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# taz.de -- Kriegsversehrte in der Ukraine: Vom Feld aufs Feld
> Sie wurden im Krieg schwer verwundet und haben ein Bein verloren, nun
> spielen sie Fußball. Beim ukrainischen FC Pokrowa geht es um mehr als
> Sport.
Bild: Ein Fußballverein für Kriegsversehrte: Spieler des FC Pokrowa in Lwiw b…
Lwiw taz | Bohdan Melnyk fährt jeden Dienstag und jeden Samstag früh am Tag
durch Lwiw. Mit einem Kleinbus sammelt der Trainer des FC Pokrowa seine
Spieler ein. Seit Monaten macht er das schon. [1][Er steuert diverse
Rehabilitationseinrichtungen an, um seine Spieler zum Training abzuholen –
verwundete Soldaten mit amputierten Gliedmaßen.] Für die Veteranen, die ein
Bein verloren haben, gehört der Fußball zum Rehaprogramm. Ziel der
Busfahrt ist ein Fußballplatz auf dem Gelände der Salesianerpatres des
griechisch-katholischen Don-Bosco-Zentrums. Auch der Name des Klubs zeugt
von der christlichen Trägerschaft. Pokrowa ist ein Marienfeiertag in der
Ukraine.
Es regnet in Strömen in Lwiw, bisweilen gehen die Niederschläge über in
nassen Schneefall oder Schneeregen. Auf die Frage, ob er das Training wegen
des schlechten Wetters nicht lieber absagen wolle, antwortet Bohdan Melnyk:
„Gespielt wird bei jedem Wetter. Die Jungs haben ja auch nicht nur
gekämpft, wenn es schön warm war.“ In der Umkleidekabine legen die jungen
Männer ihre Prothesen ab und machen sich auf Krücken auf den Weg zum
Fußballplatz. Alles ist so, wie es eben ist, wenn Fußball gespielt wird:
das Netz mit Bällen, die Trainingsausrüstung, die Witze, eine
Thermoskanne mit Tee und erste Aufwärmübungen.
An diesem Tag ist ein besonderer Gast zum Training gekommen: Juri
Suschtsch, der Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft der
Beinamputierten. Zusammen mit seinem Bruder ist er über 300 Kilometer mit
dem Auto angereist, nur um zwei Stunden mit dem Team des FC Pokrowa zu
trainieren.
Suschtsch hat die ukrainische Nationalmannschaft im Oktober zur
Qualifikation für die EM im kommenden Jahr geführt. Ihm ist es ein großes
Anliegen, die auf dem Platz versammelten Soldaten bei ihren ersten
Schritten im Fußball zu unterstützen. Auf dem Spielfeld fällt sofort auf,
was er kann: Er zieht mit seinen Krücken Spurts an, schießt hart und
präzise aufs Tor. Dann fordert er die anderen auf, es ihm gleichzutun.
## Traumata überwinden
„Sport ist die beste Rehamaßnahme, physisch und psychologisch. Danach
werden sich die Jungs im Leben austoben wollen“, sagt Trainer Melnyk, bevor
das Training richtig losgeht. Seine Schützlinge haben bereits gelernt, wie
man die Krücken auf dem Platz richtig einsetzt, um sich auch bei einem
Zweikampf aufrecht zu halten. Dabei soll nicht das gesunde Bein die
Hauptlast tragen. Wenn man auf Krücken laufe, würde auch die
Rückenmuskulatur stark beansprucht – die Arme sowieso.
Auch aus diesem Grund sei Sport für verwundete Soldaten, die ein Bein
verloren haben, mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Sport könne dabei
helfen, die körperliche Fitness wiederherzustellen und psychische Traumata
zu überwinden. Einer der Fußballer sagt: „Nach der Zeit in der Armee, nach
dem Krieg ist nichts mehr wirklich schwer in unserem Leben.“
Am Rand des Trainingsplatzes gibt es Gelegenheit, die Spieler
kennenzulernen. Walentyn Osowsky etwa. Er stammt aus Lwiw. Vor dem Krieg
spielte er als Amateur Fußball in einem Klub. Bei schweren Gefechten um die
Kleinstadt Kreminna in der Region Luhansk hat er sein Bein verloren. Als
man ihm angeboten hat, aufs Spielfeld zurückzukehren, habe er sich einfach
nur gefreut. „Einige von uns haben sportliche Ambitionen“, sagt er. „Ande…
wollen einfach nur Kontakte knüpfen. Und uns allen geht es um eine gute
körperliche Fitness.“
Und das Fußballspielen auf Krücken? „Im Spiel selbst werden wir immer
wieder an unsere Verwundung erinnert – jedes Mal, wenn ein Ball unter den
falschen Bein durchgeht. Daran müssen wir arbeiten“, sagt Osowsky.
## Aufwachen im Krankenhaus
Neben ihm steht Iwan Terlezki. Er stammt aus Kolomyia bei Iwano-Frankiwsk
in der Westukraine. Er war bei den Gebirgsjägern der Brigade „Edelweiß“,
die wegen ihrer Erfolge von Präsident Wolodimir Selenski diesen durchaus
umstrittenen Ehrennamen erhalten hat. Während eines Angriffs wurde er durch
eine Landmine verwundet. Als er im Krankenhaus von Dnipro aufwachte, fehlte
ihm ein Bein. Zurzeit lebt er in einer Reha-Einrichtung in der Nähe von
Lwiw. Dort lernt er, mit seiner neuen Prothese zu gehen. Erst vor kurzem
hat er mit dem Fußballspielen angefangen.
Die Trainingseinheit beginnt. Auf die Aufwärmübungen folgt
Torschusstraining. Den Gesichtern der Spieler ist anzusehen, dass Fußball
für sie mehr als eine reine Rehabilitationsmaßnahme ist. Sie zeigen
Emotionen, die so wichtig sind gerade für Soldaten, die aus dem Krieg
zurückgekehrt sind. Auf einem Bein absolvieren sie die komplizierten
Übungen.
Trainer Melnyk hat es geschafft, 14 beinamputierte Spieler für seine
Mannschaft zu gewinnen. Sie wollen bei der ukrainischen Meisterschaft der
beinamputierten Spieler mitmachen. Im Ausland zu spielen, ja, das wäre
etwas. Doch das ist schwierig. Auch ehemalige Militärangehörige dürfen die
Ukraine meist nicht verlassen.
Doch es geht nicht allein um Sport. Bohdan Melnyk erklärt, wie wichtig es
ist, die Verwundeten zu ermutigen, für sich selbst mit dem Training zu
beginnen. Ihr Beispiel könne andere motivieren, aus den Mauern der
Krankenhäuser auszubrechen und ein weitgehend normales Leben zu führen –
wenn auch mit einer schweren Verletzung.
Auch Konstantin Kaschula gehört zu seiner Mannschaft. Er stammt aus
Transkarpatien im äußersten Westen der Ukraine. Gedient hat er in der 5.
separaten Angriffsbrigade und ist an den am heftigsten umkämpften Orten des
Krieges gegen die russischen Okkupanten eingesetzt worden. [2][Im Februar
wurde er in der Nähe von Bachmut] von einem Schrapnell getroffen und verlor
ein Bein.
Jetzt ist Kaschula Kapitän des FC Pokrowa und hat es auch schon in die
ukrainische Nationalmannschaft geschafft. Er ist Melnyks wichtigster
Helfer, wenn es darum geht, beinamputierte Soldaten an den Fußball
heranzuführen. Kostja, wie er genannt wird, ist im Training omnipräsent. Er
strotzt nur so vor Energie und Optimismus, hat immer einen Scherz auf den
Lippen.
„Ich möchte, dass noch mehr Jungs mitmachen“, sagt er, „denn ein Bein zu
verlieren, bedeutet nicht, das Leben zu verlieren. Man kann mit einer
Prothese leben und auch nach einer Amputation weiter Sport treiben.“ Sein
Traum ist es, mit der ukrainischen Nationalmannschaft an den [3][Invictus
Games teilzunehmen. Die Sportspiele für Soldaten, die im Einsatz verwundet
worden sind], finden 2024 in Las Vegas statt.
Endlich ist das Aufwärmen vorbei, und die Spieler werden in zwei Teams
aufgeteilt. Ein wenig abseits des Spielfelds steht ein Mann in der Uniform
der Armee. Es ist Marjan Tratsch. Die Ärzte haben ihm vom Spielen
abgeraten. Sein Bein schmerzt an der Amputationsstelle. Trainer Melnyk
schnappt sich seine Krücken und müht sich damit über den Platz. Man solle
gefälligst nicht über ihn lachen, scherzt er.
## Lernen, den Ball zu stoppen
Tratsch erklärt derweil, dass Schmerzen am Stumpf ein häufiges Problem
sind. „Mit der Zeit sammelt sich Flüssigkeit an, die Nervenzellen wachsen
nach.“ Warum er an diesem Tag trotzdem gekommen ist? „Ich konnte einfach
nicht im Krankenhaus bleiben. Ich möchte beim Training dabei sein. Wenn ich
nicht spielen kann, dann feuere ich die Jungs eben an.“
Vor dem Krieg spielte er für den Dorfklub in dem Ort, aus dem er stammt.
Er war einer der ersten Spieler des FC Pokrowa. Vor der Verletzung war
Marjan Tratsch Rechtsfuß. Den hat er verloren. Jetzt muss er mit dem linken
Bein zurechtkommen. „In den ersten Trainingseinheiten haben wir eigentlich
nur gelernt, den Ball mit dem falschen Fuß zu stoppen.“ Es sei schwer, sich
psychologisch darauf einzustellen.
Das Trainingsspiel läuft. Schnell werden die Regeln klar. Das Schlagen des
Balls mit der Krücke ist nicht erlaubt. Es wird geahndet wie das Handspiel
beim Fußball der Menschen ohne Beeinträchtigung. Es wird gedribbelt,
schnelle Pässe werden geschlagen, es wird gepresst. Oft werden lange Pässe
geschlagen – so kommt der Ball schneller vors Tor.
Die Emotionen kochen hoch auf dem Spielfeld. Schließlich gelingt einer
Mannschaft ein Tor. Es wird gejubelt, indem die Spieler ihre Krücken
aneinander schlagen. So ist es Sitte beim Fußball der Beinamputierten. Nach
dem Schlusspfiff reckt einer die Arme mit den Krücken in die Höhe. Andere
stützen sich vor Müdigkeit auf.
Es regnet immer noch in Strömen, das Spielfeld wird vom Flutlicht
beleuchtet. Die Spieler versammeln sich zum Energiekreis. „Ruhm der
Ukraine! Ruhm den Helden!“, schallt es übers Feld. Trainer Melnyk bedankt
sich für das gute Spiel, und Ehrengast Suschtsch fordert alle auf, eine
Karriere als Nationalspieler anzustreben.S A
Aus dem Russischen: Andreas Rüttenauer
10 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Juri Konkewitsch
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