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# taz.de -- Drogenkonsum in Syrien und Libanon: Pillen, um dem Leben zu entflie…
> Captagon-Pillen sind in Syrien und Libanon beliebt, um mit dem Alltag
> umgehen zu können. Der Staat hilft kaum, NGOs springen ein.
Bild: Pillen im Tee: Drogenfund in Beirut im Januar 2022
Beirut taz | In Orangen, Milchpackungen, Teebeuteln oder auch in süßem
Baklava: Captagon-Produzierende in Syrien und Libanon sind kreativ, wenn es
darum geht, die Droge zu verpacken und vor dem Zoll zu verstecken. Die
Amphetamine sind ein großes Problem in der Levante: Der Krieg in Syrien,
der sich gerade zum elften Mal jährt, und die [1][seit 2019 anhaltende
Wirtschaftskrise] im Libanon haben die Kosten für Medizin, Benzin, Strom
und Essen in die Höhe getrieben.
Lokal produziertes Captagon ist billiger als importiertes Essen. Die Droge
hat auch den Krieg in Syrien befeuert – Kämpfer aller Seiten nehmen
Captagon, um ein Hochgefühl zu haben und konzentrierter zu schießen. Von
der Produktion und dem Verkauf wiederum profitiert Syriens Präsident Bashar
al-Assad. Captagon ist ein wichtiges Exportgut und eine beachtliche
Einnahmequelle. Denn internationale Sanktionen machen es dem Regime schwer,
über legale Wege an Geld zu kommen.
Laut des UN-Büros für Drogenbekämpfung wird Captagon hauptsächlich im
Libanon und [2][in Syrien hergestellt]. Von dort aus geht es vor allem nach
Saudi-Arabien, aber auch bis nach Malaysia oder Österreich. 2020
beschlagnahmten Behörden weltweit Pillen im Wert von 3 Milliarden
US-Dollar, davon 35 Tonnen alleine aus Syrien. [3][Saudi-Arabien hat im
April 2021 den Import von Früchten und Gemüse aus dem Libanon verboten],
nachdem der Zoll in der Hafenstadt Jeddah fünf Millionen Captagon-Pillen
fand. Die Fracht kam aus dem Libanon, versteckt in Granatäpfeln. Trotzdem
ging der Schmuggel weiter, im darauffolgenden Dezember fanden libanesische
Behörden nach eigenen Angaben 9 Millionen Pillen, bestimmt für den Golf.
Die Generaldirektion für Drogenkontrolle in Saudi-Arabien sagt, sie hätten
in den vergangenen sechs Jahren 600 Millionen Amphetaminpillen
beschlagnahmt. Der Sprecher der Direktion beschuldigte die
Hisbollah-Terrormiliz, „die Hauptquelle zu sein, die sie schmuggelt und
herstellt“. Die schiitische Partei und Miliz kommt aus dem Libanon und wird
finanziell vom Iran unterstützt. Die Partei bestreitet die Anschuldigungen.
Es ist aber gut möglich, dass auch ihre Kämpfer die Droge genommen haben,
um dem Assad-Regime im Kampf gegen Oppositionelle zu helfen.
## Drogen als Flucht aus dem schwierigen Alltag
„Captagon ist ein Upper“, erklärt Tatyana Sleiman, Geschäftsführerin
[4][des libanesischen Suchtzentrums Skoun]. „Es macht wach und energetisch,
lässt einen drei Nächte durchmachen. Es reduziert das Hungergefühl und das
Kälteempfinden. Es ist die optimale Droge für Menschen, die kämpfen, weil
es ihre Ausdauer erhöht und den Essensbedarf verringert.“
Nicht nur in Syrien, sondern auch im Libanon ist Captagon beliebt, um
Alltagsproblemen zu entgehen. Die libanesische Lira hat rund 90 Prozent
ihres Wertes verloren. Benzin, Medizin, selbst Brot und Reis sind seit 2019
um das bis zu 20-Fache teurer geworden. In den Häusern sind keine
Heizkörper verbaut, auch im März noch zieht der Wind durch die dünnen
Wohnungswände. Es gibt nur zwei Stunden am Tag Strom, die Preise für
Stromgeneratoren übersteigen längst die Kaltmieten. Vor allem im
Nordlibanon, in der Nähe der Grenze zu Syrien, greifen viele zur günstigen
Captagon-Pille, um mit alledem umzugehen.
Entwickelt wurde Captagon im Jahr 1961 von dem deutschen Pharmaunternehmen
Degussa. Das Medikament sollte
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und die
Schlafkrankheit Narkolepsie behandeln. In den 1980er Jahren verboten jedoch
viele Staaten das Medikament, da es stark abhängig machen kann.
Die gemeinnützige Organisation Skoun ist die erste ambulante therapeutische
Einrichtung für Drogensüchtige im Libanon. Sie helfen Drogenabhängigen, mit
der Sucht umzugehen und die Schäden zu begrenzen. Außerdem klären sie in
Schulen über Drogensucht auf.
Mit der Wirtschaftskrise kämen auch Menschen aus zuvor höheren sozialen
Schichten, die sich nun die Therapie in privaten Kliniken oder im Ausland
nicht mehr leisten können, sagt Geschäftsführerin Sleiman. „Wer arm ist,
lässt sich heute im Libanon nicht so leicht sagen. [5][Jemand, der
Hunderttausend US-Dollar auf einem Bankkonto hat, sie aber nicht ausgezahlt
bekommt, kann heute als arm betrachtet werden.“] Mit der Finanzkrise
stoppten die Banken die Auszahlung von US-Dollar – sonst eine gängige
Währung. Auch das Gehalt gut ausgebildeter Menschen wie Ärzt*innen
schrumpfte um das 20-Fache.
## Personalmangel erschwert die Behandlung
„Das große Problem, das wir heute haben, ist nicht unbedingt, welche
Schicht zu uns kommt. Es ist eher die Tatsache, dass wir im Libanon nicht
mehr genügend personelle Ressourcen haben, um zu behandeln. Wir haben
vielleicht noch 20 von den insgesamt 90 Psychiater*innen, die wir
landesweit hatten. Viele Therapeut*innen und Pfleger*innen sind
gegangen.“
Ein Psychiater gibt weiter Onlinesessions aus dem Ausland. Und die
Organisation hat das Glück, ihre Angestellten in Dollar bezahlen zu können.
Ihre Geldgeber*innen kommen aus dem Ausland. So konnte Skoun unter
anderem 501 Menschen mit 3.600 Therapie-Einheiten helfen. Das Ziel ist
dabei, statt eines kalten Entzugs die Schäden zu begrenzen. „Wir erkennen
an, dass Menschen Drogen wie [6][Haschisch] oder Alkohol als
Selbstmedikation nehmen. Deshalb versuchen wir, deutlich zu machen, dass
die Situation, so schlimm sie auch ist, nur temporär ist, es aber weitaus
schlimmere Folgen hat, wenn sie ihre Gesundheit schädigen.“
Statt die Politiker, Businessmänner und Drogenbosse festzunehmen, sitzen in
den libanesischen Gefängnissen die Konsument*innen. Jährlich, sagt Sleiman,
würden 3.000 Menschen wegen Drogenkonsums festgenommen. Manche kommen statt
ins Gefängnis in Behandlung. „Unser Gesetz garantiert das Recht auf den
Zugang zur Behandlung. Anstatt dass sie im Gefängnis landen, bringen wir
sie in Behandlungszentren. Und dann kommunizieren wir direkt mit dem
Justizministerium, dass sie in Behandlung sind.“ Gehen sie regelmäßig zur
Sitzung, wird nach sechs Monaten der Eintrag aus dem Strafregister
gelöscht.
## Hilfe statt Kriminalisierung
Skoun fordert die Dekriminalisierung von Drogenkonsum. „Die Beweislage
weltweit ist klar: Der Krieg gegen Drogen ist nicht durch die
Kriminalisierung von Drogenkonsument*innen erreicht worden. Im
Gegenteil, die Nachfrage und das Angebot von Drogen haben die
Drogenkriminalität erhöht.“ Stattdessen wünscht sich Sleiman einen
„gesundheitsorientierten“ Ansatz. Das Gesundheitsministerium unterstütze
die Idee, den Menschen „die Pflege zu bieten, die sie brauchen, statt sie
im Gefängnis zu bestrafen“. „Wir haben dem Parlament einen Gesetzentwurf
vorgelegt. Der liegt jetzt seit vier Jahren im Parlament.“ Die Organisation
versucht, den Entwurf bei einigen Abgeordneten wieder ins Gedächtnis zu
bringen, damit er im Parlament auf die Agenda kommt.
Mitten in der Wirtschaftskrise scheint das kein dringendes Problem zu
sein. Doch die Reform der Drogenpolitik könnte hilfreich für die allgemeine
Gesundheit sein. Und nicht nur das: Statt Menschen einzusperren, spart der
Staat Geld und entlastet so zumindest etwas die marode Staatskasse. Im
Libanon [7][stehen bald Wahlen an]. Vielleicht regt das einige
Politiker*innen an, sich dem Problem anzunehmen.
18 Mar 2022
## LINKS
[1] /Krise-im-Libanon/!5798991
[2] https://www.nytimes.com/2021/12/05/world/middleeast/syria-drugs-captagon-as…
[3] https://www.reuters.com/world/middle-east/saudi-import-ban-deals-another-bl…
[4] https://www.skoun.org
[5] https://www.zawya.com/en/economy/levant/depositors-seek-justice-from-lebane…
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/roter-libanese-101.html
[7] http://www.libanesische-botschaft.info/index.php/de/libanon/leben-arbeiten-…
## AUTOREN
Julia Neumann
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