| # taz.de -- Filmfestspiele Cannes 2023: Der Bart steht ihr gut | |
| > Wang Bing gewährt in Cannes Einblick in die chinesische Textilproduktion. | |
| > Eine behaarte Frau behauptet sich in Stéphanie di Giustos "Rosalie". | |
| Bild: Abel (Benoît Magimel) und seine Frau Rosalie (Nadia Tereszkiewicz), sie … | |
| Dieses Jahr guckt man in Cannes gern lang. Nach Steve McQueens | |
| vierstündiger Arbeit „Occupied City“ folgt jetzt im Wettbewerb der | |
| [1][chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing] mit „Youth (Spring)“, einer | |
| dreieinhalb Stunden dauernden Langzeitbeobachtung über junge Arbeiter in | |
| der Textilstadt Zhili. Wang Bing, der bevorzugt die weniger sichtbaren | |
| Gruppen der chinesischen Gesellschaft porträtiert, hat eine Reihe privater | |
| Betriebe aufgesucht und den Alltag der Angestellten während und nach der | |
| Arbeit begleitet. | |
| Aggressiv rattern die Nähmaschinen in den fensterlosen Räumen der bloß mit | |
| ihren Hausnummern bezeichneten Sweatshops, die sich in einer endlosen | |
| Betonwüste aus homogenen Blocks aneinanderreihen. Die Unternehmen stellen | |
| Kinderkleidung her, ob sie auch für den internationalen Markt produzieren, | |
| erfährt man nicht. Fast alle der Angestellten sind Anfang 20, viele von | |
| ihnen sitzen mit Zigarette im Mund an ihren Plätzen, während sie in | |
| aberwitziger Geschwindigkeit die zugeschnittenen Stoffe durch ihre Apparate | |
| ziehen. Der Ton untereinander ist vertraut, man piesackt einander, manchmal | |
| fliegen Garnspulen und es kommt zu Handgreiflichkeiten. | |
| ## Von Betrieb zu Betrieb | |
| Nach der Arbeit geht es ein paar Treppen nach oben, wo die Schlafräume | |
| liegen, in denen sie untergebracht sind. Dicht an dicht stehen die Betten, | |
| Privatsphäre gibt es allenfalls auf der Toilette. Obwohl die jungen | |
| Menschen aus den umliegenden Provinzen ständig zusammen sind, wirkt ihr | |
| Umgang recht kollegial. Manche Paare finden sich, einige Frauen werden | |
| schwanger und denken mitunter an Abtreibung. | |
| Wie hart so ein Leben ist, deutet Wang Bing bei den Verhandlungen über die | |
| Bezahlung an. Die Textilarbeiter erhalten Akkordlohn, sie werden pro | |
| genähtes Stück bezahlt. Bing wechselt nach und nach von Betrieb zu Betrieb, | |
| die Geschäftsführer sind in dem einen freundlicher, im anderen gereizter. | |
| Irgendwann beginnen sich die Bilder zu wiederholen, so wie das monotone | |
| Maschinensurren. | |
| Der Film lässt einen damit ein klein wenig von diesem Alltag erahnen, lässt | |
| andererseits viele Fragen offen. Vor allem die, wie die Arbeitsbedingungen | |
| in den Firmen sind, die für große westliche Textilkonzerne produzieren, | |
| mithin für das, was man hier so kauft. | |
| ## Ein Spiel mit Erwartungen | |
| Von harter Arbeit erzählt auch die Regisseurin Stéphanie di Giusto in ihrem | |
| in der Nebenreihe „Un certain regard“ gezeigten Spielfilm „Rosalie“. In | |
| einem französischen Provinzdorf heiratet im späten 19. Jahrhundert der | |
| verarmte Wirt Abel (Benoît Magimel), vor allem der Mitgift wegen, die junge | |
| Rosalie (Nadia Tereszkiewicz), die aus einem anderen Ort stammt. In Abels | |
| Dorf hat der reiche Fabrikbesitzer Barcelin (Benjamin Biolay) das Sagen und | |
| wacht streng darüber, dass seine Arbeiter sich nicht vergnügen, weshalb | |
| Abels Café so schlecht läuft. | |
| Bald erfährt Abel, dass Rosalie ein Geheimnis trägt: Sie hat starken | |
| Haarwuchs, muss sich im Gesicht rasieren und trägt hochgeschlossene | |
| Kleider, um ihre Eigenart zu verbergen. Abel, von Magimel zugleich | |
| verhärmt, aufbrausend und, später, zärtlich gegeben, ist zunächst entsetzt. | |
| Rosalie reagiert anfangs eingeschüchtert, beginnt irgendwann jedoch, ihren | |
| Bart den Dorfbewohnern zu präsentieren. Auch, um als | |
| Kuriositätenattraktion dem verschuldeten Abel ökonomisch beizuspringen. | |
| Stéphanie di Giusto erzählt im Gewand eines herkömmlichen Kostümfilms von | |
| der sehr gegenwärtigen Frage nach der Eindeutigkeit von Geschlecht und | |
| Identität. Das macht sie mit Witz und Drama und ohne viel Ideologie. Sie | |
| arbeitet vielmehr mit einer Versuchsanordnung: Was passiert, wenn ein Mann | |
| mit einer Frau konfrontiert ist, die sehr anders ist als erwartet? Und ist | |
| es möglich, sich von diesen Erwartungen zu lösen und jemanden zu | |
| akzeptieren, so, wie er oder sie ist? | |
| 19 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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