# taz.de -- Politische Krise im Libanon: Machtvakuum in Beirut | |
> Der Libanon hat keinen Präsidenten mehr und die Regierung ist nur | |
> geschäftsführend im Amt. Dabei braucht das Land dringend politische | |
> Führung. | |
Bild: Baabda am Sonntag: Libanons scheidender Staatschef Michel Aoun verlässt … | |
BEIRUT taz | Bereits morgens um halb neun dröhnt patriotische Musik aus | |
Lautsprecherboxen am Sassine-Platz, einem Verkehrsknotenpunkt in Beirut. | |
Alte Reden des Präsidenten werden abgespielt, zwischen Laternenmasten ist | |
ein Plakat gespannt, darauf das Gesicht des Präsidenten und die Aufschrift: | |
„Mit euch machen wir weiter“. Es ist der letzte Tag des libanesischen | |
Präsidenten Michel Aoun. Mit 89 Jahren ist er seit Dienstag nun im | |
Ruhestand. | |
Während Aouns Amtszeit verlor die lokale Währung 95 Prozent an Wert, | |
Lebensmittelpreise stiegen um das Zehnfache. Die Banken geben das Ersparte | |
der Menschen nur noch mit einem sehr geringen Gegenwert und mit niedrigen | |
Höchstgrenzen pro Monat aus. Der Staat stellte die Stromlieferungen fast | |
vollständig ein. Viele gut ausgebildete Menschen haben das Land verlassen. | |
In seiner letzten Ansprache ans Volk am Sonntag hatte Aoun seine | |
politischen Rivalen für die Krise verantwortlich gemacht und vor einem | |
„konstitutionellen Chaos“ gewarnt. Das Parlament hat bereits viermal | |
versucht, eine*n Nachfolger*in zu wählen, doch scheiterte dies an | |
politischen Spaltungen. Kein Kandidat bekam die nötige Mehrheit. | |
Gibt es keine*n Präsident*in, übernimmt laut libanesischer Verfassung | |
die Regierung dessen/deren Aufgaben. Doch die aktuelle Regierung unter dem | |
designierten Ministerpräsidenten Nadschib Mikati ist nur übergangsweise im | |
Amt, denn seit der [1][Parlamentswahl im Mai] stagniert die | |
Regierungsbildung. Damals verlor Aouns Parlamentsblock, in dem auch die | |
schiitische Partei und Miliz Hisbollah sitzt, die Mehrheit im Parlament. | |
## Mikati will Geschäfte weiterführen | |
Um die Regierungsbildung zu beschleunigen, wartete Aoun kurz vor seinem | |
Rückzug mit einer Überraschung auf: Er unterschrieb ein Dekret zum | |
Rücktritt der Regierung. Im Fernsehen warf er Mikati vor, „keine Regierung | |
bilden zu wollen“. Dieser antwortete, sein Kabinett werde weiter die | |
Geschäfte führen – sofern das Parlament nicht anders entscheide. Die | |
nächste Parlamentssitzung ist am Donnerstag. | |
In den vergangenen Tagen feierten Anhänger*innen von Aouns Freier | |
Patriotischen Bewegung den scheidenden Präsidenten ein letztes Mal. Manche | |
reisten in Bussen vor den Präsidentenpalast oder übernachteten in Zelten | |
vor dem Platz. | |
Am Sonntagabend zündeten Parteianhänger*innen ein Feuerwerk am | |
Sassine-Platz und feuerten mit Gewehren in die Luft. Die radikale | |
Christenvereinigung „Soldaten Gottes“ zog durch die Straßen, mit einer | |
Bimmbelbahn, die sie „Papas Zug“ nannten – in Anlehnung an Aoun, den seine | |
Anhängerschaft als „Vater aller“ bezeichnet. | |
Die einen feiern Aoun, die anderen feiern, dass er geht. „Natürlich sind | |
alle froh, denn wir träumen von einer besseren Zukunft“, sagt Angela Mrad. | |
Die 31-jährige Filmdirektorin veranstaltet eine Gartenparty, als „Papas | |
Zug“ vorbeifährt: „In seiner Präsidentschaft haben wir eine Vielzahl von | |
Krisen durchgemacht, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Besonders | |
nach der [2][Explosion am 4. August 2020 in Hafen von Beirut]. Ich kann | |
nicht sagen, dass die Explosion auf sein Konto geht. Aber er war an der | |
Spitze und damit der Erste, der etwas hätte unternehmen müssen, um das | |
Ammoniumnitrat zu entfernen.“ | |
Das aktuelle Machtvakuum erschwert die Bewältigung der Finanzkrise, wobei | |
die herrschenden Oligarchen auch bislang wenig dafür getan haben, das | |
System zu reformieren. Der Abschluss eines Vertragsentwurfs mit dem | |
Internationalen Währungsfonds (IWF) steht noch aus. | |
Der Libanon soll Reformen durchsetzen; dafür winken finanzielle Hilfen. | |
Doch die Regierung ist nicht in der Lage, wichtige Entscheidungen zu | |
treffen – darunter der Abschluss von internationalen Abkommen. Ein Abkommen | |
mit dem IWF braucht höchstwahrscheinlich eine präsidiale Unterschrift. | |
## Oberbefehlshaber im Libanon-Krieg | |
Michel Aoun, maronitischer Christ, war 2016 an die Macht gekommen, mit 83 | |
Jahren erfüllte sich sein Traum der Präsidentschaft. Auch damals hatte es | |
wegen Parteigerangels zwei Jahre und fünf Monate gedauert, bis er gewählt | |
wurde. In dem konfessionell geprägten System ist der Präsident immer ein | |
maronitischer Christ. | |
Während des Krieges im Libanon (1975 bis 1990) war Aoun Oberbefehlshaber | |
der Armee. Er kritisierte auch nach dem Krieg die Milizen und ehemaligen | |
Warlords scharf und gewann so überkonfessionelles Ansehen. Seine Ablehnung | |
der syrischen Besatzung im Libanon bescherte ihm eine große Anhängerschaft. | |
1989 erklärte er Syrien einen „Befreiungskrieg“, musste aber aufgrund der | |
militärischen Antwort nach Frankreich ins Exil gehen. Als er 2005 nach der | |
sogenannten Zedernrevolution zurückkehrte, ging er eine paradoxe Verbindung | |
ein: Er formte ein Bündnis mit der Hisbollah, um Präsident zu werden. | |
1 Nov 2022 | |
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[1] /Ministerpraesidentenwahl-im-Libanon/!5863267 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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