| # taz.de -- Kliniken in der Ukraine: „Superhumans“ und „Unbroken“ im Ei… | |
| > Viele Soldaten haben schwere Kriegsverletzungen erlitten. In zwei | |
| > Reha-Einrichtungen lernen sie, damit umzugehen. Aber dort gibt es nur | |
| > wenige Plätze. | |
| Bild: Der Unternehmer Mykola Petrenko aus Kyjiw hat im Krieg ein Bein verloren | |
| Lwiw taz | Die Bässe aus einer Musikbox am Springbrunnen vor der Oper im | |
| Stadtzentrum von Lwiw dröhnen über den ganzen Platz. Eine Gruppe junger | |
| Frauen tanzt zu den Klängen der Musik. Aus der Oper strömen Menschen, die | |
| eine der unzähligen Ausstellungen besucht haben. Die Stimmung ist fröhlich. | |
| Vor dem Rathaus sitzt Irina Kulinich, stellvertretende Bürgermeisterin der | |
| Stadt, auf einer Bank unter einer Linde in der vorabendlichen Sonne. Neben | |
| der Bank hängen unzählige Schlösser am Baum. Schlösser von Verliebten. „I… | |
| hätte noch vor drei Jahren nicht geglaubt, dass ich mal hier auf dieser | |
| Bank in Ruhe werde sitzen können,“ beginnt Irina Kulinich das Gespräch. | |
| „Noch 2021 sind die Touristinnen buchstäblich Schlange gestanden, alle | |
| wollten sie einmal hier sitzen unter der Linde neben den Schlössern.“ | |
| Doch nun seien deutlich weniger Touristen in der Stadt und Lwiw sei nicht | |
| mehr das, was es mal gewesen sei, ergänzt sie. „Es mag sein, dass die Stadt | |
| auf den ersten Blick wirkt wie immer. Das Leben geht weiter. Aber hier gibt | |
| es keine Familie, die nicht irgendwie vom Krieg berührt worden ist“, sagt | |
| Irina. | |
| Einige hätten ihre Verwandten an der Front verloren, andere wiederum | |
| kümmerten sich um ihre Verletzten. Wieder andere bangten um Angehörige, die | |
| in Gefangenschaft seien. „Gehen Sie nur mal auf das Marsfeld, den großen | |
| Friedhof. Nirgends sehen Sie so viele ukrainische Fahnen wie dort.“ | |
| ## Zwei Kliniken für Kriegsverletzte | |
| Es sind vor allem zwei Krankenhäuser in Lwiw, in denen kriegsversehrte | |
| Soldaten behandelt werden: [1][Die im April 2023 eröffnete Klinik | |
| „Superhumans“] und [2][das im Juni 2022 eröffnete Zentrum „Unbroken“],… | |
| im Krankenhaus der First Lviv Territorial Medical Union St. Pantaleon | |
| angesiedelt ist. | |
| Geduldig sitzen Männer auf einer Bank in der Lobby des | |
| Superhumans-Zentrums, trinken in Ruhe ihren Kaffee und beobachten die | |
| Tischtennisplatte. Auf dieser hüpft der Ball von der einen Seite auf die | |
| andere. Fast allen Männer in diesem Raum ist eines gemeinsam: sie haben nur | |
| noch ein Bein. | |
| Eine Etage höher ist ein Bassin. Hier schwimmt ein Mann, der beide Beine | |
| verloren hat. Im hauseigenen Fitnessclub stemmt ein sportlicher junger Mann | |
| Gewichte. Sein rechtes Bein ist aus Titan. | |
| Nebenan ein Saal, der an eine Turnhalle erinnert. Tatsächlich ist es ein | |
| Gehzentrum, aufgeregt steht ein junger Mann an einem Gehbarren. Ein | |
| Therapeut legt ihm ein Band um den Körper. Mit ganz langsamen | |
| Trippelschritten bewegt er sich vorwärts. | |
| ## Beinprothesen sind Glücksache | |
| Knapp einen Meter hinter ihm geht eine Frau. Sie lässt ihn nicht aus den | |
| Augen, beobachtet jede seiner Bewegungen. Würde er fallen, hätte sie | |
| genügend Zeit, um ihn festzuhalten. Er fällt aber nicht, er kämpft, müht | |
| sich den Barren entlang ganz bis zum Ende. Anschließend geht er die zehn | |
| Meter wieder zurück. Er lacht. Die ersten Schritte in seinem neuen Leben | |
| waren erfolgreich, darüber freut er sich. | |
| Er kann sich noch aus einem anderen Grund glücklich schätzen. Denn er ist | |
| einer von wenigen Auserwählten, die in den Genuss einer Beinprothese | |
| kommen. Der Bedarf ist groß, aber die Möglichkeiten zu helfen sind gering. | |
| Über 40.000 Ukrainer brauchen Prothesen, schätzt Andrij Ischtschyk, | |
| Pressesprecher von Superhumans gegenüber der taz. Doch nur 70 Patienten pro | |
| Monat könne man in seiner Klinik behandeln. Aktuell habe man eine | |
| Warteliste von 2.000 Patienten. | |
| Eines der Kriterien, nach denen entschieden wird, ob ein Mann in | |
| Superhumans aufgenommen wird, ist das Ergebnis eines Erstgespräches in der | |
| Klinik. Je höher die Erfolgsaussichten, umso wahrscheinlicher ist eine | |
| zeitnahe Aufnahme. Die Erfolgsaussichten hängen in hohen Maße von der | |
| Motivation eines Betreffenden ab. | |
| Noch gut erinnere er sich an einen Mann, erzählt Ischtschyk, der in gerade | |
| einmal zwei Wochen habe „vertikalisiert“ werden können. Der Grund der | |
| schnellen Anpassung an die Beinprothese: seine Frau war schwanger und er | |
| hatte ihr versprochen, dass er das Kind stehend in seinem Arm halten werde. | |
| Dieser Fall, so Ischtschyk, zeige, wie wichtig die psychologische | |
| Begleitung der Patienten sei. Daher haben alle Patienten regelmäßig | |
| Therapie. | |
| ## Wichtiges Ziel: gesellschaftliche Wiedereingliederung | |
| Auf der Dachterrasse des Unbroken-Zentrums werden Yoga-Kurse angeboten, | |
| professionelle Berufsberater helfen den Patienten bei der | |
| Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ein lautes Hämmern, das man im | |
| ganzen Gang hören kann, kündigt einige Etagen tiefer eine Werkstatt an. | |
| Das Hämmern kommt von Oxana Lekhniak, Spezialistin für die Herstellung von | |
| provisorischen Prothesen. „Ich fertige gerade eine solche Prothese an“, | |
| sagt sie und legt für einen Augenblick das Werkzeug zur Seite. „Das erste, | |
| was ich dafür mache, ist sorgfältig Maß zu nehmen. Jeder Fall ist | |
| einzigartig.“ Jede Prothese werde individuell angefertigt. Hierfür müsse | |
| man genau wissen, in welchem Zustand sich der Patient befinde und wie seine | |
| Amputation verlaufen sei. Erst wenn die provisorische Prothese angepasst | |
| und getestet worden sei, werde die endgültige Prothese angefertigt. | |
| „Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der | |
| Funktionsfähigkeit der Gliedmaßen. In unserer Werkstatt verfügen wir über | |
| einen 3D-Drucker, mit dem wir Stumpfprothesen aus Polypropylen drucken | |
| können. Dies vereinfacht den Herstellungsprozess erheblich und | |
| gewährleistet eine hohe Präzision, was sich positiv auf den Komfort und die | |
| Wirksamkeit der Prothesen auswirkt,“ so Oxana Lekhniak. | |
| ## Hohe Zufriedenheit mit der Klinik | |
| Mykola Petrenko (49) ist ein kleiner Bauunternehmer in der ukrainischen | |
| Hauptstadt Kyjiw. Der Vater eines 13- und eines 18-jährigen Sohnes hat | |
| aktuell elf Angestellte. Vor dem Krieg habe er noch 36 Angestellte gehabt, | |
| berichtet er. Doch dann wurde er 2024 in den Krieg einberufen. Am 19. Juni | |
| wurde er so schwer am linken Bein verletzt, dass es amputiert werden | |
| musste. | |
| Bis Ende August habe er in Lwiw auf der Intensivstation der Klinik des | |
| Heiligen Lukas gelegen. Dann sei er zu Unbroken verlegt worden. „Wenn ich | |
| meine Zufriedenheit mit der Klinik Unbroken auf einer Skala von 1 bis 10 | |
| beschreiben müsste, würde ich der Klinik 10 Punkte geben“. | |
| Seine Ansprechpartnerin sei Frau Dr. Wasiliewna. Wenn er irgendein Problem | |
| habe, sei sie sofort zur Stelle – je nachdem, was er brauche, gehe alles | |
| schnell. Die Versorgung sei sehr gut, die Behandlung hervorragend, das | |
| Personal und die Ärzte seien einfach wunderbar, erzählt er mit leuchtenden | |
| Augen. | |
| Die angebotene psychologische Hilfe habe er nicht angenommen – er fühle | |
| sich stark genug. Auch die Beratung zur Wiedereingliederung in das | |
| Berufsleben brauche er nicht. Er werde wieder in sein Geschäft einsteigen, | |
| das er bei seiner Abreise in den Krieg seiner Frau übertragen habe. Und | |
| dort werde er das machen, was er auch früher gemacht hatte: Kundengespräche | |
| führen. Die Firma will er voranbringen, wenn er wieder in Kyjiw ist. Doch | |
| bis dahin wird es noch eine Weile dauern. Noch sei er bei Unbroken. Mykola | |
| hofft, im Oktober nach Hause gehen zu können. | |
| ## Zur Ausbildung nach Deutschland | |
| Während Unbroken ein Projekt der Stadt Lwiw ist, finanziert sich die | |
| Privatklinik Superhumans ausschließlich aus privaten Spenden. Sehr viel | |
| Unterstützung erhalten beide auch aus dem Ausland. Ein Partner von | |
| Superhumans und Unbroken ist der im deutschen Duderstadt ansässige | |
| Prothesenhersteller Ottobock. | |
| In Deutschland gebe es 5.000 Prothesentechniker, berichtete der NDR. „Das | |
| ist eine Zahl, von der wir nur träumen können“ kommentiert Andrij | |
| Ischtschyk von Superhumans diese Information. In der Ukraine gebe es leider | |
| viel viel weniger Prothesentechniker“, erklärt er. | |
| „In unserer Klinik Superhumans gibt es drei Prothesentechniker für die | |
| Hände und sieben für die Beine.“ Aktuell bessere sich jedoch die Situation, | |
| so Ischtschyk. „Die deutsche Firma Ottobock und viele andere Firmen im | |
| Ausland bilden ukrainische Prothesentechniker aus. Und seit kurzem bieten | |
| zwei Universitäten hier in Lwiw Lehrgänge für angehende Prothesentechniker | |
| an.“ | |
| In enger Kooperation mit internationalen Hilfsorganisationen wie dem Roten | |
| Kreuz und Malteser International hat Ottobock mobile Werkstattcontainer in | |
| Lwiw und Kyjiw sowie an Krankenhäuser angeschlossene Orthopädiewerkstätten | |
| in der Ukraine mit aufgebaut. | |
| ## Chirurgen aus Frankreich | |
| Ein weiterer Bereich des Superhumans-Zentrums ist die rekonstruktive | |
| Chirurgie. Dabei geht es um die Wiederherstellung des normalen Aussehens | |
| und der Funktion von Körperteilen. Bei „Superhumans“, in dessen | |
| Aufsichtsrat unter anderem auch Präsidentengattin Elena Selenska und | |
| Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko sitzen, sind französische Ärzte im | |
| Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsministerien der Ukraine | |
| und Frankreichs auch vor Ort tätig. Die Franzosen, so Ischtschyk, kämen | |
| regelmäßig, sie untersuchten die Patienten und führen vor allem | |
| Gesichtsoperationen durch. | |
| Irgendwann am späten Nachmittag verlässt ein Mann in Shorts hastig das | |
| Zentrum Unbroken. Er hat es eilig, will schnell zu seinem Taxi. Nur wenigen | |
| fällt auf, dass er ein künstliches Bein hat. Einfach ist es nicht mit der | |
| Barrierefreiheit in der Ukraine. Auf vielen Bahnhöfen gibt es weder | |
| Rolltreppen, Rollstühle noch Aufzüge. Doch die wachsende Zahl von | |
| Kriegsversehrten wird zu einem Umdenken in dieser Frage führen müssen. | |
| Die Recherchen für diesen Beitrag wurden durch ein Programm der | |
| Europäischen Union ermöglicht. | |
| 9 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://superhumans.com/ | |
| [2] https://unbroken.org.ua | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
| Grigori Pyrlik | |
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