| # taz.de -- Nach den Wahlen im Libanon: Die Macht der Hisbollah wackelt | |
| > Im Libanon holen bei den ersten Wahlen seit den Protesten und der | |
| > Wirtschaftskrise Oppositionelle einige Sitze – sogar in | |
| > Hisbollah-Gebieten. | |
| Bild: Hisbollah-Anhänger in einem Convoy am Wahlabend in Beirut | |
| Beirut taz | Ein Mittelfinger mit blauer Tinte – das ist derzeit ein oft | |
| geteiltes Fotomotiv in den sozialen Netzwerken im Libanon. Wähler*innen | |
| müssen einen Finger in Tinte tauchen, um nicht in einem anderen Wahllokal | |
| erneut wählen zu können. Viele, die unabhängige Parteien statt der | |
| etablierten im Parlament sehen möchten, haben dazu ihren Mittelfinger | |
| ausgewählt. Das Motto: „Wählt sie raus“. | |
| Das ist gelungen: Die schiitische Hisbollah und ihre Verbündeten haben ihre | |
| Mehrheit verloren. Laut dem am Dienstag veröffentlichten vorläufigen | |
| Endergebnis kommen sie zusammen auf noch 62 von zuvor 71 Abgeordneten. Für | |
| die Mehrheit bräuchten sie 65 Mandate. | |
| Zudem kommen mindestens 13 Gegner*innen der etablierten Kräfte in das | |
| 128-köpfige Parlament. So zieht etwa auch in dem von der Hisbollah | |
| dominierten Wahlkreis Süd III ein Oppositionspolitiker ins Parlament ein. | |
| Langjährige Verbündete der Hisbollah verloren Sitze an | |
| Reformpolitiker*innen. Auch die [1][rechte Partei Libanesische Kräfte], die | |
| aus einer früheren Bürgerkriegsmiliz hervorging, hat fünf Sitze | |
| dazugewonnen. Sie ist mit Saudi-Arabien verbündet, während die Hisbollah | |
| Geld aus dem Iran bekommt. | |
| Die Regierung unter Ministerpräsident Nadschib Mikati bleibt im Amt, bis | |
| der Präsident Konsultationen mit den neuen Parlamentsmitgliedern einberuft. | |
| Diese wählen dann den neuen Regierungschef. | |
| ## Wahlboykott und Gewalt | |
| Im Oktober endet die sechsjährige Amtszeit von Präsident Michel Aoun. Dann | |
| wird das Parlament auch den neuen Staatschef wählen. Im politischen System | |
| des Libanon ist die Macht unter den Religionsgemeinschaften aufgeteilt, was | |
| die herrschende Elite gefestigt hat. Denn die Parlamentssitze werden nach | |
| konfessionellen Quoten vergeben, was die Chancen für Alternativen | |
| schmälert. | |
| Die Wahlbeteiligung war mit 41 Prozent niedrig. Wahlberechtigte müssen | |
| mindestens 21 Jahre alt sein und zur Stimmabgabe in ihren Geburtsort | |
| reisen. Im südlichen Tarik al-Jadideh stellten Menschen ein aufblasbares | |
| Schwimmbecken auf. Kinder plantschten darin, aber auch junge Männer, die | |
| feierten, dass sie nicht wählen gingen. Sie sind Anhänger des wichtigsten | |
| sunnitischen Politikers und [2][Ex-Regierungschefs Saad Hariri]. Er | |
| boykottierte aus Protest „gegen das System“ die Wahl. | |
| In den von der schiitischen Hisbollah kontrollierten Gebieten gab es | |
| mehrere gewaltsame Zusammenstöße. Laut des Verbandes für demokratische | |
| Wahlen (Lade) sind mehrere ihrer Beobachter*innen in Wahllokalen | |
| angegriffen worden, unter anderem in der Bekaa-Region, wo die Hisbollah | |
| besonders stark ist. Aus derselben Region meldete die christliche Partei | |
| Libanesische Kräfte, mehrere ihrer Vertreter*innen seien geschlagen | |
| worden. Die Hisbollah soll auch Straßen blockiert haben, diese hätten dann | |
| nur ihre Anhänger passieren dürfen. | |
| Das unabhängige Medium @megaphonenews schrieb, der Videojournalist Hussein | |
| Bassal sei vor dem Büro der alternativen Liste Gemeinsam für Wandel in der | |
| südlichen Stadt Ansar von schiitischen Anhängern geschlagen worden – weil | |
| er [3][Verstöße in den Wahllokalen] filmte. Schon im Vorfeld waren | |
| alternative Kandidat*innen von Schlägertrupps getreten und geschlagen | |
| worden. | |
| Lade dokumentierte auch, wie Menschen anderen beim Wählen über die Schulter | |
| schauten. Wahlbeobachter*innen sowie Journalist*innen der | |
| Tageszeitung L’Orient-Le Jour berichteten, dass Parteidelegierte mit in die | |
| Wahlkabinen gingen, unter dem Vorwand, die Wähler*innen seien | |
| Analphabeten oder benötigten Hilfe aufgrund einer Behinderung. Die | |
| Reporter*innen sprachen in mehreren Teilen des Landes mit Menschen, die | |
| für ihre Stimme Geld angeboten bekamen. Im armenischen Viertel Bourj | |
| Hammoud in Beirut hätten Männer vor einem Wahllokal Wähler*innen | |
| angesprochen und ihnen bis zu 200 US-Dollar für eine Wählerstimme geboten. | |
| ## Aufgeheizte Stimmung in Beirut | |
| Am Wahltag in Beirut fahren Autos mit laut dröhnender Musik, geben | |
| Hupkonzerte, Parteianhänger schießen dabei in die Luft. Bewaffnete | |
| Soldat*innen stehen um die Wahllokale, um für Sicherheit zu sorgen. Vor | |
| den Parteizentralen versammelten sich Menschen auf der Straße. Rund 50 | |
| Meter vom Wahllokal im Beiruter Stadtteil Aschrafieh entfernt hatten | |
| Parteianhänger*innen Zelte in den Farben ihrer Partei aufgestellt – | |
| angeblich, um den Menschen zu „helfen“, die nicht wüssten, wie das Wählen | |
| geht. | |
| In Beirut I, einem wichtigen Wahlkreis für alternative Parteien, kommt die | |
| 46-jährige Maya Metni gerade aus einer zum Wahllokal umfunktionierten | |
| Schule. „Ich hoffe auf einen Wandel“, sagt sie. „Dass jemand kommt und si… | |
| um den Libanon schert.“ Metni ist selbst Lehrerin und verdient umgerechnet | |
| rund 165 Euro im Monat. Das reiche gerade für die Miete und den | |
| Stromgenerator. | |
| „Wegen der [4][Wirtschaftskrise] können wir nichts kaufen, unser Geld | |
| steckt in den Banken fest, sie geben es uns nicht.“ „Wir möchten | |
| durchgängig Strom haben“, ergänzt ihre Schwester Zena Metni. „Selbst die | |
| Krankenhäuser schließen, weil die Ärzt*innen das Land verlassen.“ | |
| Trotzdem sind die Schwestern gegen ein säkulares Wahlsystem. „Wir wären | |
| sonst nicht repräsentiert“, sagt Maya Metni, die eine silberne Kette mit | |
| einem Kreuz trägt. Sie habe vor allem vor den schiitisch-muslimischen | |
| Parteien Angst, die sonst die Mehrheit im Parlament haben könnten. „Wir | |
| haben versucht, Christen zu finden, die sich um uns Leute kümmern“, sagt | |
| sie. | |
| 17 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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