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# taz.de -- Neues Album des Brasilianers Kassin: Stil auf dem Vulkan
> Der Multiinstrumentalist Kassin aus Rio de Janeiro und sein Werk „Relax“:
> Anatomie eines Lieblingsalbums des zu Ende gehenden Jahres.
Bild: Meisterhafter Arrangeur und Songkomponist: Alexandre Kassin
Nirgends auf der Welt hat Musik eine ähnliche kulturelle Bedeutung wie in
Brasilien. Und kaum irgendwo sonst sind Wohlstand, Landbesitz und
gesellschaftliche Verantwortung ungerechter verteilt. Auf die Fragen, wer
den Saustall angerichtet hat und wie sich die Schieflage beseitigen ließe,
würde man in Brasilien allerdings nur schulterzuckend eingehen. Die Frage
nach der Zuständigkeit für behördliches Versagen und Schlamperei wird mit
bagunça beantwortet.
„Durcheinander“ heißt das im brasilianischen Portugiesisch, ein Wort, das
alles Mögliche entschuldigen kann, persönliche Versäumnisse ebenso wie
desaströsen öffentlichen Nahverkehr, gravierende Umweltverschmutzung oder
endemische Polizeigewalt, wie der New Yorker Autor John Krich in seinem
musikalischen Brasilien-Reisebuch „Why is This Country Dancing“ anschaulich
dargelegt hat.
Fazer bagunça heißt im brasilianischen Kontext eben auch: richtig auf die
Kacke hauen. Genau das tut der Künstler Kassin: „Relax“, das im Frühsommer
2018 erschienene Album des 44-Jährigen aus Rio de Janeiro, macht eine Menge
Radau und ist daher zu meinem diesjährigen Lieblingsalbum geworden, weil
der Popstar und Produzent dabei elegant und formenvielfältig zu Werke geht,
Musikfarben und Textstimmungen konträr stellt und aufeinanderprallen lässt.
## Spiegelbild der Misere
Musikalisch durchziehen „Relax“ eine bemerkenswerte Energie und der Wille,
mit Stil auf dem Vulkan zu tanzen. Auf Textebene ist das Album angelegt
wie eine doppelte Chronik. Zum einem thematisiert der Carioca Alexandre
Kassin, den alle Welt nur bei seinem Nachnamen nennt, in den elf Songs das
Scheitern einer Liebesbeziehung. Im Verlauf dieser Geschichte gerät Kassin
in eine tiefe persönliche Krise. Zum anderen ist „Relax“ Spiegelbild der
gesellschaftlichen Misere Brasiliens.
Kassin geht immer wieder auf die Wechselwirkungen von individueller
Ohnmacht und der Allmacht der politischen Kaste ein; Brasiliens notorisch
korrupte Elite und ihr Patronagesystem haben das Land über Jahrzehnte
ausgesaugt. Die Wahl des rechtspopulistischen Hardliners und Ex-Militärs
Jair Bolsonaro zum Präsidenten ist jüngstes Anzeichen dieses Abschwungs.
In einem der eindringlichsten Songs auf dem Album, „O Anestesista“, wünscht
sich Kassin daher Lachgas, um „von der eigenen bedrückenden Existenz
wegzukommen“, damit er „beschwingt über den Wellen des Hasses schweben“
könne. Seiner supereingängigen Musik gelingt das auch tatsächlich. Ob der
neuen Regierung in Brasilia und der Wahlentscheidung seiner Landsleute gibt
sich Kassin dagegen zerknirscht. Im gravitätisch swingenden Song „A
Paisagem Morta“ bezeichnet er Brasilien als „tote Landschaft“. Sie beginne
„gleich hinter der Wohnung, in der ich lebe“.
## Spuren der Zerstörung
Spuren von Zerstörung, existenzielle Ängste, harmlose Neurosen und ernste
Depressionen kennzeichnen alle elf Songs auf „Relax“. Mal singt Kassin
metaphorisch von „Fenstern und Türen, die schon bessere Zeiten gesehen
haben“, mal heißt es direkt, „Pillen in allen Farben / Eingekapselte
Gefühle / Kontrollieren unsere Launen“, und ein besonders in
Bossa-nova-Seligkeit schwelgender Song namens „Estricnina“ (Strychnin)
fadet, immer langsamer werdend, am bitteren Ende aus. Auf dem Cover ist
Kassin schwarz eingerahmt in einer Fotografie zu sehen. Sein Gesicht
bedecken Streusel, solche, die Eiskugeln zusätzlich versüßen.
Eine Täuschung, weder ist der Sound von Kassin besonders zuckrig, noch
verklärt die Musik von „Relax“ Gefühle zu billigen Emotionen. Im sanft
anschiebenden Auftaktsong „Comprimidos Demais“ (überteuerte Pillen) geht es
um die Wirkung von Stimmungsaufhellern, die ihre Probanten nachhaltig
verändern. „Relax“, der verlockend klingende Titelsong und
Monster-Disco-Groove ist der Hilferuf an einen Freund (Kassins Kollege
Lincoln Olivetti): Ist es Sinn des Lebens, für einen Hungerlohn zu
arbeiten, nur damit man die ganze Woche auf die Erholungspause am
Wochenende wartet?, fragt Kassin darin. „Relax, Relax, Relax“,
unnachahmlich im Jackson-Five-artigen Refrain.
Die Beschwingtheit der Musik meint aber das Gegenteil von Erschöpfung und
Nervenzusammenbruch. Kühl eingespielt und fulminant arrangiert, verbinden
sich Grooves, süffige Melodien und reichhaltige Musiktraditionen zu einer
eingängigen Mixtur. Im Vorbeigehen zitiert Kassin Standards der MPB, wie
etwa Milton Nascimentos Mittsiebzigerhit „Cravo É Canela“, brasilianisiert
aber auch US-Funk- und Discoklassiker mit einem weisen Lächeln.
## Verblasster Glanz
Dass das Bedrohliche und Bedrückte der Lyrics von der Musik gedämpft wird,
verweist wiederum auf Kassins vorangegangenes Soloalbum, „Sonhando Devagar“
(2011), ein Konzeptalbum über Albträume, dessen Cover man nur mit
beigefügter 3-D-Brille anschauen konnte. Es mag auch am „weichen“ Klang des
brasilianischen Portugiesisch klingen und an der leicht schiefen Intonation
von Kassin, der den Gesangslinien seiner Songs immer ein wenig
hinterherbummelt, eine Verzögerungstaktik, die die HörerInnen auf die Palme
bringen kann, wie in „Enquanto Desabo o Mundo“ (Während des
Weltuntergangs).
Es sind die jazzigen Bläserarrangements und Synthesizer-Hooklines, die
einen daran erinnern, was musikalische Raffinesse bedeutet, wenn sie auf
allzu virtuosen Firlefanz und Muckergetöse verzichtet.
Kassin hat seine Karriere an der Seite von Domenico Lancelotti und Moreno
Veloso (dem Sohn von Caetano Veloso) begonnen. Dem Trio gelang unter dem
Projektnamen Plus 2 in den nuller Jahren mit einer Reihe von Alben die
Erneuerung der brasilianischen Popmusik. Inzwischen ist Kassin auch als
Produzent und Arrangeur für KollegInnen eine eingeführte Größe. Mit seinem
nunmehr dritten Soloalbum tritt er endgültig als großer Solist auf den
Plan.
Nicht zuletzt ist „Relax“ auch ein Album über den verblassten Glanz von Rio
de Janeiro als Musikmetropole, der das geschäftstüchtigere São Paulo
inzwischen den Rang abgelaufen hat. Es mag unübersichtlicher sein und
versteckter, irgendwo in den Vierteln Lapa und Botafogo in Rio, aber da
sitzt sie und wartet, dass man sie endlich weltumspannend entdeckt, die
große Popmusik des Alexandre Kassin, die so wirkt wie seine Heimatstadt,
äußerst brutal und entwaffnend freundlich zugleich.
29 Dec 2018
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Rio de Janeiro
Kassin
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