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# taz.de -- Parlamentswahlen im Libanon: „Leute, die von hier sind“
> Die etablierten Parteien überbieten sich mit Werbeplakaten und
> Geschenken. Alternative Parteien setzen auf Nähe, so wie die von Obeida
> Takriti.
Bild: Tripoli und seine Umgebung zählen zu den ärmeren Gebieten des Libanon
Beirut taz | Genau eine Woche vor den libanesischen [1][Parlamentswahlen]
sitzt Kandidat Obeida Takriti mit Syrer*innen im Café Warshe 13 in
der nordlibanesischen Stadt Tripoli zusammen – obwohl diese im Libanon gar
nicht wählen dürfen. Seine Partei hat einen syrischen Ökonom eingeladen,
für ein Gespräch mit syrischer und libanesischer Jugend.
Sollte der Kandidat nicht lieber mit Megafon auf der Straße stehen oder an
Türen klopfen, um für sich zu werben? Takriti lacht. „Die Wahlen sind
organisiert und kreiert von der herrschenden Klasse“, sagt er. „Sie sind
ein Theater, um Legitimität zu manifestieren. Wir müssen dieses
Theaterstück als Gelegenheit nutzen, um mit den Menschen zu reden.“
Wenn er heute durch seine Stadt Tripoli gehe, die zweitgrößte des Landes,
und zehn Menschen treffe, seien darunter nur sechs Libanes*innen, sagt er:
drei davon frustrierte Nichtwähler, drei weitere wählten nicht in Tripoli.
Die anderen vier seien drei Syrer*innen und ein Palästinenser. „Das ist
die Realität der Gesellschaft.“
Diese verschiedenen Gruppen möchte seine Partei „Bürgerinnen und Bürger in
einem Staat“, kurz [2][Mmfid], zusammenbringen. Ihr Hauptanliegen ist ein
säkularer Staat – oder wie Takriti sagt: „Ein ziviler Staat, der alle
integriert.“ Die Partei spricht mit Militärs im Ruhestand, mit
Arbeitsverbänden oder Palästinenser*innen. „Wenn wir von
Gesundheitsversorgung oder Bildung sprechen, dann fordern wir das für alle
Einwohner*innen.“
## Hunderttausende gegen Korruption
So banal das klingt, so radikal ist es ist Libanon. Hier leben 18
Religionsgemeinschaften. Während des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 haben
sich Milizen in verschiedenen Konstellationen bekämpft – um den Frieden
zwischen den Konfessionen zu sichern, beteiligt ein kompliziertes
Quotensystem alle an der Macht.
Es ist der Versuch, möglichst alle Bevölkerungsgruppen am politischen Leben
teilhaben zu lassen. Doch in der Realität hat das Konfessionssystem
Klientelismus und Korruption die Türen geöffnet, den Staat zerfressen.
Gegen dieses System gingen im [3][Oktober 2019] Hunderttausende im ganzen
Land auf die Straße. „Selbst wenn ich bei der Müllabfuhr arbeiten möchte,
bräuchte ich Vitamin-B“, erklärte damals ein Eisverkäufer auf dem
Märtyrerplatz in Beirut seinen Frust. Sie protestierten gegen die
Unfähigkeit der Regierung, den Staatsbankrott abzuwehren und gegen ihre
Politik, die in die Taschen der Armen langt, aber die reichen, eng mit der
Politik Verbundenen, nicht zur Kasse bittet.
Auch Takriti war 2019 fast täglich auf der Straße. Neben dem zentralen
Nour-Platz in Tripoli hatte er gemeinsam mit Freund*innen ein Zelt
aufgestellt und jeden Tag eine Diskussionsrunde veranstaltet – über
Wünsche, Hoffnungen und Forderungen. Für Takriti war und ist das die wahre
Form der Politik: Man höre viele unterschiedliche Perspektiven, es gäbe
Streitereien, Argumentationen, Konsens.
## Nach 2019 gründeten sich viele Initiativen
Auch in diesen Tagen ist er viel unterwegs. Seine Stimme ist angeschlagen
vom vielen Reden. Ist er ein Aktivist, der nun in die Politik gegangen ist?
„Ich mochte immer die Idee, die Leute zu bewegen, sich in der Politik
einzubringen.“ Er findet die Annahme, die libanesische Opposition sei die
Zivilgesellschaft seltsam. „Ich definiere mich als Mitglied einer
politischen Partei, die versucht, zivile Akteur*innen und diejenigen,
die aus dem derzeitigen System herausfallen, dazu zu bringen, mit uns auf
einen funktionierenden Staat zu drängen.“
Aus den Protesten 2019 haben sich viele Initiativen, politische
Gruppierungen und Parteien gebildet. Einige, die sich nun für die Wahlen
aufstellen lassen, stammen aus der Zivilgesellschaft: Ein
[4][Umweltingenieur], der sonst Projekte zum Schutz der Umwelt umsetzt. Ein
[5][Filmregisseur], der schon 2015 gegen sich ansammelnden Müll in den
Straßen protestiert hat und Politiker in den sozialen Medien zur
Verantwortung ziehen möchte. Eine [6][Landschaftsarchitektin], die sich in
Kampagnen für den Erhalt von öffentlichen Plätzen einsetzt. Sie sammeln
private Spenden, während etablierte Parteien von reichen Geschäftsmännern
gefördert werden.
Wie Bahaa Hariri, Bruder des Ex-Ministerpräsidenten Saad Hariri. Während
sich [7][der eine Bruder aus der Politik zurückgezogen hat], hat der andere
eine eigene Partei gegründet – neben vielen großen Straße im Libanon kleben
nun Werbeplakate für „Zusammen für den Libanon“. Oder der Multimillionär
[8][Omar Harfouch], der in Tripoli antritt und sich als Stimme der
Opposition inszeniert. Wahlen sind eine Frage des Geldes: Wer kann es sich
leisten, die Stadt mit Plakaten seines Gesichts zuzupflastern?
Tripoli bildet den Libanon im Kleinen ab: Es beherbergt sehr reiche Männer,
wie den derzeitigen Ministerpräsidenten Nadjib Mikati. Gleichzeitig sind
den Vereinten Nationen[9][zufolge] 85 Prozent der Haushalte im Nordlibanon
arm: Sie leben ohne Arbeit, Krankenversicherung oder sauberes Wasser.
## Die Botschaft: Wir sind ein Teil von euch
Takriti kommt aus Bab el Raml, einem armen Viertel in Tripoli. Am Abend
möchte er die Leute dort von sich überzeugen. Auf einem gefliesten Platz
stehen Plastikstühle um Tische, Männer rauchen Wasserpfeife oder spielen
Karten, es riecht nach verbranntem Hühnchen vom Grill nebenan. Eine
Bauleuchte bestrahlt den Platz, grelle Lichterschläuche sind um die Bäume
gewickelt. Auf einem Tisch steht eine mobile Lautsprecherbox. Takriti
spricht in das Mikro und stellt sich als Sohn der Nachbarschaft vor.
„Wir wissen nichts über die Themen und Programme bei den Wahlen“, sagt ein
junger Mann. „Dafür sind wir hier“, antwortet Takriti. „Wir machen keine
Werbung im Fernsehen. Wir kommen und reden über unsere Themen.“ Ein anderer
sagt: „Wo wart ihr die ganze Zeit? Wir kennen euch nicht.“ Takriti
antwortet: „Viele von uns waren auf den Plätzen“, und meint die Schauplät…
der Proteste von 2019.
Takritis Botschaft ist klar: Wir sind ein Teil von euch. Doch das sagen
auch die alteingesessenen Parteien. Die Verteilung der Wahlbezirke im
Libanon folge konfessionellen Quoten, sagt Aly Sleem. Er ist
Geschäftsführer des [10][libanesischen Verbands für demokratische Wahlen],
der die Wahlen überwacht und Wahlverstöße dokumentiert. „Wir haben 218
Sitze, die zwischen den Konfessionen verteilt werden.“ Die Wahlbezirke
untermauern so das politisch-konfessionelle System und führen zu
Klientelismus. In Tripoli gebe es zwar verschiedene sunnitische
Führungspersonen, doch kein Schiit konkurriere dort mit ihnen. Umgekehrt
habe niemand es bisher gewagt, die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah
in ihrer südlibanesischen Hochburg zu konfrontieren.
„Wir wählen diejenigen, die gegen Hisbollah sind!“, ruft ein Mann, der von
seinem Stuhl aufgesprungen ist. Takriti zeigt ihm ein Foto, auf dem der
schiitische Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und der christliche Samir
Geagea, Kopf der Partei Lebanese Forces, sich die Hände schütteln. Er
möchte zu verstehen geben: Auch wenn sie sich vordergründig die Schuld für
die Misere zuschreiben, stecken die Parteien unter einer Decke.
## Die alternativen Parteien haben keine vereinte Front
Mit den Wahlen hat sich im [11][Bezirk Süden III] zum ersten Mal eine
Opposition in einer einheitlichen Liste gegen die Hisbollah und ihre
Schwesterpartei formiert. Doch das ist eine Ausnahme. Die alternativen
Parteien haben es sonst nicht geschafft, eine vereinte Front gegen die
Altparteien zu bilden. Streit entbrannte nicht nur über Personalien,
sondern auch über die rechte, nationalistisch-christliche Partei Kataeb,
deren Mitglieder nach der [12][Hafen-Explosion 2020] als Erstes
zurückgetreten sind und sich seither als Teil der Opposition inszenieren.
Weil sie Unterschiede in den Programmen sehen oder Persönlichkeiten aus dem
Establishment ausschließen wollen, konkurrieren in wichtigen Wahlkreisen
die Listen der Alternativen.
„Warum tut ihr euch nicht mit größeren Parteien zusammen?“, wird Takriti
gefragt. Der antwortet: weil bei anderen Parteien, etwa der von Bahaa
Hariri, das Geld aus dem Ausland käme – und damit auch eine politische
Agenda.
Wählenden gäben ihre Stimme nicht nur den Kandidaten des gleichen
Geschlechts und der gleichen Religion, sondern auch dem bekannteren und
besser vernetzten, erklärt Sleem. Das Gesetz selbst verbiete es nicht,
Dienstleistungen als Geschenk anzubieten, auch nicht während des
Wahlkampfs. Deshalb grillt der Schwiegersohn des Präsidenten Fleisch, das
er kostenlos verteilt.
Kleinen Gefälligkeiten kommt derzeit eine größere Bedeutung zu. Seit 2019
hat die lokale Währung, die libanesische Lira, über 90 Prozent ihres Werts
verloren. Essen sei um das Elffache [13][teurer geworden], sagt das
Welternährungsprogramm.
## Die Chancen der Alternativen sind gering
Dass die konfessionellen Bindungen noch immer stark sind, merkt auch
Takriti. Am Mittag sitzt er mit Freund*innen zusammen, die noch nicht so
richtig überzeugt sind. Er redet von sozialer Gerechtigkeit, und davon,
dass reiche Politiker zurzeit öfter die Kosten für Gesundheitsbehandlungen
von potenziell Wählenden übernehmen. Auch Sarah Omari, die sich selbst als
konservativ bezeichnet, hört zu. Eine ihrer Sorgen: Dass alternative
Parteien ein ziviles Familiengesetzbuch einführen möchten – anstelle
des derzeitigen, in dem jede religiöse Gruppe ihre eigene Grundlage –
etwa die Bibel – hat. „Ich glaube, das gefährdet die Identität“, sagt s…
In vielen Bezirken seien die Chancen der Alternativen gering, so Sleem. Die
Wahlhürde für einen Sitz ist je nach Gebiet unterschiedlich – im Distrikt
Aley sei sie am geringsten mit 7 Prozent. Im südlichen Saida liege sie bei
20 Prozent – fast unmöglich also. Bei den Wahlen 2018 gab es auch
oppositionelle Parteien, doch nur eine Kandidatin kam ins Parlament.
Für Takriti geht es nicht darum, zu gewinnen. „Wir haben schon etwas
erreicht“, sagt er stolz: „Wir haben Politiker*innen präsentiert, die
wirklich über Politik reden, nicht über Dienstleistungen. Leute, die von
hier sind – und nicht aus der Bourgeoisie.“
Zumindest die Diskurse haben sich verschoben. Eine Bürgerjournalistin teilt
bei einer Diskussion eine Beobachtung: Bei der Freitagsansprache in der
Moschee habe der Imam gesagt, die Leute sollten wählen, was gut für das
Land Libanon sei, nicht für die muslimische Gesellschaft. Das habe er zuvor
noch nie so formuliert.
13 May 2022
## LINKS
[1] /Parlamentswahl-im-Libanon/!5853309
[2] https://mmfidawla.com/de/
[3] /Ausschreitungen-im-Libanon/!5640613
[4] https://www.instagram.com/ziad_abichaker/?hl=de
[5] https://www.instagram.com/lucien_bourjeily/?hl=de
[6] https://fundahope.com/campaigns/lets-get-sarah-yassine-to-parliament-2022
[7] /Regierungsbildung-in-Libanon/!5787227
[8] https://www.instagram.com/omarharfouch/
[9] https://lebanon.un.org/en/143629-multidimensional-poverty-lebanon-2019-2021…
[10] http://www.lade.org.lb/Home.aspx
[11] https://www.youtube.com/watch?v=paOk4hcKXcE
[12] /Nach-Hafen-Explosion-im-Libanon/!5845412
[13] /Getreidemangel-im-Libanon/!5844719
## AUTOREN
Julia Neumann
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