# taz.de -- Arzt über Kriegsversehrte in der Ukraine: „Massenhafte Langzeit-… | |
> Der Mediziner Tankred Stöbe leitete den Einsatz von Ärzte ohne Grenzen in | |
> der Ukraine. Er erklärt, wie wichtig frühzeitige Traumatherapie ist. | |
Bild: Frühzeitige Therapie ist wichtig bei Traumata: Kriegsversehrte Soldaten … | |
taz: Herr Stöbe, Sie waren viele Monate als Koordinator für medizinische | |
Projekte in der Ukraine. Wie ist die Lage dort? | |
Tankred Stöbe: Weiter weg von der Front nimmt man nur wenig vom Krieg wahr. | |
Näher dran ist es umso brutaler. Es gibt Schwerstverletzte, Dutzende, teils | |
Hunderte Tote jeden Tag. Was diesen Krieg so besonders macht, ist, dass es | |
keine konkreten Opferzahlen gibt. Ich habe das selten so erlebt. Die letzte | |
seriöse Schätzung zur Ukraine ging von insgesamt etwa 500.000 Toten und | |
Schwerverletzten auf beiden Seiten aus. | |
Ist das realistisch? | |
Ja. Diese Opferzahlen hatten etwa die Amerikaner im Vietnam-Krieg, der | |
dauerte 20 Jahre. Und es sind genauso viele wie in zehn Jahre Syrien-Krieg. | |
Was genau können Sie in einer solchen Lage tun? | |
[1][Zehntausende Menschen, die an der Front leben, wollen nicht weg]. | |
Dieses Phänomen gibt es auch in anderen Krisengebieten, das ist schwer | |
erklärbar. Das Militär würde die Dörfer gerne räumen, aber sie dürfen die | |
Menschen nicht physisch wegtragen. Eine Lösung dafür gibt es bisher nicht. | |
Es gibt ein Dekret von Selenskyj, dass Altenheime evakuiert werden müssen. | |
Wir versuchten, dabei zu helfen. Aber einige der Bewohner sagen bei klarem | |
Bewusstsein: [2][Ich will hier bleiben, auch wenn es mein Leben kostet]. | |
Das ist für uns eine neue Aufgabe – in den anderen Ländern, wo wir | |
arbeiten, gibt es keine Altenheime. Insgesamt ist die Lage in der Ukraine | |
für uns Neuland. | |
Warum? | |
Eine vergleichbare medizinische Versorgungsbasis gibt es in sonstigen | |
Krisenländern selten. Die normale Gesundheitsstruktur in der Ukraine ist | |
nicht schlecht, es gibt Dorfkrankenschwestern, einen Verbund von Arztnetzen | |
noch aus Sowjetzeiten, der gut funktioniert. Die Kriegschirurgie ist ein | |
Kriegsgeheimnis, abgeschottet vom Militär, das durch die hohe Anzahl an | |
Schwerverletzten Erfahrungen in massivem Ausmaß gesammelt hat. | |
Das klingt, als ob es ihre Arbeit erleichtert. | |
Es stellt uns vor ganz neue Aufgaben, die wir in keinem anderen Konflikt so | |
hatten. | |
Welche sind das? | |
Angesichts der enormen Zahl an Schwerverletzten, die im Land chirurgisch | |
versorgt werden, muss die Qualität der Nachsorge angepasst werden – für | |
Zehntausende. Ansonsten entsteht massenhafte Langzeit-Invalidität, die die | |
Gesellschaft auf Jahrzehnte belasten würde. Das zu verhindern ist unser | |
Ziel. | |
Wie geht das? | |
Man weiß heute genau, dass frisch Verwundete spätestens nach einer Woche | |
physiotherapeutisch behandelt werden müssen. Sonst beginnen die Gelenke zu | |
versteifen und Muskeln bilden sich zurück. Geht man nicht sofort und | |
konzentriert dagegen vor, bleiben auf ewig Einschränkungen. | |
Das wird in der Ukraine aber normalerweise nicht gemacht. Die alten | |
Methoden, noch aus den sowjetischen Sanatorien, die reichen einfach nicht | |
mehr. Verletzte kommen erst Wochen oder Monate nach der Operation ins | |
Sanatorium, da gibt es dann ein bisschen Massage und Wassertreten. Das ist | |
zu spät und zu unspezifisch. | |
Für uns heißt das, mit den ukrainischen Kolleg:innen Wissenstransfer zu | |
machen. Den Kliniken wird langsam bewusst, dass es diese wichtigen | |
Komponenten nach der kriegschirurgischen Phase gibt, sie benötigen mehr | |
Platz und Personal. | |
Wo kriegt man dieses Personal her? | |
Das Land braucht modern ausgebildete ukrainische Psycholog:innen und | |
Physiotherapeut:innen, davon gibt es zu wenige. In der Ukraine sind derzeit | |
640 Spezialist:innen für uns tätig, 570 davon Ukrainer:innen. Im Laufe | |
der Monate konnten wir immer mehr internationales durch ukrainisches | |
Personal ersetzen. | |
Wie gehen die Menschen mit psychischen Traumata um? | |
Ich war in vielen Krankenhäusern und habe mit Dutzenden Schwerverletzten | |
gesprochen. Die meisten hatten Alpträume, Flashbacks, Nervosität, | |
Angstmomente. Die Verwundeten geben das mittlerweile öfter zu und nehmen | |
Hilfe an. Aber im selben Atemzug sagen sie auch: Der Familie kann ich das | |
nicht sagen. In der Gesellschaft noch weniger. | |
Wie gehen die Kliniken damit um? | |
Mental Health spielte letztes Jahr noch keine große Rolle. Es gab lange | |
wenig Verständnis und Bereitschaft, das ernst zu nehmen. Ich war in einem | |
großen Psychiatrie-Krankenhaus nahe der Front mit 600 Betten und [3][vielen | |
seelisch Kriegsversehrten]. Die erhalten dort ausschließlich | |
Psychopharmaka, keine Gesprächstherapie. Das reicht nicht. Morgens kriegen | |
sie Pillen und dann liegen sie im Bett und warten auf den nächsten Tag. Es | |
gibt noch wenig Bewusstsein, dass da etwas fehlt. Sie sind froh, dass sie | |
genügend Betten haben. | |
Welche Folgen hat das für die Betroffenen? | |
Bei denen, mit denen ich gesprochen habe, unterscheiden die sich stark: | |
Einige waren völlig gebrochen, depressiv, hatten Angst, wieder kämpfen zu | |
müssen, das war eine Minderheit. Einige haben sich gar nichts anmerken | |
lassen. Und die dritte Kategorie wollte sofort wieder an die Front. | |
Freiwillig? | |
Teils, teils. Da gib es einen intrinsischen Willen, etwas für das Land zu | |
tun. Aber auch der Druck im Militär ist groß. [4][Wer irgendwie einsetzbar | |
ist, muss wieder in den Einsatz] und kriegt sonst kein Geld mehr. Das ist | |
nicht nur militärisches Heldentum, sondern auch eine Drucksituation. | |
Werden Sie als Deutscher gefragt, warum nicht mehr Waffen geliefert werden? | |
Ich hatte die Frage erwartet, sie kam aber im medizinischen Alltag nicht | |
vor. | |
Sie werden als Helfer also akzeptiert? | |
Ja, aber man muss wirklich jeden Tag vor Ort präsent sein und gute Arbeit | |
leisten. Die wollen kein Geschwafel, die wollen praktische Zusammenarbeit. | |
Dann kann man auch komplexere Projekte zusammen stemmen. In Cherson etwa | |
haben wir einen Klinik-Bunker renoviert. Wir haben die lokalen Baufirmen | |
bezahlt, aber auch die konkrete Planung gemacht. Nun kann man die Klinik | |
dort im Untergrund weiter betreiben. Im gleichen Krankenhaus war vorher bei | |
einer OP ein Chirurg durch ein Geschoss getötet worden. Die Warn-App bringt | |
in solchen Fällen nichts, weil die Raketen viel zu schnell einschlagen. | |
26 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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