| # taz.de -- Libanons Politiker ohne Bezug zum Volk: „Mutter der Revolution“… | |
| > Libanons Ministerpräsident hat sich zynisch über ein gesunkenes | |
| > Flüchtlingsboot geäußert. Im von Armut gebeutelten Tripoli sorgte das für | |
| > Aufruhr. | |
| Bild: Tripoli am 25. April: Trauerfeier für die ertrunkenen Bootsflüchtlinge | |
| Beirut taz | „Mutter der Revolution“ ist der Spitzname, den Protestierende | |
| Libanons zweitgrößter Stadt Tripoli bei Massenprotesten im Jahr 2019 | |
| gegeben haben. Und diese Mutter ist wieder da. | |
| Die Stadt im Norden beherbergt Libanons reichste Männer, darunter den | |
| Ex-Finanzminister Mohammad Safadi und den derzeitigen Ministerpräsidenten | |
| Nadjib Mikati. Letzterer besitzt laut Forbes ein Vermögen von umgerechnet | |
| 2,8 Milliarden Euro inklusive einer alten Villa an Tripolis Küste. | |
| „Der Reichtum dieses Milliardärs wurde aus dem Blut des Volkes angehäuft“, | |
| steht dort neuerdings auf eine Hauswand gesprüht. Protestierende warfen | |
| letztes Wochenende Steine auf das Sicherheitspersonal und stürmten das | |
| Anwesen. | |
| „Das ist Najib Mikati, ein Ministerpräsident, der in seinem Palast sitzt | |
| und jeden Tag in das beste Land geht und auf dem besten Bett schläft und | |
| das beste Essen isst“, schrie ein Protestierender in einem Video, das von | |
| dem unabhängigen Onlinemedium Megaphone geteilt wurde. „Und die Menschen | |
| versinken im Meer, und es ist ihm egal. Du Najib Mikati, sieh dir die Leute | |
| an, möge Gott dich demütigen.“ | |
| ## Militär macht Fluchthelfer verantwortlich | |
| Am 23. April war [1][ein Flüchtlingsboot mit vielleicht 60 Menschen] vor | |
| Tripolis Küste gekentert. Sieben ertranken, das Militär sagt, es konnte 47 | |
| retten. Noch immer werden Menschen vermisst, die genaue Zahl ist | |
| umstritten, in den sozialen Medien ist von über 30 Vermissten die Rede. | |
| Überlebende warfen der Marine vor, das Schiff absichtlich gerammt zu haben, | |
| um es zu stoppen. Der Überlebende Maher Hamoudeh, 23 Jahre alt, erzählte | |
| Londons arabischer Zeitung The New Arab: „Um 20.30 Uhr tauchten zwei | |
| Armeeboote auf und fingen an, uns zu jagen, eines war groß. Sie machten | |
| Wellen, dann rammte uns das große und machte kehrt, um uns zu versenken, | |
| was nicht funktionierte.“ Das Militär wiederum beschuldigte Fluchthelfer, | |
| das Boot überladen zu haben. | |
| Nach dem Unglück war die Stadt in Aufruhr: Junge Männer schossen mit | |
| Gewehren in die Luft, vor Innenminister Bassam Mawlawis Residenz in Tripoli | |
| wurde demonstriert. Die Menschen sind sauer: Denn Tripoli gehört zu | |
| Libanons ärmsten Städten und wird seit Jahren von seinen reichen Politikern | |
| ignoriert. | |
| Bürgermeister Riad Yamak sagte 2020 der Financial Times, seine Stadt sei so | |
| knapp bei Kasse, dass sie „ihre Aufgaben nicht so erfüllen kann, wie sie | |
| sollte“. | |
| ## Flucht vor der Wirtschaftskrise | |
| Der Libanon durchlebt gerade die schlimmste Wirtschaftskrise seiner | |
| Geschichte. Die lokale Währung hat massiv an Wert verloren, Strom, Medizin | |
| und sogar Lebensmittel sind für viele unbezahlbar. | |
| Während Trauer und Wut noch immer Tripoli erfüllte, stoppte das Militär | |
| letztes Wochenende ein weiteres Boot, das dort abgelegt hatte, diesmal mit | |
| 85 Menschen. | |
| Fünf Personen wurden festgenommen, denen Fluchthilfe vorgeworfen wird. Sie | |
| sollen dafür 400.000 US-Dollar kassiert haben. Dass die Menschen ihr Geld | |
| zurückbekommen, ist unwahrscheinlich. Laut Vereinten Nationen wollten seit | |
| Anfang 2021 mehr als 1.500 Menschen den Libanon auf Booten verlassen. | |
| Laut der Rechtsorganisation Legal Agenda verbreiteten Bewohner Tripolis in | |
| den sozialen Medien inzwischen Videos, die erfolgreiche Überfahrten nach | |
| Zypern und Italien zeigten. „Erzählen Sie den Politikern, dass alle | |
| Menschen der Stadt bald mit Todesbooten auswandern werden“, soll ein Mann | |
| auf einem der Videos sagen. | |
| ## Ministerpräsident: Klassenunterschiede sind Gottes Werk | |
| Am Mittwoch erklärte Ministerpräsident Mikati dem Sender Tele Liban | |
| schließlich seine Sicht: „Logik“ diktiere, dass das Boot auf jeden Fall | |
| sinken musste, meinte er, womit er die Opfer für ihr Ertrinken selbst | |
| verantwortlich machte. | |
| Die Klassenunterschiede in Tripoli seien nun mal das Werk „Gottes“, so der | |
| Ministerpräsident. Denn Gott habe die Menschen in unterschiedlichen Klassen | |
| geschaffen. Die Stadtbewohner sollten doch dankbar für die Hilfe sein, die | |
| seine Institutionen in den letzten 15 Jahren geleistet hätten. | |
| Am Donnerstag wollte der Armeechef die Gemüter beschwichtigen. Er traf | |
| Überlebende sowie Angehörige der Opfer des gesunkenen Bootes. Sie erklärten | |
| ihm, dass die Wirtschaftskrise zur Flucht zwinge. Der Armeechef versprach | |
| eine „transparente und unparteiische“ Untersuchung und dass die Suche nach | |
| Vermissten fortgesetzt werde. Doch solle der Fall auch nicht | |
| instrumentalisiert werden. | |
| 6 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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