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# taz.de -- Syrische Kultur in Deutschland: Töne der Menschlichkeit bewahren
> In Brandenburg erinnern sich syrische Oppositionelle an das gemeinsame
> Musizieren in den 80ern und 90ern in einem Gefängnis. Über die Kraft von
> Musik.
Bild: Damaskus, Syrien, in den 80er Jahren. Das Konterfei des Diktators Hafez a…
Reichenow-Möglin (Brandenburg) taz | Es ist ein sonniger Morgen Ende Juni
in Reichenow-Möglin in Brandenburg. Zwischen ziegelroten mit Weinreben
überwucherten Scheunen sitzt eine Gruppe von Männern unter einer Linde an
einem Holztisch zusammen. Einer schlägt mit seiner Hand einen langsamen
Rhythmus auf die Tischplatte, während die anderen dazu ein arabisches Lied
singen. „Oh Fluss der Schuld, füttere mein Feuer nicht mit Flammen. Das
Heulen des Zuckerrohrs übertraf meines nicht, und auch der Granatapfel
blutete nicht wie ich.“
30 Jahre ist es her, dass diese Männer das letzte Mal zusammensaßen, und
die Umgebung hätte unterschiedlicher nicht sein können. Anstatt in einem
idyllischen Garten eines Künstlerkollektivs in Brandenburg begegneten sie
sich damals zwischen den kalten Mauern eines Gefängnisses am Rande der
syrischen Hauptstadt Damaskus.
Und es ist nicht irgendein Gefängnis: sondern das Sednaya-Gefängnis,
welches in den letzten Jahrzehnten durch Berichte über Folter und
Massenhinrichtungen politischer Gefangener traurige Berühmtheit erlangt
hat. 2017 bezeichnete [1][Amnesty International] Sednaya als „Schlachthaus
für Menschen“. Zwischen 2011 und 2015 sollen laut der
Menschenrechtsorganisation 5.000 bis 13.000 im Geheimen gehängt worden
sein.
Kaum vorstellbar, dass in einer solchen Umgebung Musik gespielt wurde –
erst recht nicht, dass es Konzerte, Musikunterricht und Soiréen mit Theater
und Tanz gab. Doch tatsächlich baute eine Gruppe politischer Gefangener im
Sednaya der 1980er und 90er Jahre eine lebhafte, klandestine Musikszene
auf. Zahlreiche Lieder entstanden in der Finsternis ihrer Zellen:
Liebeslieder, Protestlieder oder Popsongs des damaligen Mainstream.
Sie wurden gesungen oder geflüstert und von Instrumenten begleitet, die
teilweise aus Pappe und Brot gebastelt worden waren. In Brandenburg sind
einige der damaligen Insassen zusammengekommen, um sich an die Lieder von
Sednaya zu erinnern und sie aufzunehmen. Ihre Erfahrung zeigt, wie Menschen
gegen alle Widerstände nach Kreativität streben – und wie sie damit unter
unmenschlichsten Bedingungen ihre Menschlichkeit bewahren.
Seit Baschar al-Assads Vater Hafis sich vor fünf Jahrzehnten an die Macht
putschte, ist politische Haft in Syrien trauriger Alltag geworden. Viele
Syrer:innen rechnen damit, selbst einmal in den Haftanstalten des
Regimes zu verschwinden, die meisten haben Fälle im Familien- oder
Bekanntenkreis. Allein seit den Massenprotesten 2011 wurden mehr als
100.000 Menschen willkürlich festgenommen. In einem Staat, der seine
Bürger:innen massenweise einsperrt, wird die Haft selbst zum Teil der
nationalen Geschichte und Identität, sagt Eylaf Bader Eddin, ein
Wissenschaftler am [2][Syrasp-Projekt] des Berliner Forums Transregionale
Studien.
Der 37-Jährige hat zur Übersetzung der Sprache der syrischen Revolution
promoviert und beschäftigt sich seit drei Jahren mit Gefängnismusik. Er
glaubt, dass Gefängniskultur ein Teil des syrischen Kulturerbes ist und
erhalten werden muss. „Wenn wir sie nicht dokumentieren, wird sie
vergessen, und das ist es, was das Regime will. Seit 2011 führt es einen
metaphorischen Krieg, um die Vergangenheit auszulöschen und neue Narrative
darüber zu erschaffen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist.“
Um das zu verhindern, hat [3][Bader Eddin] begonnen, die musikalische
Praxis in syrischen Gefängnissen von den 80er Jahren bis heute zu
dokumentieren. Er hat zahlreiche ehemalige Gefangene interviewt, um die
historischen Fakten aufzuzeichnen: wie sie Instrumente bauten, wann und wo
sie diese nutzten. Und er hat die Lieder gesammelt, die sie spielten und
sangen. In anderen Ländern wie [4][Tunesien,] der Türkei oder [5][Ägypten]
gibt es längst eine Tradition von Gefängnisliedern. Doch syrische
Gefängnismusik sei bisher kaum bekannt, sagt Bader Eddin und sieht mehrere
Gründe dafür:
„Gefangene werden bei ihrer Freilassung davor gewarnt, über das zu
sprechen, was sie im Gefängnis erlebt haben. Andernfalls riskieren sie,
erneut inhaftiert zu werden. Und die Menschen draußen haben Angst davor,
mit ehemaligen politischen Gefangenen zu sprechen. Sie fürchten, dass sie
sich dadurch selbst verdächtig machen und im Gefängnis landen.“ Vor allem,
wenn Regime lange Zeit ohne Pause an der Macht bleiben, gebe es kaum
Freiräume für die Dokumentation der Gefängniskultur – außer im Exil. Seit
2011 ist die syrische Diaspora rasant gewachsen. Dadurch ist ein
beispielloser Raum für die Produktion und Dokumentation syrischer Kultur
entstanden. Vor allem oppositionelle Kultur, die ein halbes Jahrhundert
unter Assad kaum überlebt hat, floriert in dieser Umgebung.
Wie knapp [6][eine Million weiterer Syrer:innen] lebt auch Bader Eddin
heute in Deutschland. Die ehemaligen Gefangenen, die an seinem Projekt
teilnehmen, haben Syrien ebenfalls verlassen und leben heute in
verschiedenen Ländern Europas. Ende Juni 2023 folgten sie der Einladung von
Bader Eddin, SYRASP und dem [7][MENA Prison Forum] nach Brandenburg, um an
einem fünftägigen Workshop teilzunehmen. Dort sollten sie sich an eines der
schmerzhaftesten Kapitel ihres Lebens erinnern und an die Lieder, die sie
spielten, um es durchzustehen.
Bader Eddin will die Lieder aufnehmen und archivieren, damit sie nicht
vergessen werden. Ein Album soll entstehen, ebenso wie Konzerte, um die
Lieder mit der Öffentlichkeit zu teilen. „Wenn wir heute über syrische
Gefängnisse sprechen, geht es meistens um Foltermethoden und Todeszahlen“,
sagt Bader Eddin. „Ich möchte die Gefängniserfahrung auf keinen Fall
romantisieren, aber ich glaube, dass es wichtig ist, sich auf die Menschen
zu konzentrieren, die Individuen, die an diesem düsteren Ort lebten.“ In
seiner Recherche gehe es um deren Widerstand, sagt er.
Am ersten Tag des Workshops steigen die sieben Workshop-Teilnehmer die
Stufen der Eisentreppe hinauf, die direkt vom Garten in den ersten Stock
einer der Scheunen führt. Sie tragen kurzärmelige Hemden und funktionale
Sandalen, sind zwischen Ende 50 und Anfang 70 Jahre alt. Alle waren in den
1970er und 80er Jahren politisch aktiv, alle wurden wegen ihrer
Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei festgenommen. Manche blieben
sieben Jahre in Haft, andere 14. In der geräumigen Scheunenetage, in der es
eine Bar und eine Bühne gibt, stellen sie ein paar alte Sessel zu einem
Stuhlkreis zusammen. Da ist Hassaan Abdelrahman, ein drahtiger 61-Jähriger
mit jugendlicher Unbekümmertheit und einer von fünf Oud-Spielern in der
Gruppe. In Sednaya lernte er das Notenlesen und die verschiedenen
Tonleitern der klassischen nahöstlichen Musik.
Neben ihm sitzt Asaad Shlash, sein damaliger Lehrer. Beim ersten Konzert
nach Abschluss seines Musikstudiums 1987 war er mit der [8][Oud] in der
Hand festgenommen worden. Die Oud ist eine Art Laute und eines der
zentralen Instrumente der arabischen Musik. Der stille 69-Jährige
organisierte in Sednaya zeitweise täglichen Oud-Unterricht für bis zu 40
Personen. Weitere seiner damaligen Schüler sitzen im Stuhlkreis: Kisra
Kurdi, der bei seiner Festnahme 1987 gerade mal 18 Jahre alt war, und
Ibrahim Bayraqdar, ein Ingenieur, der 1984 inhaftiert wurde und im
Gefängnis zum ersten Mal in seinem Leben ein Instrument spielte.
Andere in der Gruppe beschreiben ihn als den fleißigsten Schüler, der als
Einziger alle Lieder auswendig konnte. Mit ihm inhaftiert war sein Bruder,
der berühmte Dichter Faraj Bayraqdar. Er schrieb die Texte für zahlreiche
Gefängnislieder. Wenn seine Mitgefangenen ihm eine Melodie vorsummten,
überlegte er sich die passenden Worte dazu. Eines seiner Lieder ist das
über den Fluss der Schuld, das er gemeinsam mit seinen Kameraden am Morgen
unter der Linde gesungen hat.
Nicht alle Teilnehmer des Workshops waren auf musikalische Weise an der
Kulturproduktion Sednayas beteiligt. Da ist zum Beispiel Badr Zakariya, ein
strahlender, exzentrischer Theatermacher, der jede Gelegenheit nutzt, um
einen kleinen Tanz aufzuführen. In Sednaya veranstaltete er satirische
Tanz- und Theaterperformances. Wie auch die Musikkurse und Konzerte fanden
sie am Ende eines langen Flurs statt, wo selten Wachen vorbeikamen. Einmal
begann er mitten in der Nacht zu bellen und zu jaulen, um seiner Schwermut
Ausdruck zu verleihen und die Wachen zu irritieren.
Nach und nach stimmten andere Gefangene ein, bis eine „gebellte Symphonie“
mit mehr als 50 Teilnehmern entstand. Unterstützt wurde er bei seinen
Theaterstücken immer wieder von Haytham Qatrib, einem Sänger aus einer
Familie von Sänger:innen. Qatrib ist der Einzige, der die meisten aus der
Gruppe bis zum Workshop in Brandenburg noch nie persönlich getroffen hatte.
Er war in einem anderen Flügel Sednayas inhaftiert und spielte dort alleine
Oud, oft mehrere Stunden am Tag.
Wer war noch dabei? Wie hieß der noch mal? In welchem Jahr war das? Fragen
füllen den Raum, als die sieben Männer versuchen sich zu erinnern, wie
genau es damals in Sednaya war. Ihr Gespräch zeigt deutlich, wie lückenhaft
das Gedächtnis des Einzelnen sein kann und wie viele Fehler sich in
individuelle Erinnerungen einschleichen. In der Gruppe korrigieren sie sich
gegenseitig, bis ein klareres Bild der gemeinsamen Zeit im Gefängnis
entsteht. Schließlich sind sich alle einig, dass der „Höhepunkt der
musikalischen Welle im dritten Stock links“ stattfand, zwischen 1988 und
1992. In den Folgejahren ebbte die Welle wieder ab, da manche Insassen
verlegt und alle nach und nach freigelassen wurden. Gegen Ende ihrer Haft
begannen die Männer, vom Leben in Freiheit zu träumen und sich mental
darauf vorzubereiten, anstatt sich darauf zu konzentrieren, ihr Leben in
Gefangenschaft erträglicher zu machen.
Es heißt, dass der Mensch die Haft nur aushalten kann, wenn er sein
bisheriges Leben völlig ausblendet und ein ganz neues im Gefängnis aufbaut.
Der syrische Schriftsteller Yassin Haj Saleh hat dafür einen Begriff
entwickelt: „Istihbas“, ins Deutsche vielleicht am ehesten als
„Haftifizierung“ übersetzbar, bezeichnet den Vorgang der Eingewöhnung ein…
Gefangenen in seiner neuen Umgebung. Der oder die Gefangene macht es sich
quasi gemütlich, findet sich in sein neues Zuhause ein, und „Zeit spielt
keine Rolle mehr“. Eylaf Bader Eddin beobachtet in den Anfängen von
Sednaya, das seit 1987 existiert, einen kulturellen „istihbas“. Die
Gefangenen hätten nicht nur im Bereich Essen, Hygiene oder Sozialleben
Routinen entwickelt, sondern „sie fingen auch an, Instrumente zu bauen und
eine kulturelle Routine innerhalb des Gefängnisses zu etablieren“.
Die ersten Ouds in Sednaya bestanden aus einer klebrigen Mischung aus
nassem Brot und Pappe. Sie wurde geschichtet und getrocknet, bis sie den
runden Hohlkörper formte, der nötig ist, um die Schwingung der Saiten zu
verstärken. Da es keine Saiten gab, lösten die Männer die Gummibänder ihrer
Socken und Spannbetttücher auf und flochten daraus dünne Schnüre. Die
Wirbel, mit denen das Gerät gestimmt wird, fertigten sie aus Obststängeln.
„Stell dir vor, du bist sehr, sehr hungrig, so hungrig, wie ein Mensch nur
sein kann. In dem Moment bietet dir jemand ein Stück Kuchen an. Es ist zwar
alt und vergammelt, aber in diesem Moment ist es die größte Köstlichkeit,
die du dir vorstellen kannst. Genauso waren diese Instrumente für uns im
Gefängnis“, erklärt Badr Zakariya.
Später begann die Gruppe Teile aus den Holzkisten zu lösen, in denen die
Wachen ihnen Obst und Gemüse brachten. Eine ganze Kiste zu behalten wäre zu
auffällig gewesen, doch sie sammelten die besten Stücke, bis sie genug
hatten, um Instrumente daraus zu bauen. Sie versteckten sie in ihren Zellen
und fertigten sie teilweise so, dass man sie leicht auseinander- und wieder
zusammenbauen konnte. Asaad Shlash, der Musiklehrer, baute schließlich die
erste Oud aus Holz in Sednaya. Zwar war sie anders als normale Ouds nicht
rund, sondern rechteckig, doch ihr Klang war für die Gefangenen genau
richtig. Als er längst wieder frei war, Syrien verlassen hatte und in
Europa lebte, baute Shlash das Instrument noch einmal nach. Er hat die
eckige Oud nach Brandenburg mitgebracht und spielt darauf mit geschlossenen
Augen.
Manche von den Männern haben noch nie zusammen gespielt. Bei anderen ist es
mehr als drei Jahrzehnte her, dass sie gemeinsam musiziert haben. Doch nach
einer kurzen Eingewöhnungsphase klingen die vier Lauten und sieben Stimmen
dennoch harmonisch. Der jugendliche Hassaan Abdelrahman gibt mit der
Trommel den Takt an und organisiert die Reihenfolge der Lieder. Sänger
Haytham Qatrib übernimmt die Rolle des Vorsängers, die anderen folgen ihm
im Chor. Faraj Bayraqdar, der Poet, achtet auf die korrekte Aussprache der
arabischen Wörter. Und Theatermacher Badr Zakariya klatscht nach jedem
gelungenen Lied mit leuchtenden Augen in die Hände und ruft: „Wie schön!“
Die Lieder, die die sieben Männer während der Zeit in Sednaya und wieder
beim Workshop spielten, lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Lieder,
die die Gefangenen schon vor ihrer Festnahme kannten und die sie im
Gefängnis spielten; bekannte Lieder, deren Musik oder Texte sie
abwandelten; und Lieder, die in Sednaya komplett neu komponiert wurden. Für
Wissenschaftler Bader Eddin gehören all diese Lieder zu einem Genre, das er
„Sijniya“ nennt, abgeleitet von dem arabischen Wort „sijn“ für Gefäng…
„Ich denke, dass es einen Unterschied macht, ob man einen Song von Britney
Spears in einer Disco singt oder als Migrant, der gerade versucht, die
Grenze nach Europa zu überwinden. Die Aussage des Liedes ändert sich je
nach Kontext. Wenn ein Lied im Gefängniskontext gespielt wird, dann wird es
ein Gefängnislied“, sagt er und weist darauf hin, dass die Musiker aus
Sednaya selbst heute, in der weitläufigen Landschaft Brandenburgs, nicht
dazu in der Lage seien, ihre Lieder laut zu spielen. Sie singen stattdessen
mit zurückhaltender Stimme, ihre Hände berühren die Instrumente nur sanft,
als müssten sie ihre Musik noch immer vor den Gefängniswärtern verstecken.
Sednaya war in den 80er Jahren noch nicht das „Schlachthaus für Menschen“,
zu dem es heute geworden ist. Damals war das Gefängnis noch neu und wurde
als moderne, humanere Alternative zu den unterirdischen Kerkern von
Gefängnissen wie Tadmor oder den Haftanstalten der Geheimdienste gesehen.
In Sednaya durften die Gefangenen Besuch empfangen und sich außerhalb ihrer
Zellen bewegen, es gab gewisse Annehmlichkeiten wie Papier, Stifte und
Bücher.
Dennoch war die Erfahrung der jahrelangen politischen Gefangenschaft für
viele Betroffene traumatisch. Und Strafen gab es auch in Sednaya, „wenn man
die Regeln nicht befolgte“, sagt der Dichter Faraj Bayraqdar. Er erinnert
sich daran, was seinem jüngeren Bruder Ibrahim widerfuhr, als dieser beim
Spielen der Oud erwischt wurde: Die Wachen zertrümmerten das kostbare
Instrument, „dann steckten sie ihn in Isolationshaft sechs Stockwerke unter
der Erde“. Auch Asaad Shlash, der Lehrer, wurde auf diese Weise bestraft.
„In der Isolationszelle war es komplett dunkel und so feucht, dass seine
Kleidung sich auflöste.“
Einen ganzen Monat verbrachte Ibrahim Bayraqdar ohne jeglichen menschlichen
Kontakt. Nur zweimal am Tag schoben die Wachen ihm etwas zu essen unter der
Tür hindurch. Doch Ibrahim erinnert sich daran, wie er selbst unter diesen
Bedingungen alleine Dabke tanzte, tagelang sang und schrie, um sich der
Stille und Isolation zu widersetzen, die seine Strafe sein sollte. „Die
Musik war eine starke Stütze, die uns durch all diese Jahre beschützte und
uns half durchzuhalten“, sagt er. Die Musik habe ihn stolz und optimistisch
gemacht, erinnert sich auch Hassaan Abdelrahman. „Wir hatten ein Ziel, das
wir in Gefangenschaft verfolgen konnten.“ Allerdings habe sich das immer
wieder gewandelt. In depressiven Phasen spielte er manchmal monatelang
nicht auf der Oud. Wenn seine Stimmung sich besserte, fing er wieder an.
Beim Mittagessen erzählt Badr Zakariya, der Theatermacher, von seiner
Festnahme 1987. Es war nicht seine erste, doch es würde die längste werden.
Mit eindrücklicher Gestik beschreibt Zakariya, wie die Soldaten sein Haus
umstellten und ihn von seiner Wohnung im fünften Stock nach unten auf die
Straße zerrten. Ganz der Theatermacher, imitiert er den Dialekt der
Soldaten, die ihn nach seinen „roten Büchern“ fragten: Marx, Lenin und so,
erklärt er mit einem verschwörerischen Grinsen. „Der Offizier befahl einem
seiner Soldaten, den kleinen Esel – gemeint war ich – mit nach oben zu
nehmen, um die Bücher aus meiner Wohnung zu holen“, sagt Zakariya grinsend,
als würde er einen Witz erzählen, dessen Pointe kurz bevorstehe.
Doch als seine Geschichte sich dem Ende nähert, erinnert er sich plötzlich
an etwas anderes: wie er mit dem Soldaten an seiner Wohnungstür ankam und
wie dort seine Frau im Türrahmen lehnte. Seine Hand beschreibt einen großen
Bauch, sie war damals im siebten Monat schwanger, und die Tränen liefen ihr
über das Gesicht. Sein Kind würde Zakariya erst sieben Jahre später in
Freiheit sehen. An diesem Punkt der Geschichte zögert er und kämpft mit den
Tränen. Er scheint selbst überrascht über die Erinnerung zu sein, auf die
er gerade gestoßen ist, und widmet sich schweigend seinem Mittagessen.
Es ist nicht einfach, sich an die Jahre in Gefangenschaft zu erinnern.
Darum ist die jordanische Traumatherapeutin Islam al-Aqeel an allen fünf
Tagen des Workshops dabei. Sie will dafür sorgen, dass die Männer, „ihre
Erinnerungen an Sednaya hervorholen können, ohne dass jemand verletzt
wird“. Zwischen den Gesprächen sorgt sie mit Atem- und Bewegungsübungen
dafür, dass die Teilnehmer zurück ins Hier und Jetzt finden. Was die Männer
machen, wenn es ihnen schlecht geht, will sie zu Beginn des Workshops
wissen.
„Schreiben“, sagt Badr Zakariya. „Mit einem Freund reden“, sagt Haytham
Qatrib. Und Hassaan Abdelrahman spielt auf seiner Tamburin und raucht.
Al-Aqeel ist auf Therapie für Folterüberlebende spezialisiert und führt
Gruppentherapien vor allem für Syrer:innen im Exil durch. „Wenn man mit
Menschen zusammen ist, die man versteht, die einen verstehen, die auch nur
die gleiche Sprache sprechen, dann kann das schon sehr helfen“, weiß sie
aus Erfahrung. Manchmal sei die Sprache ehemaliger Gefangener wie das
Gezwitscher von Vögeln, sagt sie. „Sie wissen genau, wovon sie reden, weil
sie alle diese traumatische Erfahrung geteilt haben. Aber für Außenstehende
kann es schwierig sein zu folgen.“
## Musizieren als Therapie
Für die ehemaligen Insassen Sednayas waren das Wiedersehen und das
gemeinsame Musizieren wie eine Therapie, sagen sie. „Wir haben eine
besondere Verbindung, die mit keiner anderen vergleichbar ist“, sagt
Hassaan Abdelrahman. „Wir haben zusammen gute und schlechte Zeiten
durchlebt. Wir haben die Jahre unserer Jugend geteilt.“ Am letzten Tag des
Workshops eilen die Männer vom Mittagessen zurück in den Proberaum. Sie
wollen keine Sekunde der gemeinsamen Zeit verlieren und spielen fast ohne
Pause die zwölf Lieder durch, die sie als Album aufnehmen wollen. Am Abend
geben sie den anderen Künstler:innen und den Angestellten auf dem
Brandenburger Gutshof ein Konzert.
Es ist ein besonderer Moment: einige von ihnen haben noch nie vor einem
Publikum gespielt, das aus freien Menschen bestand. Das wollen sie nun
öfter tun: Ende des Jahres ist ein Konzert in dem [9][Theater Hebbel am
Ufer] in Berlin geplant. Außerdem hat der Workshop die Männer inspiriert,
sich öfter zu treffen, mehr Lieder einzuüben und Konzerte in ganz Europa zu
spielen.
Auch Bader Eddin will weiter forschen. Die Gefängnislieder der 1980er hat
er betrachtet, weil damals Sednaya eröffnete, ein Meilenstein in der
syrischen Gefängnisgeschichte. Doch er will noch mehr über die
nachfolgenden Generationen von Gefängnisliedern erfahren, vor allem seit
2011. Vor seiner Arbeit für SYRASP hat er bereits eine kleine Studie hat
mit ehemaligen Insassinnen der sogenannten Todesabteilung des
Geheimdienstes in Damaskus durchgeführt. Die Frauen saßen zwischen 2014 und
2015 für mehrere Monate dort ein. Was sie erzählten, überraschte Bader
Eddin: „Ich hatte damit gerechnet, dass sie Revolutions- und Protestlieder
gesungen haben, doch es fanden sich überhaupt gar keine regimekritischen
Lieder.“
In den Geheimdienstabteilungen sind die Gefangenen noch nicht verurteilt.
„Sie versuchen noch zu beweisen, dass sie keinerlei politischer Aktivität
schuldig sind.“ Allerdings hätten sie symbolische Lieder gesungen, wie das
Liebeslied „Ich und Leyla“, das eigentlich von Herzschmerz handelt. An
einer Stelle singt der Sänger Kadim al-Saher: „Fremde kamen in meine Heimat
und raubten alles Schöne.“ Im Gefängnis hätten die Frauen diese scheinbar
unschuldige Zeile mehrfach wiederholt, so Bader Eddin. „Und sie brüllten
sie, anstatt sie zu singen.“
8 Aug 2023
## LINKS
[1] https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2016/08/syria-torture-prisons/
[2] https://www.eume-berlin.de/projekte/the-prison-narratives-of-assads-syria-v…
[3] https://www.forum-transregionale-studien.de/fellows/vita/2022-2023/eylaf-ba…
[4] /Musikalischer-Protest-aus-Tunesien/!5782394
[5] /Aegypten-auf-der-Suche-nach-seiner-Kultur/!5943117
[6] /Integration-von-gefluechteten-Kindern/!5784704
[7] https://www.menaprisonforum.org/
[8] https://www.britannica.com/art/ud
[9] https://www.hebbel-am-ufer.de/
## AUTOREN
Hannah El-Hitami
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