebibbia“ als „weltoffene | |
Universität“ beschreibt, sondern die Reaktion ihrer römischen Bekannten | |
habe sie enttäuscht: „Wäre ich dafür in New York vor Gericht gekommen“, | |
sagt sie in einem Interview mit dem italienischen öffentlich-rechtlichen | |
Fernsehensender Rai Storia, „hätten sie sofort einen Film gedreht, | |
womöglich sogar einen witzigen. Stattdessen waren sie schockiert: ‚Goliarda | |
hat geklaut!‘“ | |
Abermals erwies sich das Geschenk, das Goliarda Sapienza ihren Mitmenschen | |
machte, als zu anspruchsvoll. Heute, vierundvierzig Jahre später, zeichnet | |
ein nach ihr benannter Preis die besten Geschichten aus Gefängnissen aus, | |
und die Verfilmung von „Die Kunst der Freude“ feiert unter der Regie von | |
Valeria Golino Premiere auf den Filmfestspielen in Cannes. | |
## Melonis Rundfunkgesetz | |
In Sapienzas Herkunftsland Italien werden Freiheiten derweil eher | |
eingeschränkt: „Die Regierungsmehrheit hat beschlossen, die RAI zu ihrem | |
Megafon zu machen“, ließ die Journalistengewerkschaft Usigrai live während | |
der Abendsendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Italiens | |
(RAI) verlesen und Alarm schlagen. Die rechte Regierung unter | |
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die zwar als erste Frau in der | |
Geschichte des Landes dieses Amt bekleidet, sich jedoch lieber „der | |
Ministerpräsident“ nennen lässt und mit populistischen Parolen unter | |
anderem die queerfeindliche Stimmung im Land schürt, drückte kurz vor den | |
Europawahlen ein Gesetz durch, das es Regierungsvertreter:innen in | |
Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ermöglicht, ohne zeitliche | |
Begrenzung und ohne Widerspruch zu sprechen. | |
Der Usigrai-Vorstand sprach von einer „Rückkehr zum Istituto Luce“, dem | |
Propagandasystem [2][des faschistischen Regimes zur Zeit Mussolinis.] Eines | |
Regimes, das zu Sapienzas Geburt vor nun 100 Jahren bereits Italien fest | |
im Griff hatte. | |
29 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marielle Kreienborg | |
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