# taz.de -- Syrische Geflüchtete im Libanon: Flucht nach vorne | |
> Im Libanon herrscht eine humanitäre Krise. Trotz allem versucht die | |
> Ärztin Bayan Louis, geflüchteten Frauen ein würdevolles Leben zu | |
> ermöglichen. | |
Bild: „Frauenrechte sind Menschenrechte“, sagt die syrische Ärztin Bayan L… | |
MARJ, TAANAYEL UND BEIRUT taz | Der Staub legt sich beim ersten Schritt ins | |
Camp auf die Lunge. Aber der Staub sei besser als Schnee, besser als | |
Schlamm, sagen die Menschen, die hier leben. Es ist Ende April und endlich | |
trocken im libanesischen Bekaa-Tal, wenige Kilometer von der syrischen | |
Grenze entfernt. | |
Beim Betreten des Geflüchtetencamps in Marj steht die Sonne auf dem | |
höchsten Punkt, es ist Mittagszeit. Später im Jahr herrschen hier hohe | |
Temperaturen, im Winter ist es nass und sehr kalt. Die Geflüchteten in der | |
Region haben größere Probleme als das Wetter, doch blickt man auf die | |
Planen und Bretterverschläge, ist klar: Diese Zeltbehausungen halten | |
Überflutungen durch Regenstürme nicht stand und schützen nicht vor | |
Minusgraden. Inmitten dieser Zeltlager zu leben, bedeutet, würdelos zu | |
leben. | |
Aus jedem Zelt gucken gleich mehrere Köpfe. Sie gehören zu den rund 1,5 | |
Millionen Syrer:innen, die aktuell im Land sind. Die Zahl der Menschen, die | |
wegen des Bürgerkriegs seit 2012 in den benachbarten Mittelmeerstaat | |
geflohen sind, beruht auf Schätzungen der libanesischen Regierung. | |
Die letzte Volkszählung im Libanon fand 1932 statt und der Staat hindert | |
die Vereinten Nationen seit 2015 daran, die Syrer:innen offiziell als | |
Flüchtlinge zu registrieren. Nur rund 840.000 Geflüchtete aus Syrien sind | |
beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR offiziell registriert, rund 300.000 sollen | |
hier in der Bekaa-Region leben. Die aktuelle Situation im Libanon, so sagen | |
NGOs, sei eine vergessene Krise. Denn der Weltgemeinschaft ist nicht klar, | |
dass sich hier eine humanitäre Katastrophe abspielt. In einem Staat, der | |
immer [1][schärfer gegen Geflüchtete] vorgeht. | |
Seit Sommer 2019 rutscht das kleine Land im Nahen Osten nach Jahrzehnten | |
der Misswirtschaft und Korruption immer tiefer in die Krise. Die Preise für | |
Lebensmittel, Heizmaterial, Medikamente und Dinge des täglichen Bedarfs | |
sind immens gestiegen. | |
Nach aktuellen Hochrechnungen der Weltbank steht der Libanon mit einer | |
Inflationsrate von 352 Prozent bei Lebensmitteln an der Spitze der Länder | |
mit den höchsten Preissteigerungsraten der Welt, die Rede ist von der | |
„weltweit schwersten Wirtschaftskrise seit Mitte des 19. Jahrhunderts“. Das | |
trifft die Ärmsten am härtesten: Laut UNO leben mittlerweile bis zu 80 | |
Prozent aller Libanes:innen sowie 95 Prozent aller syrischen | |
Geflüchteten im [2][Libanon in Armut.] | |
Noch im Eingangsbereich des Lagers wird es binnen Sekunden hektisch. Immer | |
mehr Menschen kommen aus ihren Behausungen. Der Besuch der internationalen | |
Presse im Rahmen der Kampagne #InDenFokus, die die Johanniter-Auslandshilfe | |
zusammen mit rund 30 deutschen und internationalen Hilfsorganisationen ins | |
Leben gerufen haben, ist sorgfältig geplant und seit Wochen beim Militär | |
offiziell angemeldet. | |
Alle wissen, dass die Reise Aufmerksamkeit auf die alarmierende Situation | |
im Land schaffen soll. An diesem Dienstagmittag wirbelt sie hier aber | |
plötzlich doch zu viel Staub auf. Der Verantwortliche des Lagers, der | |
„Shawishe“, findet deutliche Worte auf Arabisch. Das Camp ist sofort zu | |
verlassen, yallah. | |
„Plötzlich teilte man uns mit, dass es eine neue Entscheidung der Regierung | |
gibt, wonach alle internationalen Besucher:innen, die die Lager besuchen, | |
eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums benötigen. Das ist neu“, | |
übersetzt Dr. Roy Abijoude von der Johanniter-Auslandshilfe. Der Druck auf | |
die syrischen Flüchtlinge, in ihr Land zurückzukehren, werde in letzter | |
Zeit immer größer, und die Regierung oder das zuständige Militär habe neue | |
Gesetze oder Entscheidungen zu diesem Zweck getroffen, so Abijoude. | |
Seit April kann Syrer:innen ihr Flüchtlingsstatus entzogen werden, falls | |
sie das libanesische Staatsgebiet verlassen. Laut Hilfsorganisationen | |
wurden seit Beginn des Jahres 1.500 Syrer festgenommen und mehr als 700 | |
davon nach Syrien abgeschoben. | |
Die Akteur:innen der humanitären Hilfe sind sich einig: Im Libanon wird | |
Flucht bekämpft, indem die Geflüchteten bekämpft werden. Menschen, die eh | |
schon am Boden liegen. Durch die Aufnahme Syriens in die Arabische Liga | |
könnte sich die Lage verschärfen. Besonders syrische Geflüchtete, die das | |
Land aus politischen Gründen verlassen haben, befürchten, dass es durch die | |
Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu mehr Abschiebungen kommen | |
wird. | |
Der Libanon befindet sich [3][im freien Fall]. Die Bildung einer neuen | |
Regierung ist bislang an innenpolitischen Machtkämpfen gescheitert. Die | |
politischen Spitzenposten werden unter den wichtigsten konfessionellen | |
Gruppen des Landes aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpfen. So soll | |
Präsident:in immer Christ:in, Regierungschef:in Sunnit:in und | |
Parlamentspräsident:in Schiit:in sein. Die politische Elite | |
schachert sich seit Jahrzehnten gegenseitig die Posten zu und bereichert | |
sich so auf Kosten der Bürger:innen. Eine besonders einflussreiche Rolle | |
spielt die mit dem Iran verbündete schiitische Hisbollah, die über eine | |
eigene Miliz verfügt. | |
Dr. Bajan Louis, 30, zupft sich das schwarze Kopftuch zurecht, fasst kurz | |
mit beiden Händen an ihren Mantel und zieht daran, als wolle sie mit ihrer | |
Kleidung sagen: Weiter geht’s, nicht aufhalten lassen. Die Ärztin hat als | |
Projekt-Koordinatorin der Organisation „Multi Aid Programs“, kurz MAPS, den | |
Pressebesuch im Camp vor Ort vorbereitet. Sie verzieht keine Miene, bleibt | |
professionell und sachlich, während sie den Besuch raus aus dem großen | |
Eisentor führt. Sie kennt diese Schikanen wohl zu gut. Denn genau wie die | |
meisten Frauen in diesem Camp kommt sie aus Homs, der drittgrößten Stadt | |
Syriens, 145 Kilometer von Marj entfernt. | |
Sie selbst musste im Libanon 2017 ganz von vorne anfangen, in einer | |
staubigen Zeltstadt. Dr. Bayan Louis hat noch ein Jahr nach dem Studium als | |
Assistenzärztin in Syrien gearbeitet, startete gerade den Bewerbungsprozess | |
für die Fachärztinnen-Ausbildung in Deutschland, als sie beschloss, ihren | |
Traum hinten anzustellen. „Meine Familie befand sich im Libanon in einer | |
sehr schwierigen Situation. Sie konnten sich nicht einmal Brot leisten. Ich | |
wollte nicht egoistisch sein, also kam ich zum Arbeiten und unterstützte | |
sie.“ | |
Dr. Louis zog ins Zelt zu ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihrer | |
Großmutter. Als Ärztin durfte sie im Libanon nicht arbeiten, aber sie | |
meldete sich zum Freiwilligendienst in den Lagern, vermittelte zwischen den | |
Geflüchteten und den Hilfsorganisationen, startete Feldstudien und klärte | |
die Syrer:innen über Gesundheitsvorsorge auf. | |
Durch ihr Fachwissen, ihr Verständnis für die Situation und Kultur der | |
Syrer:innen und ihr Durchhaltevermögen machte sie sich innerhalb eines | |
Jahres unabdingbar für lokale Organisationen: 2018 bekam sie dann durch die | |
internationale Organisation von MAPS einen festen Arbeitsvertrag und konnte | |
mit ihren sieben Familienmitgliedern in ein kleines Apartment ziehen. | |
„Manchmal schaue ich in die Augen meiner Eltern und sehe die Tränen darin. | |
Sie wollen mich an einem besseren Ort sehen, an einem angenehmeren Ort. | |
Aber wegen all dem Druck, den ich erfahren habe, behalte ich diese Energie, | |
um für andere aufzustehen“, sagt sie. | |
Female Empowerment Programs, so werden die zahlreichen Aktionen für die | |
Stabilisierungen von weiblichen Geflüchteten, die Bayan bei MAPS eingeführt | |
hat, genannt. „Frauenrechte sind Menschenrechte und ich bin dafür da, diese | |
Rechte zu verfechten. Meine syrischen Schwestern brauchen Perspektiven, ich | |
möchte, dass es jüngere Mädchen einmal leichter haben, als ich es hatte“, | |
lautet ihr persönliches Manifest. | |
Es heißt, in Krisen sind Frauen oftmals stärker getroffen – auch der Blick | |
auf die Situation im Libanon bestätigt das: „Der soziale Impact von Krisen, | |
der von der klassischen politischen und wirtschaftlichen Analyse nicht | |
thematisiert wird, trifft Frauen disproportional stark“, sagt Luise | |
Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und | |
humanitäre Hilfe und Schirmherrin von #IndenFokus. Ein Beispiel dafür sei | |
die Versorgungslage in den Lagern, das entnehme sie auch dem diesjährigen | |
Bericht „Breaking the Silence“ der Organisation Care. | |
Der habe noch mal in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Frauen in solchen | |
Situationen viel weniger essen als ihre Angehörigen, weil sie sichergehen | |
möchten, dass ihre Familien versorgt sind, so Amtsberg. Außerdem würden die | |
syrische Frauen in der Landwirtschaft für einen Hungerlohn arbeiten – oft | |
ohne Pausen oder Verträge und verdienen nur halb so viel wie Männer. Laut | |
der Weltbank stellen sie 43 Prozent der Arbeitskräfte in der | |
Landwirtschaft. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. | |
Ortswechsel, Hauptquartier von MAPS in der Stadt Taanayel. Hier zeichnet | |
sich über drei Stockwerke ein anderes Bild von Geflüchteten: Die Räume sind | |
mit Leben und Möglichkeiten gefüllt. In einem sitzt eine Runde Frauen | |
gesellig bei der Häkelarbeit für den hauseigenen Online-Shop zusammen. In | |
einem anderen Zimmer pinseln junge Mädchen an Acryl-Leinwänden an ihrer | |
Zukunft. Und in der Nähwerkstatt surren die Maschinen und eine Handvoll | |
Frauen sitzt konzentriert an bunten Stoffen. | |
Die Arbeit hier stützt sich auf vier Säulen: Gesundheit, Bildung, | |
Weiterbildung und Gemeindearbeit. „Wir vermitteln hier die Hoffnung und die | |
notwendigen Fähigkeiten, damit sie in Würde leben können, bis sie in ihr | |
Heimatland zurückkehren und am Wiederaufbau teilnehmen können. Es geht um | |
die Hilfe von Syrer:innen für Syrer:innen“, sagt Dr. Bayan Louis. | |
Die Frauen im Land haben mit vielen sozialen, wirtschaftlichen und | |
psychologischen Problemen zu kämpfen. Vor allem, seit der Libanon 2019 | |
durch die Finanzkrise, Covid-19 und die Explosion am Hafen Beiruts | |
kollabiert – am 4. August 2020 zerstörte eine Explosion weite Teile der | |
libanesischen Hauptstadt, etwa 200 Menschen starben, bis zu 300.000 wurden | |
obdachlos. Die Lebensumstände wurde von Jahr zu Jahr schwieriger: „Syrische | |
Flüchtlingsfrauen leiden unter der Finanzkrise, den Lebensbedingungen, der | |
Unmöglichkeit, ihre im Libanon geborenen Kinder registrieren zu lassen, der | |
Unfähigkeit zu arbeiten, während sie ihren Haushalt und ihre großen | |
Familien führen“, umreißt Mireille Georr von Malteser International. Ihr | |
Kollege von der Johanniter-Auslandshilfe, Dr. Roy Abijoude, ergänzt: „Viele | |
der Frauen waren gezwungen, die Führung in der Familie zu übernehmen und | |
anstelle ihrer Ehemänner, die getötet wurden, immer noch im Krieg sind oder | |
ihre Familien verlassen haben, die Ernährerinnen zu werden.“ | |
Dr. Louis spricht auch stigmatisierte Themen an, versucht diese vermehrt in | |
den verschiedenen Aufklärungsprogrammen anzugehen. So erzählt sie zum | |
Beispiel von den Problemen der Frühverheiratung, Zwangsverheiratung und | |
häuslicher Gewalt. Laut einer Erhebung des Kinderhilfswerks Unicef 2021 | |
sind rund 40 Prozent der syrischen Mädchen unter 19 Jahren bereits | |
verheiratet. Auch hier wird wie bei den meisten Schätzungen, die den | |
Libanon betreffen, die Dunkelziffer deutlich höher vermutet. Repräsentative | |
Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt gibt es nicht, da diese Themen zum | |
einen mit viel Scham verbunden sind und zum anderen die Aufklärung fehlt, | |
das Unrecht als solches zu erkennen. | |
„Die zunehmende Stigmatisierung in der Öffentlichkeit syrischer | |
Geflüchteter trägt dazu bei, dass syrische Kinder nicht mehr zur Schule | |
gehen, kranke Menschen keine Krankenhäuser mehr aufsuchen und die Menschen | |
ausschließlich im Lager bleiben. So kommt es zu einer Abwärtsspirale für | |
Frauen in den Lagern, die durch Themen wie häusliche Gewalt noch einmal | |
verstärkt wird“, sagt Luise Amtsberg. Mehrere Lagen bunter Stoff, es ist | |
ein kleines Paket aus abwaschbarem Textil, das Dr. Louis der Reisegruppe | |
aus Deutschland nun bei MAPS entgegenstreckt. In diesen Räumen habe sie das | |
Nähen von wiederverwendbaren Binden eingeführt. In einem Land wie Libanon | |
und in dem Traditions-, Religions- und Kulturverständnis vieler | |
Syrer:innen ist das eine große Sache. | |
## Teure Hygieneprodukte | |
„Viele Mädchen und Frauen in den syrischen Flüchtlingslagern können sich | |
aufgrund der rasant gestiegenen Preise keine Monatshygiene mehr leisten“, | |
sagt Dr. Louis. Sie haben sich deshalb während ihrer Menstruation einfach | |
Stoff in die Unterhose gestopft. Das habe zu vielen Infektionen geführt. | |
Andere haben während ihrer Tage aus Scham kaum ihre Hütten und Zelte | |
verlassen, so die Ärztin. Darum haben sie auswaschbare und | |
wiederverwendbare Damenbinden entwickelt und 15.000 Stück kostenlos | |
verteilt. „Anfangs gab es viel Widerstand, auch wegen des Stigmas der | |
blutenden Frau, die ihre Monatswäsche nicht sichtbar an der Wäscheleine zum | |
Trocknen hängen will. Wir müssen hier noch viel Aufklärungsarbeit | |
betreiben. Aber es ist ein Erfolg.“ | |
Der Medizinerin wird vertraut, weil sie die Kultur, die Sprache und die | |
Fluchtbiografie mit den Bewohner:innen der Lager teilt: Dr. Louis hat | |
zwischen Bombenalarm und Militärkontrollen die Universität in Homs beendet, | |
obwohl ihre Familie schon längst geflohen war. Anfang Mai 2014 wurde die | |
Stadt im Westen Syriens von Regierungstruppen eingenommen, dann galt sie | |
lange Zeit als Hauptstadt der Rebellen, bevor sie 2016 schließlich | |
kapitulierten. | |
Ein Jahr bevor Bayan den Abschluss in der Hand hält und ihrer Familie in | |
den Libanon folgt, wird ein mehrheitlich von Alawiten bewohnter Stadtteil | |
von Homs das Ziel einer Reihe von Anschlägen von Isis. „Immer wieder | |
mussten wir uns fünf oder sechs Stunden in der Uni verschanzen, weil wir | |
wegen der Schusswechsel nicht sicher nach Hause kamen. Es war sehr | |
gefährlich, dort zu sein. Ich wusste aber, dass ich ohne Ausbildung und | |
ohne Abschluss auch keine Zukunft haben werde.“ Ihre Zukunft hatte sie sich | |
jedoch anders vorgestellt. | |
Den Syrer:innen schlägt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene | |
eine immense Welle von Hass, Diskriminierung und Dehumanisierung entgegen. | |
Mit rund 1,5 Millionen syrischen und rund 250.000 palästinensischen | |
Flüchtlingen ist der Libanon laut UNHCR das Land mit dem weltweit höchsten | |
Anteil an Geflüchteten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die | |
Infrastruktur ist mit dem Ansturm überfordert, die Geflüchteten werden für | |
den miserablen Zustand des Landes verantwortlich gemacht. Angestachelt wird | |
das Klima von der libanesischen Regierung, die ihre ultranationalistische | |
und rassistische Politik offenlegt. | |
„Libanesische Politiker nutzen syrische Geflüchtete zunehmend als | |
Sündenbock, um von ihren eigenen Verfehlungen abzulenken. Eine besonders | |
perfide Argumentation ist, dass die vielen muslimischen Geflüchteten die | |
gesellschaftliche und religiöse Balance des Landes ändern würden“, sagt | |
Luise Amtsberg. Die Folge sind Demos gegen Geflüchtete, immer neuen | |
Regulierungen, damit diese nicht sesshaft werden. Auch Zwangsabschiebungen | |
und Militär-Schikane mit unangemeldeten Razzien in den Camps gehören zum | |
Alltag der Geflüchteten. Syrer:innen dürfen zudem keine permanenten | |
Häuser bauen, kaum offiziell arbeiten. Die meisten arbeiten illegal im | |
Niedriglohnsektor in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der | |
Gastronomie. | |
„In letzter Zeit spielen die Medien hier eine große Rolle, wenn es um das | |
Klima gegen Geflüchtete geht“, sagt Dr. Roy Abijoude von der | |
Johanniter-Auslandshilfe. Mehrere Fernsehsender und soziale Medien | |
berichten über die alarmierende und gefährliche Zunahme der syrischen | |
Geflüchteten und vermitteln den Eindruck, dass sich besser um die | |
Syrer:innen als um die eigene Bevölkerung gekümmert wird, so der Arzt. | |
Zudem wird das Narrativ verbreitet, dass die Geflüchteten medizinische und | |
finanzielle Hilfe von der UNO und NGOs erhalten, während die | |
Aufnahmegesellschaft nicht ausreichend unterstützt wird und in einer sehr | |
schlechten wirtschaftlichen Lage leben muss. Dr. Bayan Louis versteht den | |
Frust und die Not der Libanes:innen, doch die Geflüchteten dafür zu | |
beschuldigen, hält sie für inakzeptabel. | |
Immer häufiger kommt es zu offenen Anfeindungen, gar Übergriffen auf die | |
syrischen Mitmenschen. In den sozialen Medien findet man schnell | |
Handyvideos, die Gewaltakte auf offener Straße zeigen. Auch von angeblich | |
mutwilliger Brandstiftung in den Camps ist auf Seiten der Syrer:innen | |
die Rede. „Weil es in den Lagern so eng ist, springen die Flammen schnell | |
auf andere Zelte über, ganze Lager können so abbrennen“, sagt die Syrerin | |
Abir Raad, 37, die als einzige Frau der Freiwilligen Feuerwehr im Lager in | |
Arsal beigetreten ist. Dadurch, dass die Geflüchteten Zelte und Hütten mit | |
Öfen beheizen und auf Feuer kochen, komme es auch immer wieder zu Feuern. | |
Die libanesische Feuerwehr kommt nicht immer und wenn, viel zu spät. | |
„Deshalb helfen wir uns selbst“, sagt Abir. | |
Ausgerüstet mit Eimern, feuerfester Kleidung, Helmen und Schutzbrillen, die | |
sie von einer niederländischen Firma gesponsert bekamen, fühlt sich die | |
Syrerin endlich wieder nützlich. Die Arbeit sei gefährlich, aber es sei | |
das, was Abir nach ihrer Depression wieder Selbstbewusstsein gegeben hat. | |
Sie träumt davon, irgendwann mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann nach | |
Homs zurückzukehren, dann möchte sie auch in Syrien Feuerwehrfrau werden. | |
Dr. Louis stellt noch mehr Frauen vor, die endlich wieder eine Perspektive | |
haben: auf einen offiziellen Job, auf körperliche Unversehrtheit, auf eine | |
Zukunft. „Bei allen Hürden und Gefahren, die ich überwinden musste, habe | |
ich große Hoffnung. Vor allem, wenn ich mir die jungen Mädchen hier | |
anschaue. Ich mache das vor allem für die jüngere Generation, damit sie ein | |
Leben der Selbstbestimmung vor sich haben“, sagt sie. | |
## 30 Euro für Windeln | |
Hoffnung sitzt auch im Warteraum des Gesundheitszentrum Chiyah, Ain El | |
Remmaneh am Rande von Beirut. Die moderne, weiße, fast schon steril | |
wirkende Vorhalle ist gefüllt mit Menschen, mit Einzelschicksalen, mit | |
verschiedenen Krankheitsbildern – aber mit einer Gemeinsamkeit: Medikamente | |
und Arztbesuche können sie sich mittlerweile alle außerhalb des Centers des | |
libanesischen Malteser-Ordens nicht mehr leisten. Auf fünf Stockwerken | |
werden alle medizinischen Fachrichtungen abgedeckt und kostenlos oder gegen | |
eine symbolische Gebühr angeboten, ein von der WHO empfohelenes Programm. | |
Die Syrerin Dalal, Anfang 30, trägt ein buntes Kopftuch und ist mir ihren | |
beiden Kindern, die am Zipfel ihres Kleides hängen, in dem Zentrum. Sie hat | |
eine fünfjährige Tochter mit Behinderung, die noch Windeln tragen muss, und | |
einen Sohn mit Zahnschmerzen. „Ohne dieses Center wüsste ich nicht, was ich | |
tun würde. Bevor mir das Gesundheitszentrum Windeln gab, habe ich Tücher | |
für meine Tochter benutzen müssen, und auch Milch für meine Kinder konnte | |
ich mir nicht leisten. Ich bin so dankbar für diesen Ort, schreiben Sie das | |
auf!“, sagt sie. | |
500.000 libanesische Lire kostet heute allein eine Packung Windeln, das | |
sind umgerechnet 30 Euro. Ihr Mann, der die ganze Familie versorgt, hat ein | |
Monatsgehalt von knapp 120 Euro. Doch nicht nur die kostenfreie | |
medizinische Behandlung und Versorgung mit Hygieneartikeln ist an diesem | |
Ort besonders. Sondern auch der Fakt, dass Dalal hier mit Respekt behandelt | |
wird. „Wir haben hier im Land keine Rechte und werden ständig gedemütigt. | |
Aber hier ist die Herkunft und die politische Haltung egal.“ Das oberste | |
Ziel des libanesischen Malteser-Ordens sei, „den Menschen ein Leben in | |
Würde zu ermöglichen und ihre Grundbedürfnisse zu sichern“, fasst Mireille | |
Georr von Malteser International zusammen. Unabhängig von Religion, | |
Hautfarbe oder Ethnie. | |
Würde. Was bedeutet das in einem von Krisen gebeutelten Land? Fast alle | |
Gesprächspartner:innen verwenden das Wort, mal als Ausdruck der | |
Sehnsucht, mal aus Kummer, mal als Mantra oder als Beschreibung der | |
vergangenen Tage. Kauen auf ihm. „Würde“, das scheint hier wie ein Kaugummi | |
zu sein, der den Geschmack verloren hat. | |
23 May 2023 | |
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Edith Löhle | |
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