| # taz.de -- Film „Kingdom“ über korsische Mafia: Angst haben sie alle | |
| > Der Regisseur Julien Colonna erzählt in seinem Spielfilm „Kingdom“ mit | |
| > Laiendarstellern realistisch vom Leben in der organisierten Kriminalität. | |
| Bild: Hauptsache, Zeit mit dem Vater: Lesia (Ghjuvanna Benedetti) und Pierre-Pa… | |
| Es ist der Sommer des Jahres 1995, und [1][auf Korsika] haben die Ferien | |
| begonnen. Würde das rhythmische Zirpen der Grillen nicht jedes andere | |
| Geräusch übertönen, könnte man den Boden unter Lesias Schritten knistern | |
| hören. Stünde man neben ihr, würde man auch den Schweiß der Männer riechen, | |
| mit denen sie auf Wildschweinjagd geht, und den Duft der Suppe, für die das | |
| Mädchen den frisch gefangenen Fisch ausgenommen und Gemüse geschnitten hat. | |
| Lesias Vater Pierre-Paul hat ihr gezeigt, wie man sie zubereitet. Das | |
| gemeinsame Kochen ist Beziehungsarbeit, denn Pierre-Paul ist ein korsischer | |
| Pate, und als solcher hat man naturgemäß nicht viel Zeit für Unternehmungen | |
| mit der 15-jährigen Tochter. Durch die Augen des heranwachsenden Mädchens | |
| erzählt „Kingdom“ eine Mafiageschichte, die sich so mühelos entwickelt, a… | |
| hätte der Regisseur Julien Colonna am Drehort alles Nötige schon exakt so | |
| vorgefunden. So absehbar ihr crime plot ist, so erfreulich oft erwischt er | |
| einen aus dem Hinterhalt. Der Sauerstoff, von dem Colonnas Spielfilmdebüt | |
| lebt, steckt aber in der Bindung, die zwischen Lesia und Pierre-Paul | |
| wächst, erst beim Jagen und dann vor allem auf der Flucht. | |
| Natürlich hatte Lesia eigene Vorstellungen von ihren Ferien: ausschlafen, | |
| an den Strand gehen und andere Teenager auf Partys küssen, während Ace of | |
| Base auf dem Dancefloor läuft. Als die Tante sie in das abgelegene Landhaus | |
| verfrachten lässt, in dem Pierre-Paul und seine Männer sich gerade | |
| verstecken, hält sich ihre Begeisterung entsprechend in Grenzen. Doch bald | |
| beginnt Lesia, die Blicke, Besprechungen und Gesten um sich herum nicht | |
| länger aus der Distanz zu beobachten. Sie ist dabei, wenn alle sich vor dem | |
| Fernseher sammeln, weil die Nachrichten mit dem zerschossenen Auto eines | |
| Onkels aufmachen. | |
| Kreuzt die Polizei auf, hechtet sie mit aufs Motorboot, um erst nach | |
| Sonnenuntergang wieder an Land zu kommen. Und sie sieht, wie diejenigen, | |
| die einen „Job“ erledigen mussten, bei ihrer Rückkehr erst mal wortlos ins | |
| kühle Meer tauchen. Als sie den Vater einmal fragt, ob er Angst habe, sagt | |
| er: „Wir alle haben Angst. Sie hält uns am Leben.“ Fast klingt es so, als | |
| sei das, was hier passiert, unausweichlich. | |
| Von den therapeutischen Möglichkeiten, die ein Tony Soprano genutzt hat, | |
| wissen oder halten die Mobster in „Kingdom“ nicht viel. Ihre Outfits wirken | |
| eher hemdsärmelig als ikonisch, fragwürdige Haarteile tun ein Übriges. Es | |
| sind Typen, denen man im Baumarkt begegnen könnte, ohne zu ahnen, wofür sie | |
| die gekauften Gartenhandschuhe benutzen werden. Als neue Posterboys des | |
| Genres taugen sie kaum. Ihre Gesichter könnten trotzdem locker in | |
| Großaufnahme an der Wand einer Galerie prangen. | |
| Acht Monate Straßencasting gingen den Dreharbeiten voraus. Saveriu Santucci | |
| und Ghjuvanna Benedetti, die Pierre-Paul und Lesia spielen, sind eigentlich | |
| Hirte und angehende Krankenpflegerin. Santucci strahlt angeborene Autorität | |
| aus, doch wenn er lächelt, wirkt es, als hätte man kurz in die | |
| Mittelmeersonne geblickt. Benedetti hat eines dieser telegenen Gesichter, | |
| denen man ewig zusehen und alles glauben will. Dazu steckt eine | |
| Ernsthaftigkeit in ihren jugendlichen Zügen, die die Entwicklung, die Lesia | |
| durchmacht, genau zu spiegeln scheint. | |
| Beobachtet man die beiden beim Fischen oder wenn das Mädchen den Kopf an | |
| die Brust des Vaters lehnt, scheint es, als würden die Rollen auf diesen | |
| Menschen basieren, und nicht, als würden die sie interpretieren. | |
| Authentizität ist per se kein Qualitätsmerkmal im Film. Wenn Schauspieler | |
| vor der Kamera aber so waschecht auftreten, als wären sie sich der eigenen | |
| Wirkung kaum bewusst, ist es schon ein besonderes Vergnügen, dabei | |
| zuzusehen. Lediglich beim Stimmtraining hätte man ihnen etwas mehr Zeit | |
| gewünscht. | |
| Nicht nur die mutige Besetzung verleiht Collonas Film seine realness. Man | |
| spürt, dass er [2][das Leben auf der Insel] kennt: ihre Menschen, Straßen | |
| und Buchten, die Sprache bis hin zur Musik, die im lokalen Radio läuft. Und | |
| er weiß, was es bedeutet, hier als Sohn eines mutmaßlichen Mafiabosses | |
| aufzuwachsen. Der Regisseur war selbst noch jung, als Korsika in den | |
| neunziger Jahren von besonders schweren Bandenkriegen geprägt war und sein | |
| Vater Jean-Jérôme Colonna starb. | |
| Diese Biografie wird dazu beigetragen haben, dass „Kingdom“ vor allem von | |
| den Entbehrungen eines Lebens in der organisierten Kriminalität erzählt. Er | |
| steckt voller zarter Momente, aber auch voller Väter, die bei näherer | |
| Betrachtung ziemlich kaputt sind. Weil eine gewisse Betriebsblindheit zum | |
| Kindsein dazu gehört, suchen die Kinder die Anerkennung dieser Väter | |
| trotzdem. Als Lesia von einer Freundin Pierre-Pauls als gute Jägerin gelobt | |
| wird, sagt sie: „Ich mochte das Jagen nie. Ich tue es nur, um mehr Zeit mit | |
| ihm zu verbringen.“ Nicht nur Kinder, deren Väter in der Mafia tätig sind, | |
| werden das nachempfinden können. | |
| 27 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Böhm | |
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