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# taz.de -- Reform-Politikerin im Libanon: Für einen Wandel von unten
> Libanon hat weder Präsident noch eine ordentliche Regierung. In diesem
> Machtvakuum arbeitet die Abgeordnete Halimé Kaakour. Ein Treffen.
Bild: Halimé Kaakour im Gespräch mit Reuters im Mai 2022
Beirut taz | Halimé Kaakour setzt sich auf das Sofa in ihrem Büro, ihrer
Assistentin bietet sie den Sitz am Schreibtisch an. „Das macht sie immer
so“, sagt die Assistentin und lacht. Kaakour schert sich nicht um
Autoritätsfragen und Machtgehabe. Ihr geht es darum, sich inhaltlich zu
äußern. Die 47-Jährige ist seit der [1][Parlamentswahl im Mai] Abgeordnete
im libanesischen Parlament. Mit der Liste „Vereint für Wandel“ wurde sie
als Alternative zu den konfessionell orientierten Politikern des Landes
gewählt.
„Wir müssen die traditionelle politische Klasse durch neue Leute ersetzen,
die mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten“, sagt Kaakour. Die
Einrichtung in dem Büro spiegelt ihre politische Haltung wider: Statt
sperriger Schreibtische aus dunklem Holz steht in Kaakours Büro ein
schlankes Modell aus hellem Holz mit Metallfüßen. Genug mit dem Protz und
der Korruption, Kaakour möchte die Politik der alten Männer umkrempeln.
Drei Jahre ist es her, [2][da gab es im Libanon erneut Massenproteste]
gegen die Klientelpolitik der Eliten und ihre Korruption, die das Land in
eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt hat. Die Lebensmittelpreise steigen
und es mangelt an Strom. Doch die amtierenden Politiker haben es bislang
nicht geschafft, die nötigen Reformen zu verabschieden, die das Land aus
der Krise bringen können.
Dazu gehört laut Internationalem Währungsfonds (IWF), das Bankensystem zu
sanieren und den öffentlichen Sektor zu entschlacken. Außerdem sollen
öffentliche Finanzen in Ordnung gebracht und das soziale Sicherheitsnetz
ausgebaut werden, bevor es Geld vom IWF gibt.
Zu der Wirtschaftskrise hinzu kommt ein politisches Machtvakuum: Das Land
steht ohne Präsident*in da und die amtierende Übergangsregierung ist nur
für das Tagesgeschäft zuständig. Denn nach der Wahl im Mai ist die alte
Regierung im Amt geblieben, weil die Bildung eines neuen Kabinetts bis
heute nicht geklappt hat.
Im Libanon teilen die Parteien die Minister*innenposten nach
Einfluss, Konfession und Größe des parlamentarischen Blocks unter sich auf.
Dabei wird auch über andere einflussreiche Ämter diskutiert, etwa das
Präsidialamt. Ende Oktober lief die Amtszeit des ehemaligen Präsidenten
Michel Aoun ab. Doch wie die Regierungsbildung stockt auch die Neubesetzung
des Postens. Bereits zehnmal haben sich die Abgeordneten getroffen, um
eine*n neue*n Präsident*in zu wählen. Doch die politischen Blöcke
konnten sich nicht einigen.
## Acht Frauen im Parlament
Kaakour ist vor allem mit ihrer Arbeit in den Ausschüssen des Parlaments
beschäftigt. Sie sind zur Zeit die wichtigste, wenn nicht einzige nationale
Ebene, auf der inhaltlich diskutiert wird. Deshalb sind sie auch der Ort,
an dem Kaakour und die anderen zwölf unabhängigen Abgeordneten im Parlament
politischen Wandel herbeiführen wollen.
Kaakour sitzt im Justizausschuss sowie dem Ausschuss für Bildung für Frauen
und Kinder. Ihre wichtigsten Forderungen sind eine allgemeine
Krankenversicherung und das Recht für Frauen, endlich die libanesische
Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben zu dürfen. Insgesamt gibt es
zwar nur acht Frauen im libanesischen Parlament, doch sind das so viele wie
noch nie.
Die Ausschüsse sieht Kaakour als Möglichkeit, Themen auf die Tagesordnung
zu setzen und voranzutreiben. Denn sie bereiten Gesetzentwürfe vor, über
die dann im Parlament abgestimmt werden soll. „Aber oft wird der
Gesetzentwurf in den Ausschüssen nicht fertiggestellt, weil sich die
traditionellen Parteien politisch einmischen und den Entwurf verhindern
wollen.“
Auch würden Punkte von den Vorsitzenden der Ausschüsse gerne von der
Tagesordnung genommen. Das passiere auch im Parlament selbst. Dort
entscheidet Parlamentssprecher Nabih Berri nicht nur, wann er ein Treffen
einberuft, sondern auch über die finale Tagesordnung. „Es ist eine
Ein-Mann-Show“, sagt Kaakour. „Die Struktur ist überhaupt nicht
demokratisch, selbst die Abstimmungen im Parlament sind intransparent.“
Einmal habe der Parlamentssprecher nicht alle erhobenen Hände gezählt.
„Deshalb habe ich eine andere Art der Abstimmung gefordert.“ Berri aber
habe sie angefahren: „Er sagte: Sei still und setz dich. Dann habe ich
gerufen: Hör auf, so patriarchalisch zu sprechen. Dann griffen mich seine
Stellvertreter (verbal) an.“
Doch das Machogehabe der etablierten Politiker hindert Kaakour nicht an
ihrer Arbeit. „Ich bereite meine Akten besser vor als sie. Ich lese die
Akten tatsächlich, bevor ich in eine Sitzung gehe, und widerspreche allen.“
Im Libanon sei das eine neue Art, Politik zu machen.
Priorität haben für die Abgeordnete Sozialfragen. „Wir müssen die
Gesellschaft vor Armut schützen, vor allem mit einer universellen
Gesundheitsversorgung und guter Bildung. Und natürlich brauchen wir einen
geregelten Haushalt und Wirtschaftsreformen.“ Wer verhindert die Reformen?
„Die Regierung“, sagt Kaakour.
Die erste Kabinettssitzung der Übergangsregierung seit der Wahl enthielt im
Dezember keinen Punkt zur Umsetzung von Reformen, die für ein Abkommen mit
dem IWF zur Bewältigung der Finanzkrise des Landes erforderlich sind. In
der Zwischenzeit bekommt der Libanon humanitäre Hilfen, um einen völligen
sozialen Zusammenbruch abzuwenden. So werden Krankenhäuser, Schulen und
Infrastruktur für sauberes Trinkwasser durch humanitäre Gelder am Laufen
gehalten.
7 Jan 2023
## LINKS
[1] /Nach-den-Wahlen-im-Libanon/!5852508
[2] /Massenproteste-im-Libanon/!5636622
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Libanon
Protest
Beirut
Jair Lapid
Israel
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