# taz.de -- Hilfe für ukrainische Versehrte: Auf neuen Beinen stehen | |
> Der niedersächsische Prothesenhersteller Ottobock schult ukrainische | |
> Orthopädietechniker. Der Krieg lässt sich dabei nicht aussperren. Ein | |
> Besuch vor Ort. | |
Bild: Ukrainische Orthopädietechniker bei einer Schulung in Duderstadt | |
Ist eine Prothese politisch? Oder ist sie doch nur ein Schaft mit Gelenken, | |
der es Menschen ermöglicht, wieder eine Treppe hinunterzugehen? Der Krieg | |
bleibe draußen, sagen die Mitarbeiter von [1][Ottobock in Duderstadt] sehr | |
entschieden. Im Keller der Firmenzentrale sitzen gerade elf ukrainische | |
Orthopädietechniker an Laptops und schreiben ihren letzten Test, um künftig | |
die Hüft-Ex-Prothese von Ottobock anpassen zu dürfen. Aber der Krieg lässt | |
sich nicht aussperren. | |
Die Firma Ottobock ist ein altes Familienunternehmen und heute | |
Weltmarktführer in Sachen Prothesen. In Duderstadt liegt die Zentrale mit | |
wehenden Fahnen vor dem Tor und einem eigenen Ausbildungscampus. Es gibt | |
Fertigungshallen, in denen High-Tech-Prothesen hergestellt werden, die so | |
viel wie ein kleines Haus kosten, aber etwa auch die neue, verhältnismäßig | |
einfache Armprothese „Skeo up daily assist“: In nur 19 Wochen hätten sie | |
die entwickelt, sagt der Mitarbeiter stolz, der durch die Halle führt. | |
Damit haben die Anwender eine Prothese, die sich schnell anpassen lässt und | |
wasserfest ist: Das bedeutet, dass sie sich wieder selbst das Gesicht | |
waschen oder die Zähne putzen können. | |
„Anwender“ sagen hier alle, weil die Menschen, die Prothesen brauchen, | |
nicht krank sind. Die Anwender, die Ottobock bei der Entwicklung von „Skeo | |
up daily assist“ im Blick hatte, sind Soldaten und Menschen in | |
Krisengebieten. Krieg ist gut fürs Prothesengeschäft. Seit Kriegsbeginn ist | |
die Anzahl der Anfragen aus der Ukraine um 30 Prozent gestiegen. | |
Und so ist es natürlich auch ein gutes Geschäft für Ottobock, ukrainische | |
Orthopädietechniker so zu schulen, dass sie die hauseigenen Prothesen vor | |
Ort anpassen können. Die Männer an den Tischen des Schulungsraums sehen | |
müde aus. Zu Beginn der Schulungen haben oft die Luftalarm-Apps geklingelt, | |
inzwischen werden sie rechtzeitig ausgeschaltet. Dass von den zwölf | |
Angemeldeten zehn da sind, ist ungewöhnlich. Es gibt Kurse, bei denen 75 | |
Prozent der Männer fehlen, weil sie an der Grenze zurückgeschickt werden: | |
Orthopädietechniker sind zwar Mangelware in der Ukraine, Soldaten aber | |
auch. | |
Auf den Tischen liegen ein paar der Interimsschafte, die sie aus Kunstharz | |
gezogen haben. Wie durchsichtige dreidimensionale Unterhosen sehen die aus, | |
die Techniker haben mit Edding markiert, wo noch nachgebessert werden muss. | |
Ein Schaft, der nicht richtig sitzt, ist eine Qual für die Anwender. Ihr | |
Modell heute, der Probeanwender, ist ein schmaler Mann mit blondiertem Haar | |
und Beinprothese. Er sitzt wartend auf einem Stuhl. „I need your leg“, sagt | |
einer der ukrainischen Techniker zu ihm. Der Probeanwender hatte vor | |
Jahrzehnten einen Straßenbahnunfall und danach eine „Hüft-Ex“, so sagen d… | |
Orthopädietechniker von Ottobock. Hüft-Ex steht für Hüftexartikulation, | |
die Amputation eines ganzen Beines im Hüftgelenk. „Die Prothese ist mein | |
Zuhause“, sagt der Probeanwender. Die Aufwandsentschädigung kann er gut | |
gebrauchen für seinen kleinen Sohn. | |
„Bei uns gibt es Hüft-Ex kaum noch, seitdem die Früherkennung von | |
Knochenkrebs so gut ist“, sagt Frederik Thiede, der | |
Orthopädietechnikermeister, der den Kurs leitet. Ein ruhiger Mann, bei dem | |
man jenes Arbeitsethos vermutet, von dem später die Rede sein wird: eine | |
Präzision, von der die Anwender profitieren. Weil sie über Schmerz oder | |
Nichtschmerz bei den Anwendern entscheidet. | |
## Orthopädietechniker fehlen | |
Auf Prothesen zu gehen muss man lernen und das ist hart. „Viele sind | |
demotiviert nach der Verletzung“, sagt Anatoli Tirik, der als Area Manager | |
auch für die Ukraine zuständig ist, und klingt ein bisschen wie ein Lehrer, | |
der mehr erwartet. Tirik wird euphorisch, als er von Heinrich Popov | |
erzählt, dem Paralympic-Weltmeister, der in die Ukraine gereist ist und | |
frühere Soldaten bei den „talent days“ trainiert hat. Was für eine Kraft | |
Popov ausgestrahlt habe, sagt Tirik voller Respekt. | |
Was nicht fehlt in der Ukraine: Geld für Prothesen. Der Erstattungsanteil | |
sei höher als etwa in Polen, sagt Tirik. Es fehle auch nicht an den | |
neuesten Maschinen, um sie zu bearbeiten. Die liefert Ottobock. Es fehlen | |
Orthopädietechniker, Frauen gibt es kaum, und eine geregelte Ausbildung. | |
Bislang lernen die Neuen bei den Alten – und dabei, so erzählt einer der | |
Kursteilnehmer –, übernähmen sie die alten Fehler gleich mit. Ihre | |
Wartelisten sind lang. | |
Der Krieg verändert sich und damit die Verletzungen. Zu Beginn, sagt Tirik, | |
habe es vor allem Bedarf an Armprothesen gegeben, weil die Soldaten in | |
Schützengräben kämpften. Jetzt seien es mehr Beinverletzungen. Die würden | |
abgebunden, damit die Verletzten nicht verbluteten. Und weil die Wege bis | |
zu den Amputationschirurgen lang sei, sterbe das Gewebe ab. Daher gebe es | |
viele sehr kurze Stümpfe. „Es sind keine Mediziner, die da abbinden“, sagt | |
Tirik. | |
Tiriks Vater stammt aus der Ukraine, er selbst ist in Kasachstan | |
aufgewachsen. Ottobock hat seit Kriegsausbruch seine Aktivitäten in | |
Russland reduziert, aber nicht eingestellt. Man sei nur noch an vier statt | |
wie bislang sieben Standorten aktiv, sagt eine Sprecherin des Unternehmens. | |
Der Anteil des russischen und ukrainischen Marktes gemeinsam habe gerade | |
mal einen kleinen einstelligen Anteil am Gesamtumsatz. Und zudem: In | |
Russland gehe es ausschließlich um die Versorgung der Zivilbevölkerung. | |
„Wir nehmen nicht an militärischen Ausschreibungen teil.“ | |
Gerade ist im Manager-Magazin ein Text erschienen, der bei Ottobock für | |
wenig Freude gesorgt haben wird, nachdem es zuletzt Schlagzeilen um die | |
Kündigung eines Betriebsratsmitglieds gab. Der Autor zweifelt an einer | |
Lieferbeschränkung auf die zivile Bevölkerung: Einige Handelsrouten in | |
Russland seien erst nach dem Angriff auf die Ukraine etabliert worden, | |
zudem in Regionen, in denen zuletzt verstärkt Soldaten rekrutiert worden | |
seien. „Wir haben eine klare Guidance“, sagt die Sprecherin von Ottobock | |
dazu. „Wir liefern nicht an sanktionierte Unternehmen.“ | |
## Deutsche Präzision | |
Man bräuchte mehr Mut, um die ukrainischen Orthopädietechniker zu fragen, | |
ob sie es in Ordnung finden, dass ihr Prothesenhersteller auch russische | |
Amputierte versorgt. Stattdessen frage ich einen von ihnen, was er sich vom | |
Training verspricht. „Deutsche Präzision“, sagt er und es ist nicht | |
herauszuhören, ob da Ironie mitschwingt. Ist die deutsche Präzision nicht | |
ein Klischee? „Ich habe es mit Leben gefüllt gefunden“, sagt er. „Man | |
arbeitet genau. Es geht hier nicht darum, wie man es will, sondern wie es | |
sein soll.“ | |
Der Techniker war früher Unfallchirurg, kurz vor Ausbruch des Krieges hat | |
er umgesattelt. „Es war schon lange mein Hobby“, sagt er. „Ich binde nicht | |
nur zusammen wie bei der Chirurgie, sondern erschaffe etwas Neues.“ Später | |
wird ein Mitarbeiter von Ottobock anmerken, dass ein Orthopädietechniker in | |
der Ukraine derzeit mehr verdient als ein Arzt. | |
Und noch eine Frage, die unwirklich wirkt in der Lounge von Ottobock mit | |
dem großen Bildschirm an der Wand und den jungen Mitarbeitenden, die aus | |
einem Werbefilm stammen könnten: Sind Prothesen Alltag geworden in der | |
Ukraine? Und macht es das leichter für diejenigen, die ihre Arme oder Beine | |
verloren haben? Der Techniker zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt | |
einen rosafarbenen Minni-Mouse-Aufkleber. Die Anwender klebten so etwas auf | |
den Schaft sagt er, außer denen, die älter als 60 sind, die wollten die | |
Prothesen verbergen. | |
4 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ottobock.com/de-de/unternehmen/ueber-ottobock-oba | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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