| # taz.de -- Demonstrationen in Syrien: Zweiter Frühling für Proteste | |
| > Nach zwölf Jahren Krieg ist Syrien wirtschaftlich am Ende. Das Leid der | |
| > Bevölkerung entlädt sich in Demonstrationen gegen das Assad-Regime. | |
| Bild: Menschen protestieren in Suwaida im Süden des Landes gegen Machthaber As… | |
| Aus Protest gegen die schlechte wirtschaftliche Lage gehen in Syrien erneut | |
| Menschen auf die Straße, um einen Sturz des [1][Regimes von Präsident | |
| Baschar al-Assad] zu fordern. Vor allem im Süden des Landes, der seit | |
| Jahren wieder komplett von Damaskus kontrolliert wird, regt sich Protest. | |
| Mit rund 2.000 Teilnehmer*innen erlebte die Stadt Suwaida vergangenen | |
| Freitag die größte Demonstration seit Beginn der Proteste vor rund zwei | |
| Wochen. Aber auch in der einstigen Protesthochburg Daraa, in Aleppo, im von | |
| Aufständischen kontrollierten Nordwesten Syriens sowie in der von Kurden | |
| kontrollierten Region Hasakeh wurde demonstriert. | |
| Die Proteste begannen, nachdem die Regierung Subventionen für Benzin | |
| aufgehoben hatte. Der Schritt verschärfte für viele Menschen die Situation, | |
| zumal die wirtschaftliche Lage nach zwölf Jahren Krieg ohnehin verheerend | |
| ist. Treibstoff ist knapp, Menschen leiden unter Hunger, die | |
| Jugendarbeitslosigkeit ist hoch und die Preise sind durch die Decke | |
| geschossen. Nach UN-Angaben leben 90 Prozent der Syrer*innen in Armut. | |
| Stromausfälle in Suwaida dauerten derzeit bis zu 22 Stunden am Tag, | |
| berichtet Ahmed Mustafa gegenüber der taz, der aus Angst vor Repressalien | |
| nicht mit seinem echten Namen genannt werden will. Die Menschen in der | |
| Stadt, aber auch in anderen Landesteilen seien mit den schlimmsten | |
| Auswirkungen auf ihre Lebensbedingungen seit Ausbruch des Konflikts 2011 | |
| konfrontiert. Viele redeten heute davon, Syrien zu verlassen, da es zu | |
| einem unbewohnbaren Land geworden sei. | |
| Demonstrierende trugen in den letzten Wochen Transparente, auf denen sie | |
| forderten, die UN-Resolution 2254 aus dem Jahr 2015 umzusetzen. Diese hatte | |
| ein Ende der Gewalt vorgesehen und einen Fahrplan vorgelegt, der das Land | |
| mit Verhandlungen, einer Übergangsregierung, einer neuen Verfassung und | |
| Wahlen aus der Krise führen sollte. Der Plan wurde nie umgesetzt, | |
| stattdessen eroberte das Regime mit russischer und iranischer Unterstützung | |
| weite Teile des Landes zurück. Im Nordwesten herrschen jedoch noch Milizen, | |
| die unter türkischem Einfluss stehen; im Nordosten haben kurdische Kräfte | |
| das Sagen, die von den USA unterstützt werden. | |
| ## Wenn sie hungrig sind, verspeisen sie ihren Präsidenten | |
| Rami Abdullah aus Suwaida, der ebenfalls nicht unter Klarnamen auftreten | |
| will, berichtet, dass die Zahl der Demonstrierenden in den vergangenen | |
| Wochen stark gestiegen sei. Vor allem Menschen aus der Umgebung von Suwaida | |
| seien in die Stadt gekommen. Nachdem Protestierende die Flagge der | |
| syrischen Revolution auf dem zentraen Al-Sir-Platz in Suwaida sowie in der | |
| nahe gelegenen Stadt Kurejah gehisst hätten, hätten viele ihre Angst | |
| verloren. Auch verbrannten Demonstrierende ein großes Plakat Assads, das im | |
| Stadtzentrum von Suwaida hing. | |
| Wenn sie hungrig sind, würden die Menschen in Syrien ihren Präsidenten | |
| verspeisen, sagt Abdullah. „Wir wollen essen, Baschar“, habe einer der | |
| Slogans auf den Demonstrationen gelautet, aber auch: „Geh, geh, Baschar!“ | |
| Die Demonstrierenden hätten beschlossen, so lange weiter zu protestieren, | |
| bis ihre Forderungen erfüllt sind. | |
| Rajan Maarouf, Direktor des lokalen Nachrichtenportals Suwayda 24, sagte | |
| der taz, Suwaida habe seit Beginn der Syrienkrise keine derartigen Proteste | |
| erlebt. Ihm zufolge haben die meisten öffentlichen Einrichtungen in der | |
| Stadt weiterhin geschlossen. Der öffentliche Nahverkehr befinde sich im | |
| Streik. | |
| In der ehemaligen Protesthochburg Daraa sei ebenfalls erneut zum Sturz des | |
| Regimes aufgefordert worden. Dort seien viele Einwohner festgenommen | |
| worden. Nachdem das syrische Regime im Sommer 2018 die Kontrolle über Daraa | |
| wiedererlangt hatte, bemühte sich die Regierung, oppositionelle Männer | |
| wieder zu integrieren. Teil dieser oft von Russland vermittelten lokalen | |
| Versöhnungsdeals war etwa die Abgabe von Waffen im Gegenzug für Pässe. | |
| ## Noch nicht mit voller Härte gegen Demonstrierende | |
| Was Maaruf und Abdullah auffällt, ist die Heterogenität der jüngsten | |
| Proteste. Die Bewegung würde breite gesellschaftliche Unterstützung | |
| genießen. Das Bemerkenswerte sei die Teilnahme von Geistlichen, | |
| Intellektuellen, politische Aktivisten und Aktivistinnen sowie von | |
| Vertretern von Beduinenstämmen, sagt Abdullah. Offenbar nimmt auch ein | |
| großer Teil der drusischen Gemeinschaft und ihrer religiösen Führer teil. | |
| Die Region Suweida ist eine Hochburg der religiösen Minderheit der Drusen, | |
| die vor allem in Syrien, Libanon und Israel lebt. | |
| Das Regime geht bislang offenbar nicht mit voller Härte gegen die | |
| Demonstrierenden vor, was Beobachter auf die Tatsache zurückgeführt haben, | |
| dass auch religiöse Führer der Drusen die Proteste unterstützen. Die | |
| Proteste finden zudem wenige Monate nach der [2][Rückkehr Syriens in die | |
| Arabische Liga] statt – zu einer Zeit also, in der mehrere arabische Länder | |
| versuchen, ihre Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren. Nachdem die | |
| Liga Syrien 2011 wegen des brutalen Umgangs mit Demonstrierenden im Zuge | |
| des Arabischen Frühlings suspendiert hatte, war Syrien im Mai wieder in die | |
| Organisation aufgenommen worden. | |
| „Wenn das Regime sich für Blutvergießen entscheidet, wird es einen Krieg | |
| geben, der größer ist als der, den wir bereits erlebt haben“, ist sich | |
| Maaruf sicher. Das sieht Mustafa ähnlich: Die Menschen in Suwaida seien zu | |
| der Gewissheit gelangt, dass es keine Lösung der Wirtschaftskrise geben | |
| werde ohne eine politische Lösung. Dies setze den Abgang des Regimes | |
| voraus, das zwar siegreich aus dem Krieg mit der Opposition hervorgegangen | |
| sei, aber nicht mehr in der Lage sei, das Land zu regieren. | |
| ## Proteste auch in Aleppo | |
| Kleinere Proteste gab es auch in Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes, | |
| sowie in den Küstengebieten rund um Latakia, die als besonders loyal Assad | |
| gegenüber gelten. Auch in den Rebellengebieten im Nordwesten kam es zu | |
| Protesten. | |
| Der Aktivist Akram al-Idlibi berichtete der taz, dass es dort in den | |
| vergangenen Tagen unter dem Titel „Revolution für alle Syrer“ zu | |
| Demonstrationen gekommen sei. Mehrere tausend Menschen seien auf die Straße | |
| gegangen und hätten ihre uneingeschränkte Unterstützung für die | |
| Volksbewegung in Suwaida und Daraa zum Ausdruck gebracht. „Suweida, wir | |
| sind bei dir bis zum Tod“, sei einer der Slogans gewesen. | |
| Der bis heute andauernde Syrienkrieg hatte 2011 begonnen, als das Regime | |
| Massenproteste im Süden des Landes brutal niederschlagen ließ. Die | |
| Intensität der Kampfhandlungen hat mittlerweile stark nachgelassen, doch | |
| eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Mindestens 300.000 | |
| Zivilist*innen wurden in dem Konflikt getötet, die Hälfte der einst 23 | |
| Millionen Einwohner*innen des Landes wurde vertrieben. | |
| Aus dem Arabischen Jannis Hagmann | |
| 5 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mouneb Taim | |
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