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# taz.de -- Zeit-Chaos im Libanon: Wie viel Uhr ist es denn nun?
> Erst bestand Ministerpräsident Mikati auf der Winterzeit, nun rudert er
> zurück. Noch bis Donnerstag leben Muslime und Christen weiter in zwei
> Zeitzonen.
Bild: Ein Uhrenturm nahe des Regierungssitzes in der Hauptstadt Beirut. Zeit is…
Beirut taz | Im Terminal am Beiruter Flughafen werden seit Sonntagnacht
zwei Uhrzeiten angezeigt. Auf der einen Seite der digitalen Uhr steht die
Winterzeit, auf der anderen die Sommerzeit. Am Freitag gab der amtierende
Ministerpräsident Najib Mikati bekannt, man [1][werde mit der
Zeitumstellung] bis zum 21. April warten – so lange gelte noch die
Winterzeit. Seitdem gibt es ein Zeitchaos im Libanon.
Nach zahlreichen Protesten ruderte Mikati am Montagmittag zurück. In der
Nacht von Mittwoch auf Donnerstag werde „offiziell“ auf die Sommerzeit
umgestellt, erklärte er auf einer Pressekonferenz. Zuvor hatte er eine
Kabinettssitzung einberufen, die sich „ausschließlich“ diesem Thema
widmete.
Vor dieser Entscheidung drohte das große Zeitchaos über den Libanon
hereinzubrechen: Bildungsminister Abbas Halabi ließ verkünden, dass die
Schulen und Universitäten bei dem Plan nicht mitmachen. Die Zentralbank und
die Banken stellten ebenfalls ihre Uhren um eine Stunde vor. Andere
Behörden wiederum entschieden, sich an die Regierung zu halten. Wer also
einen Termin bei der einen Behörde macht, muss bis Mittwochabend aufpassen,
dass der sich nicht mit einem anderen Termin, ausgemacht in der Sommerzeit,
doppelt.
Das internationale Franchise-Unternehmen Dunkin' Donuts öffnet sein
Geschäft derzeit von 7 Uhr morgens bis 10 Uhr abends – in beiden Zeitzonen,
und damit letztlich zwei Stunden länger als üblich. Auf dem sozialen
Netzwerk Twitter rät ein Ökonom einem libanesischen Unternehmer, der
grübelt, welche Zeitzone er denn nun nutzen soll: „Wenn du Christ bist,
gehe mit gutem Beispiel voran und halte dich an die Regierungsentscheidung.
Wenn du Muslim bist, dann setze das Gegenteil um, richte dich nach der
‚christlichen‘ Sichtweise.“
Der Unternehmer auf Twitter will die Entscheidung über die Zeitzone seinen
Arbeitnehmer*innen überlassen: Sie könnten sich ihre Arbeitszeiten
selbst legen, solange sie acht Stunden arbeiteten. Dies ginge allerdings zu
Lasten des Unternehmens, das eine Stunde länger die Stromgeneratoren laufen
lassen und bezahlen muss.
## Muslime leben in einer, Christen in der anderen Zeitzone
Das Zeitchaos verläuft entlang religiöser Linien: Während der muslimische
Ministerpräsident Mikati – wohl um das [2][Fasten] während des Ramadan zu
erleichtern – die Winterzeit beibehalten wollte, protestierten die Christen
und wiesen die ihnen folgenden an, die Uhren vorzustellen. Im Libanon ist
der Präsident immer ein Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit und der
Parlamentssprecher ein Schiit. Weil es noch immer keinen Präsidenten gibt,
fühlen sich viele Christen in der Politik nicht repräsentiert.
Deshalb regte sich Widerstand vor allem in der christlichen Bevölkerung.
Auf Twitter schieb ein Blogger: „Die Frage der Sommerzeit ist keine
triviale Angelegenheit, sondern ein Symptom für eine tiefgreifende Krise
der politischen Vertretung der Christen im Libanon, und sie verdient
ernsthafte Aufmerksamkeit. Wenn wir diese Frage ignorieren oder
herunterspielen, riskieren wir eine weitere Entfremdung und
Marginalisierung der christlichen Gemeinschaft, und das wird sich auf alle
negativ auswirken.“
Doch auch viele Muslime können über den Kurs der Regierung nur den Kopf
schütteln. Eine muslimische Frau aus der libanesischen Stadt Tripoli, die
anonym bleiben möchte, sagt der taz: „Die Entscheidung der Regierung macht
keinen Sinn. Wir brechen das Fasten bei Sonnenuntergang, es geht nie um die
Uhrzeit. Jetzt versuchen die Politiker, diese Zeitfrage zu einem
‚religiösen Konflikt‘ zu machen. Aber das ist eine große Scharade, um die
Menschen von dem abzulenken, was wirklich passiert.“
Am Samstag, einen Tag, bevor Mikati die Zeit-Entscheidung mitteilte,
postete das libanesische Onlinemedium Polyblog einen Artikel zu einer
Nachricht, die in dem Rauschen des Zeitenchaos unterging: Für den Beiruter
Flughafen soll ein neues Terminal gebaut werden. Zwei irische Unternehmen
sollen das Terminal bauen und betreiben – ohne behördliche Kontrolle. Den
Deal im Wert von 122 Millionen US-Dollar hat Mikati eingefädelt.
Auffallend sei, so Polyblog, dass der Vertag nicht öffentlich gemacht wurde
und es keine Ausschreibung oder eine Veröffentlichung der erforderlichen
Bedingungen gebe. „So als ob die Angelegenheit ein strategisches
Staatsgeheimnis wäre.“ Ob die Zeitenfrage tatsächlich ein
Vertuschungsversuch ist, um von Korruption abzulenken, lässt sich zwar
nicht belegen. Doch viele Libanesen und Libanesinnen, geprägt durch die
immer wieder belegte [3][Korruption der libanesischen Politeliten], sind
gewillt, das zu glauben.
27 Mar 2023
## LINKS
[1] /Im-Libanon-gibt-es-nun-zwei-Zeitzonen/!5924240
[2] /Alkoholverkaufsverbot-im-Irak/!5920172
[3] /Reform-Politikerin-im-Libanon/!5902909
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Libanon
Zeitumstellung
Religion
Christen
Muslime
Geflüchtete Frauen
Schwerpunkt Rassismus
Irak
Bildende Kunst
Lesestück Recherche und Reportage
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