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# taz.de -- Vertuschung im Libanon: Für ein Ende der Straflosigkeit
> Vor einem Jahr wurde der Hisbollah-Kritiker Lokman Slim ermordet. Die
> Familie des Intellektuellen kämpft für Aufklärung.
Bild: „Keine Angst“ steht unter dem Foto von Lokman Slim: Protest im Februa…
Beirut taz | Wut sei es, sagt Monika Borgmann-Slim, Wut, die sie
weitermachen lässt. [1][Vor einem Jahr wurde ihr Mann, Lokman Slim,
ermordet.] Slim war Archivar, Verleger, Aktivist, Dokumentarfilmer, vor
allem aber ein bekannter intellektueller Kommentator des politischen
Geschehens im Libanon. Er schrieb für Zeitungen und trat im Fernsehen auf;
er setzte sich dafür ein, die gewalttätige Vergangenheit des Landes
aufzuarbeiten und stand für einen demokratischen, antirassistischen
Libanon.
Der Schiit kritisierte in seiner Arbeit offen die schiitische Partei und
Miliz Hisbollah, in deren Gebieten er nicht nur lebte, sondern erschossen
wurde. Obwohl die Tat bereits ein Jahr her ist, wurde bisher niemand
angeklagt oder verhaftet.
„Ich habe eine Trauer in mir, für die ich keine Worte habe. Aber ich habe
auch eine immens große Wut“, sagt Borgmann-Slim. Sie sitzt in einem Büro in
der Slim-Villa, an den Wänden sind die Regale voller Bücher. Gemeinsam hat
das Paar 2004 das Dokumentations- und Recherchezentrum UMAM aufgebaut. In
den Regalen im Büro zeugen Zeitungsartikel, Fotos und Bücher von dem
libanesischen Bürgerkrieg, in dem sich 1975 bis 1990 konfessionell geprägte
Milizen in verschiedenen Konstellationen bekämpften.
Statt einer Aussöhnung gab es am Ende einen Waffenstillstand und eine
kollektive Amnestie. Aber Frieden könne nur erreicht werden, wenn die
Vergangenheit verstanden und aufgearbeitet wird, so das Credo von UMAM.
„In allem, was wir gemacht haben“, sagt Borgmann-Slim, „stand dieser Kampf
gegen die Kultur der Straflosigkeit im Mittelpunkt. In diesem Sinne ist es
für mich unmöglich zu akzeptieren, dass Lokman nicht nur getötet, sondern
regelrecht exekutiert wurde.“
## Mörder müssen zur Verantwortung gezogen werden
Seit der Unabhängigkeit des Landes 1943 wurden [2][mindestens 220
politische Morde und Mordversuche dokumentiert]. Politiker, Diplomaten,
Journalisten, Aktivisten und Richter starben – ohne dass ihre Täter
identifiziert und angeklagt wurden. „Ich bin heute nicht mehr die
Außenseiterin, die irgendwelche Morde analysiert, sondern ich bin
mittendrin“, sagt Borgmann-Slim. „Und was ich versucht habe, der
internationalen Community zu sagen: Wenn wir zulassen, dass es für Lokman
keine Gerechtigkeit gibt, dann bedeutet das eine Green Card für – wer auch
immer die Mörder sind – weiterzumachen. Ohne Angst, zur Verantwortung
gezogen zu werden.“
Das UMAM mit seinem Archiv in der Villa Slim, in der das Paar auch gewohnt
und gearbeitet hat, liegt inmitten des belebten Viertels Haret Hreik im
Süden Beiruts. Das Viertel wird von der schiitischen Hisbollah
kontrolliert. Die Hisbollah ist eine Partei in der Regierung und im
Parlament, aber auch eine Miliz. Ihre Existenzberechtigung sieht sie im
Kampf gegen den Erzfeind Israel.
Die Ausstellungen und Debatten des UMAM in der Villa der Slims wurden auch
von Angehörigen anderer Konfessionen besucht, die sonst vielleicht niemals
in das Hisbollah-Viertel gekommen wären.
## Das zuvor offene Tor wird nun bewacht
Am ersten Jahrestag des Mordes an Slim gibt es eine Gedenkzeremonie in der
Villa. Überall sind bewaffnete Mitglieder des libanesischen Militärs zum
Schutz postiert. Auf dem Balkon, im weitläufigen Garten mit seinen hohen
Bäumen und Yuccapalmen und vor dem Tor.
Die Türen des hohen, schwarzen, mit goldenen Blumen verzierten Tores stehen
weit offen. Slim habe sich immer dafür eingesetzt, sagte seine Schwester
Rasha El Ameer kürzlich in einem Podcast, dass das Tor zum UMAM für alle
offen steht. Er sagte es selbst dann noch, als er bedroht wurde, als, wie
im Dezember 2019, Morddrohungen an die Wände des Hauses geschmiert wurden.
Daraufhin hatte er eine Erklärung abgegeben: Sollte ihm oder seiner Familie
etwas passieren, schrieb er die Handlungen dem Hisbollah-Chef Hassan
Nasrallah und dessen verbündetem Parlamentssprecher Nabih Berri zu.
Anders als zuvor wird das offene Tor nun schwer bewacht, während die Gäste
zur Gedenkfeier eintreffen. Zehn Botschafter*innen haben sich
angekündigt, darunter die deutsche Vertretung sowie die Gesandte der
Vereinten Nationen und der Vertreter der EU im Libanon. Sie alle
bekräftigen in ihren Reden, wie bedeutend Slims Arbeit für den Libanon war
– und fordern ebenfalls Gerechtigkeit.
Lokman Slim wurde am 3. Februar 2021 ermordet. Der 58-Jährige war in einem
Leihwagen unterwegs, um einen Freund in Niha, im schiitisch dominierten
Süden des Landes, zu besuchen. Nach ausgedehnten Gesprächen machte er sich
am Abend auf den Heimweg. Wie Journalist*innen der Zeitung L’Orient-Le
Jour rekonstruierten, müssen ihm zwei Autos gefolgt sein. Slim wurde
entführt und einen Kilometer entfernt von der Autobahn im geliehenen Auto
mit sechs Schüssen ermordet. Die Täter sind bis heute nicht identifiziert.
Das liegt wohl daran, dass die Untersuchung zunächst von einer
Staatsanwaltschaft im Gebiet der Hisbollah geleitet wurde. Im Juni 2021
ging der Fall an einen Untersuchungsrichter in Beirut. Doch
höchstwahrscheinlich sind auf dem Weg mehrere Hinweise und Beweise
verschwunden.
## Seinen Mut bezahlte Slim wahrscheinlich mit dem Leben
Dass Beweise verschwinden und Ermittlungen behindert werden, erinnert an
die Untersuchung der Explosion von Beirut. Am 4. August 2020 explodierte
Ammoniumnitrat im Hafen der Stadt. Der Untersuchungsrichter wird durch
Proteste und Klagen der Hisbollah und ihrer Verbündeten immer wieder an der
Arbeit gehindert.
Einen Tag nach der Explosion hatte Slim im Fernsehen darauf hingewiesen,
dass die Fassbomben des syrischen Regimes ebenfalls Ammoniumnitrat
enthielten. Die Hisbollah unterstützte Assads Krieg. Dass Slim den Mut
hatte, solche und ähnliche Zusammenhänge zu benennen, kostete ihn am Ende
vermutlich das Leben.
Monika Borgmann-Slim führt derweil die gemeinsame Arbeit weiter. Sie hat
die Lokman-Slim-Stiftung gegründet, die sich um Aufklärung politischer
Morde und die Unterstützung der Angehörigen politisch Ermordeter kümmert.
Zudem beschäftigt sich das Mena Prison Forum, das zum UMAM gehört, mit den
Gefängnissystemen in der Region. „Ich denke nicht, dass sich vor drei
Jahren jemand vorgestellt hat, dass wir die Koblenz-Tribunale haben. Aber
sie fanden statt“, sagt Borgmann-Slim. Sie meint [3][den Prozess gegen
Anwar R., der für Assads Regime in Syrien folterte, in Koblenz vor Gericht
stand und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.] „Das heißt doch“, sagt
Borgmann-Slim, „dass Geschichte sich verändern kann und das gibt mir
Hoffnung.“
9 Feb 2022
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Hisbollahkritiker/!5745258
[2] /UN-Sondertribunal-zum-Mord-an-Hariri/!5707533
[3] /Historischer-Folter-Prozess-in-Koblenz/!5825396
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Libanon
Hisbollah
Attentat
Aufklärung
Schwerpunkt Syrien
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Beirut
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der Konfessionen, sondern eine Warnung an die, die Gerechtigkeit fordern.
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