# taz.de -- Rehabilitation in der Ukraine: Im Krieg wieder laufen lernen | |
> In einer Klinik in der Westukraine arbeiten Therapeuten mit schwer | |
> verletzten Soldaten. Einer der Helfer kommt aus Nepal, ein anderer aus | |
> dem Libanon. | |
Bild: März 2022: Freiwillige evakuieren einen verwundeten Soldaten in Irpin, k… | |
Serhii schaut nach unten auf seinen seinen linken Fuß und dreht ihn langsam | |
nach innen. „Cool! Schau nur wie weit das schon geht“, sagt er und blickt | |
auf. Seine braunen Augen werden ganz groß. „Vor drei Wochen konnte ich den | |
Fuß gar nicht bewegen.“ Er sitzt im Rollstuhl und trägt einen graumelierten | |
Jogginganzug, der an ihm etwas zu groß wirkt. So passt auch das Gestell | |
aus Metallstangen und Schrauben in die Hose, das bei Serhii von der Hüfte | |
abwärts das zusammenhält, was mal sein rechter Ober- und Unterschenkel war. | |
Das untere Ende des Hosenbeins ist leer. | |
Der schlanke Mann mit den braunen Haaren ist gerade in den Raum gekommen. | |
Er wartet auf seine tägliche Physiotherapie. Hier will er lernen, das linke | |
Bein wieder voll zu belasten. Für das rechte möchte er eine Prothese | |
bekommen. | |
Das helle Zimmer mit Blick auf den verschneiten Parkplatz befindet sich im | |
Erdgeschoss einer Klinik in Winnyzja. Auf rund 30 Quadratmetern grauer | |
Auslegeware sind Behandlungsliegen und allerlei Gerätschaften aufgebaut: | |
Sprossenwände für Klimmzüge, ein Laufband, Medizin- und Sitzbälle sowie | |
Yogamatten. Es ist warm. Die Patienten tragen T-Shirts. | |
Bis zu einem halben Dutzend Patienten sind gleichzeitig hier. Einer beugt | |
sich auf einer Yogamatte seitwärts über einen Medizinball. Ein anderer | |
liegt auf seiner Liege. Ein Physiotherapeut hilft ihm dabei, sein Bein zu | |
bewegen. Es ist unterhalb des Knies amputiert. Am Fenster sitzt ein Patient | |
im Rollstuhl. Er hat Erfrierungen an Beinen und Armen erlitten. Ein | |
Therapeut arbeitet nun mit ihm an der Beweglichkeit seiner Finger. Er soll | |
sie langsam immer weiter ausstrecken und dann wieder zur Faust ballen. | |
Zwischen den Übungen haben Helfer und Patienten kurz Zeit für ein Gespräch. | |
Winnyzja liegt zirka 250 Kilometer südwestlich von Kyjiw. In beiden Städten | |
betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Projekt mit je einer | |
Gesundheitseinrichtung, das die Rehabilitation [1][von Kriegsverletzten] | |
unterstützt. Ein internationales Team von Physiotherapeut:innen und | |
Psychiater:innen betreut dabei selbst Patienten und soll auch die | |
einheimischen Mitarbeiter:innen weiterbilden. „Die Brutalität dieses | |
Krieges erzeugte eine große Zahl an Patienten mit schweren Verletzungen und | |
einen großen Bedarf an postoperativer Therapie“, heißt es in einem Bericht | |
der NGO. Der Schwerpunkt der Klinik in Winnyzja liegt auf der Therapie von | |
Patienten mit Amputationen. Andere Krankenhäuser haben sich auf Kopf- oder | |
Rückenverletzungen spezialisiert. | |
Wie das Krankenhaus heißt, wo es genau liegt und wie es von außen aussieht, | |
soll nicht öffentlich genannt werden. So will es Ärzte ohne Grenzen. Solche | |
roten Linien ziehen sie auch in anderen ukrainischen Krankenhäusern bei der | |
Berichterstattung. Russland hat schon häufig Krankenhäuser angegriffen, | |
deshalb sollen möglichst wenig Informationen herausgegeben werden. | |
Fotografiert werden darf nur im Inneren. Die Gesichter der behandelten | |
Soldaten sollen ebenfalls nicht gezeigt werden, um sie und ihre Familien zu | |
schützen. Und von den Menschen, mit denen die taz für diesen Text | |
gesprochen hat, nennen wir nur die Vornamen. | |
Serhii kommt aus Winnyzja selbst. Mit dem Militär hatte er nie etwas zu | |
tun, sagt er. Bis Russland im Februar 2022 versuchte, die ganze Ukraine zu | |
unterwerfen. Zuletzt arbeitete er als Manager in einer Installationsfirma. | |
Er spricht leise und hat eine weiche Stimme. „Ich wurde eingezogen“, sagt | |
der 38-Jährige. In den ersten Kriegsmonaten war das selten. Selbst bei | |
Freiwilligen hat die Armee meist nur solche mit militärischer Erfahrung | |
akzeptiert. Serhii vermutet, dass er einberufen wurde, weil er mal fünf | |
Jahre als Rettungssanitäter gearbeitet hat. „Das war wohl eine gefragte | |
Qualifikation“, sagt er und legt den Kopf schräg. | |
Nach einigen Wochen militärischem Training schickte ihn die Armee im Juni | |
als Sanitäter an die Front im Süden. Dort, zwischen den Großstädten Cherson | |
und Mykolajiw, trat er im Oktober auf eine Mine. „Wir haben versucht, einen | |
verletzten Soldaten zu evakuieren“, erinnert er sich. Dabei sei es | |
passiert. „Ich hatte Angst, beide Beine zu verlieren.“ Bei seiner Rettung | |
hat alles gut funktioniert, sagt Serhii. „Zwei Stunden nach der Explosion | |
war ich in Mykolajiw im OP.“ Doch nach 20 Tagen in Fixierung habe es | |
Komplikationen gegeben. „Es gab eine Blutung. Ich habe das Bewusstsein | |
verloren.“ Als Serhii wieder zu sich kam, fehlte ihm sein rechter Fuß. | |
Anschließend verbrachte er zwei Monate in einem Krankenhaus [2][in Odessa], | |
danach verlegten sie ihn nach Winnyzja. Auch hier mussten die Ärzte noch | |
mal operieren. Sie hatten eine Nervenverletzung im linken Bein entdeckt. | |
Serhii krempelt die Hose hoch und zeigt eine Narbe unterhalb des Knies. Die | |
Stiche ziehen sich in einem Halbkreis unter seiner Kniescheibe entlang. Nun | |
hofft er, dass die Fortschritte bei der Therapie weitergehen. „Ich will | |
wieder arbeiten.“ Welche Möglichkeiten er später hat, hängt davon ab, wie | |
seine Therapie verläuft. | |
## Sicherheit bedeutet hier wenige Fenster und ein tiefer Keller | |
Während die Therapeuten die Patienten behandeln, hält Natalia als | |
stellvertretende Projektleiterin die Fäden zusammen. Vor der Invasion war | |
sie Englischlehrerin. Nun kommuniziert sie mit den ukrainischen Behörden | |
und den internationalen Helfern. „Ich habe gefühlt, dass ich etwas tun | |
muss“, erinnert sie sich. Dann sei sie auf Ärzte ohne Grenzen gestoßen, | |
sagt sie beim Kaffee im Büro der NGO in einem Hochhhaus am Rande der | |
Innenstadt von Wynnizja. Von der Klinik bis hierher sind es mehrere Minuten | |
mit dem Auto. Es gibt wenige Fenster und einen tiefen Keller, deswegen hat | |
Ärzte ohne Grenzen das Haus ausgesucht. Hier sind die Mitarbeiter bei | |
Raketenbeschuss relativ sicher. Und hier bereiten sich die Helfer vor und | |
erledigen Papierkram. | |
„Die Helfer von Ärzte ohne Grenzen bringen viel Erfahrung mit“, sagt sie. | |
Davon wolle man so viel wie möglich lernen. „Wir werden das noch brauchen.“ | |
Der Bedarf sei riesig. Im Krankenhaus will man bald einen dritten | |
Therapieraum eröffnen. Man überlege, das Projekt auf eine weitere | |
Rehaklinik in Winnyzja auszuweiten. „Wir haben es hier mit Verletzungen zu | |
tun, die in Friedenszeiten selten sind. Das Krankenhaus hier hatte früher | |
drei oder vier Amputationspatienten im Jahr, nun sind es drei oder vier am | |
Tag.“ Viele der Patienten seien mehrfach verletzt. Zehn Operationen seien | |
keine Seltenheit. Seit dem Projektstart habe man 294 Patienten behandelt. | |
Davon 161 in Winnyzja. | |
Ärzte ohne Grenzen unterhält in der Ukraine eine ganze Reihe von Projekten. | |
Kurz vor Jahreswechsel arbeiteten nach eigenen Angaben 116 internationale | |
und 685 ukrainische Mitarbeiter für die Organisation. In mehreren Regionen, | |
die vorübergehend von Russland besetzt waren, sind ihre Teams unterwegs. | |
Die Angreifer haben oft auch die medizinische Infrastruktur zerstört. In | |
anderen Regionen engagiert sich Ärzte ohne Grenzen in der Betreuung von | |
Binnenflüchtlingen. Außerdem betreibt die Organisation einen Zug, der seit | |
März 2022 ältere, behinderte und psychoneurologische Patienten aus | |
Krankenhäusern in der Nähe der Frontlinie evakuiert. | |
An einer Sprossenwand im Therapieraum ist ein Gummiband angebracht. Der | |
Patient, dem ein halber Unterschenkel amputiert wurde, soll es mit dem | |
verletzten Bein zurückziehen. „Wir müssen die Balance vorbereiten für die | |
Prothese“, erklärt Sudan. Er ist einer der Physiotherapeuten aus dem | |
Ausland. Er trägt grüne Krankenhauskleidung und eine Maske. Man sieht an | |
seinen Augen, dass er meist lächelt. Der Beinstumpf des Patienten ist nicht | |
voll ausgeheilt und bandagiert. Trotzdem soll der Mann trainieren, damit | |
sich die Muskulatur nicht zurückbildet. | |
Sudans Weg in die Ukraine war lang. „Ich komme aus Nepal.“ Als er im | |
Februar die Bilder vom Krieg in der Ukraine sah, habe er gewusst, dass | |
Hilfe nötig sei. 42 Stunden sei er schließlich unterwegs gewesen, als er im | |
August ins Land kam. Der 32-Jährige arbeitet seit sieben Jahren als | |
Physiotherapeut. Mitarbeiter wie Sudan findet Ärzte ohne Grenzen in vielen | |
Ländern. Wer sich bereit erklärt, wird bei Bedarf einem konkreten Projekt | |
zugeordnet. Internationale und einheimische Mitarbeiter werden meist für | |
die Dauer von sechs bis neun Monaten angestellt. | |
Sein Einfluss sei leider begrenzt, sagt Sudan. Viele der Patienten hätten | |
bereits viel Muskulatur verloren. „Oft dauert es vier Wochen, bis sie hier | |
sind. Am besten für die Behandlung ist es aber, so früh wie möglich nach | |
der Verletzung zu beginnen.“ Es wäre besser, wenn die Patienten schon ein, | |
zwei Tage nach der Operation mit der Reha anfangen. „Manchmal sind ihre | |
Beine nur noch so dünn wie die Arme.“ Sudan sagt, die Patienten sollten | |
sich so bald wie möglich auf Krücken fortbewegen können. Das sei wichtig | |
für die Muskulatur und außerdem für die Psyche. | |
Das gestaltet sich allerdings oft schwierig. Viele von Sudans Patienten | |
haben multiple Verletzungen. „Die meisten wurden bei Minenexplosionen | |
verwundet.“ Zur Wucht der Explosion kommen Splitter, die oft große Wunden | |
reißen. „Viele Patienten haben viel Blut verloren und sind entsprechend | |
schwach“, sagt Sudan. Sie haben zudem oft große Schmerzen. „Sie müssen ab… | |
schmerzfrei sein, sonst können wir hier nicht arbeiten.“ | |
Nicht allen Patienten kann Sudan hier in Winnyzja so helfen, wie sie es | |
wünschen. „Manchmal ist es nicht realistisch“, sagt er. Gerade habe er | |
einen Patienten gehabt, dem ein Bein direkt unterhalb der Hüfte amputiert | |
worden sei. Er möchte gern eine Prothese. Aber Sudan darf auch keine | |
falschen Hoffnungen wecken. Es ist einfach zu wenig übrig, um eine Prothese | |
daran zu befestigen. | |
## Es gibt zu wenige Physiotherapeuten im Land | |
Das größte Problem für die Versorgung: Es gibt zu wenige Menschen, die | |
verletzte Ukrainer fachgerecht behandeln können. Nach den Daten der OECD | |
kamen in der Ukraine vor dem Beginn der großangelegten russischen Invasion | |
auf 10.000 Einwohner 0,68 Physiotherapeuten. In Deutschland sind es 24. Die | |
geringe personelle Kapazität steht nach dem russischen Angriff im Februar | |
2022 einem enormen Bedarf gegenüber. Genaue Zahlen zu Verwundeten | |
publiziert die ukrainische Regierung genauso wenig wie zu den Gefallenen. | |
Aber angesichts des Umfangs der Kampfhandlungen und der Raketen- und | |
Drohnenangriffe auf zivile Ziele sind es wahrscheinlich Zehntausende. | |
Mit so vielen Verletzten wäre wahrscheinlich jedes Gesundheitssystem stark | |
belastet. In der Ukraine gilt zwar die Krankenhausversorgung zum Beispiel | |
in der Chirurgie als vergleichsweise gut. Jahrzehntelang bildeten die | |
Universitäten des Landes den medizinischen Nachwuchs für viele | |
Entwicklungsländer aus. Die Behandlung ist für Ukrainer:innen kostenlos. | |
Allerdings war das Gesundheitssystem jahrzehntelang unterfinanziert, sodass | |
Kosten für Medikamente sowie Vor- und Nachsorge an den Patienten hängen | |
blieben. Physiotherapie konnten sich viele einfach nicht leisten. | |
Entsprechend schwach entwickelt ist der Sektor. | |
Ein zweiter Serhii betritt den Therapieraum auf Krücken. Fast 1,90 Meter | |
groß und ein Kreuz, als würde er seit seiner Jugend rudern und Zementsäcke | |
schleppen. Aus seiner kurzen schwarzen Sporthose ragt nur ein Bein. Erst | |
ein paar Tage vorher hat die deutsche Regierung angekündigt, der Ukraine | |
auch Kampfpanzer zu liefern. „Jetzt kann ich auch wieder mit den Deutschen | |
reden“, scherzt Serhii. Er sagt den Satz auf Deutsch, das unterrichten | |
immer noch viele Schulen [3][in der Ukraine]. | |
Serhii Nummer zwei nimmt Platz. Der muskulöse Stumpf seines amputierten | |
Oberschenkels wird sichtbar. Die Wunde ist gut abgeheilt. Die Narbe sieht | |
glatt aus und ist nicht mehr rosa. Bald kann er eine Prothese bekommen. | |
Doch das eigentlich gewünschte Modell würde 70.000 Euro kosten. Zu teuer | |
für ihn. Stattdessen soll es nun ein anderes Fabrikat werden. „Damit kann | |
man Fahrrad fahren“, sagt er. „Vielleicht sogar rennen.“ | |
Die Therapie nimmt Serhii wie eine Trainingseinheit an. Damit kann er | |
umgehen. Er hat Gürtel in mehreren Kampfsportarten und hat im Gym des | |
Boxweltmeisters Oleksandr Ussyk trainiert. Die Statur für das Schwergewicht | |
hat er. Er zeigt auf dem Smartphone ein Video. Der kurze Film zeigt ihn bei | |
der Therapie. Serhii macht Sit-ups und hält dabei einen fünf Kilo schweren | |
Medizinball über dem Kopf. Wie zur Bestätigung seiner Fitness macht er | |
gleich noch ein paar Klimmzüge. | |
Er war Kommandeur einer Einheit im Donbass. Offizier im Rang eines | |
Hauptmanns. Doch wie sein Namensvetter ist auch dieser Serhii kein | |
Berufssoldat. Der 38-Jährige stammt aus Oleksandria in der Zentralukraine. | |
Nach der Schule sei er damals in die Akademie der Grenztruppen eingetreten. | |
Nach dem Wehrdienst habe er aber Jura studiert und als Staatsanwalt | |
gearbeitet. Als Russland 2014 die Ukraine angriff, wurde er mobilisiert, | |
weil er Reservist war. Ein Jahr hat er seinerzeit im Donbass gekämpft. | |
„Aber danach wollte ich etwas anderes“, sagt er. Und machte sich als Anwalt | |
selbstständig. | |
Als Russland seine großangelegte Invasion am 24. Februar begann, war Serhii | |
zu Hause. Zuerst habe er seine Frau, seine sechsjährige Tochter und den | |
dreijährigen Sohn in Sicherheit gebracht. „Sie wohnen jetzt in der Nähe des | |
Bodensees. Sehr schön dort.“ Drei Tage später stieß er zu seiner Einheit in | |
der Nähe des Flughafens von Donezk. „Dort habe ich fünfeinhalb Monate | |
gekämpft.“ Dann wurde er verwundet. | |
Er zeigt auf dem Smartphone ein Video aus der Zeit vor seiner Verwundung. | |
Man sieht ukrainische Soldaten in einem Schützengraben. In einer Ecke liegt | |
etwas Grünes, das wie Laub aussieht. Tatsächlich handelt es sich dabei um | |
eine sogenannte Schmetterlingsmine. Meist werden sie als Streumunitiuon | |
verschossen. Sie sind kaum zu entschärfen und müssen an Ort und Stelle | |
gesprengt werden. Auf dem Video sieht man erst, wie Serhiis Soldaten die | |
Mine in dem Graben aus einiger Entfernung mit einem Holzknüppel bewerfen, | |
bis sie hochgeht. Auf eine andere schießen sie. | |
Es war knapp für Serhii, in mehrerer Hinsicht. „Am 16. August hatten wir | |
ein Gefecht mit einer Einheit der Wagner-Söldner“, erinnert er sich. Serhii | |
wurde getroffen. Aber das Projektil blieb in seiner Schutzweste stecken. | |
Als die Soldaten versuchten, die Stellung zu wechseln, muss jemand auf eine | |
Landmine getreten sein. „Bei der Explosion hat ein Soldat beide Augen | |
verloren, ein anderer beide Beine.“ Serhii selbst durchtrennte ein | |
Schrapnell die Arterie in seinem linken Bein. Er habe es geschafft, sich | |
schnell genug das Tourniquet selbst anzulegen und die Blutung abzubinden. | |
„Dann habe ich die anderen bandagiert.“ | |
## Serhii träumt vom Spielen mit seinen Kindern | |
Doch auch bei diesem Serhii gab es Komplikationen. Bei der Notoperation | |
wurde offenbar ein Teil des Schrapnells übersehen, sagt er. Die Folge: | |
Blutvergiftung. „Das Bein musste amputiert werden.“ Serhii wurde erst nach | |
Kyjiw gebracht, im September dann nach Winnyzja. Allerdings heilte die | |
Wunde nicht gut und er musste noch mal operiert werden. Wovon er nun | |
träume? „Ich will mit meinen Kindern Fangen spielen können.“ | |
Um mit der Physiotherapie zu beginnen, müssen die Patienten sie auch | |
wollen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Nicht selten verlieren | |
Verwundete den Lebensmut, wenn sie begreifen, dass vieles, was ihr Leben | |
bis dahin ausgemacht hat, nicht mehr möglich ist. „Viele Patienten zweifeln | |
am Sinn ihres Daseins. Einige sind selbstmordgefährdet“, sagt Psychiater | |
Hassan im Besprechungsraum mit der Glasfront und den weißen Wänden. Der | |
34-Jährige gehört zum internationalen Team von Ärzte ohne Grenzen und kommt | |
aus dem Libanon. Er trägt einen gestutzten Vollbart, die dunklen Haare | |
zusammengebunden. | |
Für die NGO war er auch schon in Liberia, Jordanien und im Irak. Dort, wo | |
die Terrorgruppe Isis gewütet hat, habe es auch viele Amputationspatienten | |
gegeben. Seit August 2022 ist Hassan in der Ukraine. Anfangs arbeitete er | |
in einem Projekt, das Patienten aus Gebieten in Frontnähe evakuiert hat. Im | |
Oktober habe er dann in der Reha angefangen. „Alle zwei, drei Wochen | |
pendele ich zwischen Kyjiw und Winnyzja“, erzählt er im Büro der NGO. Er | |
fühle sich verantwortlich, zu helfen. „Wenn ich die Patienten sehe, weiß | |
ich, ich bin am richtigen Ort.“ | |
Dabei gehen die Patienten sehr unterschiedlich mit ihren Verletzungen um. | |
„Die meisten haben keine militärische Erfahrung und haben sich trotzdem | |
gemeldet.“ Das sei beeindruckend. „Viele haben die Kapazität, damit | |
klarzukommen.“ Er hätte beispielsweise mehr Patienten mit posttraumatischen | |
Belastungsstörungen erwartet. Normalerweise würde viele Menschen den Ort | |
ihrer Traumatisierung meiden. „Aber viele der Soldaten wollen sogar zurück | |
an die Front.“ Offenbar sei das eine Bewältigungsstrategie. | |
Andere Soldaten gingen weniger offen mit ihren Verletzungen um. Manchmal | |
wissen die Familien noch nach Monaten nicht, was für eine Verletzung ihr | |
Vater, Bruder, Mann oder Freund eigentlich hat. „Sie machen sich Sorgen, | |
wie ihre Kinder reagieren. Sind sie noch deren Superheld?“ Andere sind | |
enttäuscht, machen sich Vorwürfe, empfinden Scham. „Wir haben es auch mit | |
toxischer Männlichkeit zu tun“, sagt Hassan. Man gestehe sich nicht zu, zu | |
trauern und zu weinen. Das stehe dann aber dem eigenen Umgang mit dem | |
Erlebten im Weg. „Oft dauert es bis zu drei Wochen, bis die Patienten | |
überhaupt reden wollen.“ Die Zeit fehle in der Therapie, denn die meisten | |
seien nur vier bis sechs Wochen in der Klinik. Umso wichtiger sei es, dass | |
die psychiatrische Behandlung danach fortgesetzt werde. | |
Wie es mit Patienten wie den beiden Serhiis weitergeht, hängt vom Erfolg | |
ihrer Therapie ab. Und von der Schwere ihrer Verletzungen. Bei Serhii im | |
Rollstuhl dauert die Behandlung sicher noch Wochen. Allein das Entfernen | |
des Metallgestells verlangt nach einer eigenen Operation. Erst danach kann | |
er mit der Physiotherapie für das amputierte rechte Bein beginnen. Der | |
andere Serhii geht mit seinen Krücken am Tag nach dem Treffen im | |
Krankenhaus schon im Zentrum von Winnyzja spazieren. | |
9 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[2] /Lehren-aus-dem-Krieg/!5913023 | |
[3] /Generationen-Gespraech-im-Ukrainekrieg/!5848263 | |
## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Russland | |
Ukraine | |
Ukraine-Krise | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
GNS | |
Ukraine-Konflikt | |
Ukraine-Krim-Krise | |
wochentaz | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Libanon | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Donbass | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
NGO-Chef über Traumata in der Ukraine: „Solidarität ist der erste Schritt“ | |
Die Behandlung von Trauma-Opfern in der Ukraine ist eine große | |
Herausforderung. Eine NGO aus Uganda will helfen. Ihr Gründer über die | |
schwere Arbeit. | |
Kriegsversehrte in der Ukraine: Kampf gegen das Trauma | |
Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto größer auch die Zahl der | |
Kriegsversehrten. Zu Besuch in einer Rehaklinik, wo Soldaten Alltag | |
lernen. | |
Zeit-Chaos im Libanon: Wie viel Uhr ist es denn nun? | |
Erst bestand Ministerpräsident Mikati auf der Winterzeit, nun rudert er | |
zurück. Noch bis Donnerstag leben Muslime und Christen weiter in zwei | |
Zeitzonen. | |
Krieg in der Ukraine: Wie oft werde ich sterben? | |
Seit einem Jahr wütet der Krieg in ihrem Land. Aus der Ukraine zu berichten | |
ist alles, was unsere Autorin tun kann. | |
Doku über ukrainische Kriegsversehrte: Heilen, was der Krieg verstümmelt | |
Zur Behandlung in den Westen: Montag Abend zeigt der NDR die Reportage | |
„Schwer verwundet: Ukrainische Kriegsopfer in deutschen Kliniken“. | |
Kämpfe im Osten der Ukraine: Da, wo die Russen schon mal waren | |
Die ostukrainischen Städte Slowjansk und Lyman erwarten einen Überfall | |
Moskaus. 2014 regierten dort prorussische Kräfte, 2022 wurde Lyman kurz | |
besetzt. | |
Ukrainischer Präsident in Brüssel: Empfangen wie ein Held | |
Selenski wird bei seinem Besuch im EU-Parlament gefeiert. Und Meloni ist | |
sauer, weil Macron sie nicht zum Essen eingeladen hat. | |
+++ Nachrichten zum Ukraine-Krieg +++: Russland-Sanktionen umgangen? | |
Die Kölner Staatsanwaltschaft hat Firmen durchsucht, die Bauteile für | |
russische Waffen lieferten. Selenski ruft in Brüssel zur Verteidigung | |
Europas auf. | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Selenski trifft Scholz in Paris | |
Der Bundeskanzler und der französische Präsident erwarten den ukrainischen | |
Präsidenten am Abend im Elysée-Palast. In London dankte Selenski den | |
Briten. | |
Aktuelle Lage in der Ukraine: Selenski plant zweite Auslandsreise | |
Der ukrainische Präsident wird in Brüssel erwartet. Drei Wochen nach dem | |
Tod seines Vorgängers hat Kyjiw einen neuen Innenminister ernannt. | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Pistorius nach Kyjiw gereist | |
Die Ukraine soll mehr als 100 Kampfpanzer des älteren Typs Leopard 1A5 | |
erhalten. Das gab der neue Verteidigungsminister bei einem Besuch in Kyjiw | |
bekannt. | |
Kämpfe im Osten der Ukraine: Wo die russische Offensive beginnt | |
Die Ukraine verteidigt im Osten die letzte Versorgungsroute. Wenn die Stadt | |
in russische Hände gelangt, könnte es für Kyjiw schwierig werden. | |
Gedenkfeier zur Schlacht um Stalingrad: Der Diktator als Opfer | |
Am 80. Jahrestag gedenkt Putin des sowjetischen Siegs in der Schlacht von | |
Stalingrad. In seiner Rede mutiert Russland vom Aggressor zum Verteidiger. | |
Korruption in der Ukraine: Kyjiws langwieriger Kampf | |
Die Ukraine freut sich über die Lieferung westlicher Panzer. Aber das Land | |
hat noch eine Front, an der Panzer nicht helfen werden – die Korruption. | |
Genehmigung von Leopard-2-Panzern: Die Ukraine für den Sieg rüsten | |
Die deutsche Zusage ist Teil eines westlichen Strategiewechsels. Bessere | |
Waffen für die Ukraine sollen die Befreiung des gesamten Staatsgebiets | |
ermöglichen. | |
Cherson unter russischer Besatzung: Das Hotel der Geretteten | |
Das „Richelieu“ in Cherson hat schon lange keine Touristen mehr gesehen. | |
Stattdessen leben hier Geflüchtete – dank des Engagements der Betreiber. |