# taz.de -- Syrische Kultur in Deutschland: Töne der Menschlichkeit bewahren | |
> In Brandenburg erinnern sich syrische Oppositionelle an das gemeinsame | |
> Musizieren in den 80ern und 90ern in einem Gefängnis. Über die Kraft von | |
> Musik. | |
Bild: Damaskus, Syrein in den 80er Jahren. Das Konterfei des Diktators Hafez al… | |
REICHENOW-MÖGLIN (BRANDENBURG) taz | Es ist ein sonniger Morgen Ende Juni | |
in Reichenow-Möglin in Brandenburg. Zwischen ziegelroten mit Weinreben | |
überwucherten Scheunen sitzt eine Gruppe von Männern unter einer Linde an | |
einem Holztisch zusammen. Einer schlägt mit seiner Hand einen langsamen | |
Rhythmus auf die Tischplatte, während die anderen dazu ein arabisches Lied | |
singen. „Oh Fluss der Schuld, füttere mein Feuer nicht mit Flammen. Das | |
Heulen des Zuckerrohrs übertraf meines nicht, und auch der Granatapfel | |
blutete nicht wie ich.“ | |
30 Jahre ist es her, dass diese Männer das letzte Mal zusammensaßen, und | |
die Umgebung hätte unterschiedlicher nicht sein können. Anstatt in einem | |
idyllischen Garten eines Künstlerkollektivs in Brandenburg begegneten sie | |
sich damals zwischen den kalten Mauern eines Gefängnisses am Rande der | |
syrischen Hauptstadt Damaskus. | |
Und es ist nicht irgendein Gefängnis: sondern das Sednaya-Gefängnis, | |
welches in den letzten Jahrzehnten durch Berichte über Folter und | |
Massenhinrichtungen politischer Gefangener traurige Berühmtheit erlangt | |
hat. 2017 bezeichnete [1][Amnesty International] Sednaya als „Schlachthaus | |
für Menschen“. Zwischen 2011 und 2015 sollen laut der | |
Menschenrechtsorganisation 5.000 bis 13.000 im Geheimen gehängt worden | |
sein. | |
Kaum vorstellbar, dass in einer solchen Umgebung Musik gespielt wurde – | |
erst recht nicht, dass es Konzerte, Musikunterricht und Soiréen mit Theater | |
und Tanz gab. Doch tatsächlich baute eine Gruppe politischer Gefangener im | |
Sednaya der 1980er und 90er Jahre eine lebhafte, klandestine Musikszene | |
auf. Zahlreiche Lieder entstanden in der Finsternis ihrer Zellen: | |
Liebeslieder, Protestlieder oder Popsongs des damaligen Mainstream. | |
Sie wurden gesungen oder geflüstert und von Instrumenten begleitet, die | |
teilweise aus Pappe und Brot gebastelt worden waren. In Brandenburg sind | |
einige der damaligen Insassen zusammengekommen, um sich an die Lieder von | |
Sednaya zu erinnern und sie aufzunehmen. Ihre Erfahrung zeigt, wie Menschen | |
gegen alle Widerstände nach Kreativität streben – und wie sie damit unter | |
unmenschlichsten Bedingungen ihre Menschlichkeit bewahren. | |
Seit Baschar al-Assads Vater Hafis sich vor fünf Jahrzehnten an die Macht | |
putschte, ist politische Haft in Syrien trauriger Alltag geworden. Viele | |
Syrer:innen rechnen damit, selbst einmal in den Haftanstalten des | |
Regimes zu verschwinden, die meisten haben Fälle im Familien- oder | |
Bekanntenkreis. Allein seit den Massenprotesten 2011 wurden mehr als | |
100.000 Menschen willkürlich festgenommen. In einem Staat, der seine | |
Bürger:innen massenweise einsperrt, wird die Haft selbst zum Teil der | |
nationalen Geschichte und Identität, sagt Eylaf Bader Eddin, ein | |
Wissenschaftler am [2][Syrasp-Projekt] des Berliner Forums Transregionale | |
Studien. | |
Der 37-Jährige hat zur Übersetzung der Sprache der syrischen Revolution | |
promoviert und beschäftigt sich seit drei Jahren mit Gefängnismusik. Er | |
glaubt, dass Gefängniskultur ein Teil des syrischen Kulturerbes ist und | |
erhalten werden muss. „Wenn wir sie nicht dokumentieren, wird sie | |
vergessen, und das ist es, was das Regime will. Seit 2011 führt es einen | |
metaphorischen Krieg, um die Vergangenheit auszulöschen und neue Narrative | |
darüber zu erschaffen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist.“ | |
Um das zu verhindern, hat [3][Bader Eddin] begonnen, die musikalische | |
Praxis in syrischen Gefängnissen von den 80er Jahren bis heute zu | |
dokumentieren. Er hat zahlreiche ehemalige Gefangene interviewt, um die | |
historischen Fakten aufzuzeichnen: wie sie Instrumente bauten, wann und wo | |
sie diese nutzten. Und er hat die Lieder gesammelt, die sie spielten und | |
sangen. In anderen Ländern wie [4][Tunesien,] der Türkei oder [5][Ägypten] | |
gibt es längst eine Tradition von Gefängnisliedern. Doch syrische | |
Gefängnismusik sei bisher kaum bekannt, sagt Bader Eddin und sieht mehrere | |
Gründe dafür: | |
„Gefangene werden bei ihrer Freilassung davor gewarnt, über das zu | |
sprechen, was sie im Gefängnis erlebt haben. Andernfalls riskieren sie, | |
erneut inhaftiert zu werden. Und die Menschen draußen haben Angst davor, | |
mit ehemaligen politischen Gefangenen zu sprechen. Sie fürchten, dass sie | |
sich dadurch selbst verdächtig machen und im Gefängnis landen.“ Vor allem, | |
wenn Regime lange Zeit ohne Pause an der Macht bleiben, gebe es kaum | |
Freiräume für die Dokumentation der Gefängniskultur – außer im Exil. Seit | |
2011 ist die syrische Diaspora rasant gewachsen. Dadurch ist ein | |
beispielloser Raum für die Produktion und Dokumentation syrischer Kultur | |
entstanden. Vor allem oppositionelle Kultur, die ein halbes Jahrhundert | |
unter Assad kaum überlebt hat, floriert in dieser Umgebung. | |
Wie knapp [6][eine Million weiterer Syrer:innen] lebt auch Bader Eddin | |
heute in Deutschland. Die ehemaligen Gefangenen, die an seinem Projekt | |
teilnehmen, haben Syrien ebenfalls verlassen und leben heute in | |
verschiedenen Ländern Europas. Ende Juni 2023 folgten sie der Einladung von | |
Bader Eddin, SYRASP und dem [7][MENA Prison Forum] nach Brandenburg, um an | |
einem fünftägigen Workshop teilzunehmen. Dort sollten sie sich an eines der | |
schmerzhaftesten Kapitel ihres Lebens erinnern und an die Lieder, die sie | |
spielten, um es durchzustehen. | |
Bader Eddin will die Lieder aufnehmen und archivieren, damit sie nicht | |
vergessen werden. Ein Album soll entstehen, ebenso wie Konzerte, um die | |
Lieder mit der Öffentlichkeit zu teilen. „Wenn wir heute über syrische | |
Gefängnisse sprechen, geht es meistens um Foltermethoden und Todeszahlen“, | |
sagt Bader Eddin. „Ich möchte die Gefängniserfahrung auf keinen Fall | |
romantisieren, aber ich glaube, dass es wichtig ist, sich auf die Menschen | |
zu konzentrieren, die Individuen, die an diesem düsteren Ort lebten.“ In | |
seiner Recherche gehe es um deren Widerstand, sagt er. | |
Am ersten Tag des Workshops steigen die sieben Workshop-Teilnehmer die | |
Stufen der Eisentreppe hinauf, die direkt vom Garten in den ersten Stock | |
einer der Scheunen führt. Sie tragen kurzärmelige Hemden und funktionale | |
Sandalen, sind zwischen Ende 50 und Anfang 70 Jahre alt. Alle waren in den | |
1970er und 80er Jahren politisch aktiv, alle wurden wegen ihrer | |
Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei festgenommen. Manche blieben | |
sieben Jahre in Haft, andere 14. In der geräumigen Scheunenetage, in der es | |
eine Bar und eine Bühne gibt, stellen sie ein paar alte Sessel zu einem | |
Stuhlkreis zusammen. Da ist Hassaan Abdelrahman, ein drahtiger 61-Jähriger | |
mit jugendlicher Unbekümmertheit und einer von fünf Oud-Spielern in der | |
Gruppe. In Sednaya lernte er das Notenlesen und die verschiedenen | |
Tonleitern der klassischen nahöstlichen Musik. | |
Neben ihm sitzt Asaad Shlash, sein damaliger Lehrer. Beim ersten Konzert | |
nach Abschluss seines Musikstudiums 1987 war er mit der [8][Oud] in der | |
Hand festgenommen worden. Die Oud ist eine Art Laute und eines der | |
zentralen Instrumente der arabischen Musik. Der stille 69-Jährige | |
organisierte in Sednaya zeitweise täglichen Oud-Unterricht für bis zu 40 | |
Personen. Weitere seiner damaligen Schüler sitzen im Stuhlkreis: Kisra | |
Kurdi, der bei seiner Festnahme 1987 gerade mal 18 Jahre alt war, und | |
Ibrahim Bayraqdar, ein Ingenieur, der 1984 inhaftiert wurde und im | |
Gefängnis zum ersten Mal in seinem Leben ein Instrument spielte. | |
Andere in der Gruppe beschreiben ihn als den fleißigsten Schüler, der als | |
Einziger alle Lieder auswendig konnte. Mit ihm inhaftiert war sein Bruder, | |
der berühmte Dichter Faraj Bayraqdar. Er schrieb die Texte für zahlreiche | |
Gefängnislieder. Wenn seine Mitgefangenen ihm eine Melodie vorsummten, | |
überlegte er sich die passenden Worte dazu. Eines seiner Lieder ist das | |
über den Fluss der Schuld, das er gemeinsam mit seinen Kameraden am Morgen | |
unter der Linde gesungen hat. | |
Nicht alle Teilnehmer des Workshops waren auf musikalische Weise an der | |
Kulturproduktion Sednayas beteiligt. Da ist zum Beispiel Badr Zakariya, ein | |
strahlender, exzentrischer Theatermacher, der jede Gelegenheit nutzt, um | |
einen kleinen Tanz aufzuführen. In Sednaya veranstaltete er satirische | |
Tanz- und Theaterperformances. Wie auch die Musikkurse und Konzerte fanden | |
sie am Ende eines langen Flurs statt, wo selten Wachen vorbeikamen. Einmal | |
begann er mitten in der Nacht zu bellen und zu jaulen, um seiner Schwermut | |
Ausdruck zu verleihen und die Wachen zu irritieren. | |
Nach und nach stimmten andere Gefangene ein, bis eine „gebellte Symphonie“ | |
mit mehr als 50 Teilnehmern entstand. Unterstützt wurde er bei seinen | |
Theaterstücken immer wieder von Haytham Qatrib, einem Sänger aus einer | |
Familie von Sänger:innen. Qatrib ist der Einzige, der die meisten aus der | |
Gruppe bis zum Workshop in Brandenburg noch nie persönlich getroffen hatte. | |
Er war in einem anderen Flügel Sednayas inhaftiert und spielte dort alleine | |
Oud, oft mehrere Stunden am Tag. | |
Wer war noch dabei? Wie hieß der noch mal? In welchem Jahr war das? Fragen | |
füllen den Raum, als die sieben Männer versuchen sich zu erinnern, wie | |
genau es damals in Sednaya war. Ihr Gespräch zeigt deutlich, wie lückenhaft | |
das Gedächtnis des Einzelnen sein kann und wie viele Fehler sich in | |
individuelle Erinnerungen einschleichen. In der Gruppe korrigieren sie sich | |
gegenseitig, bis ein klareres Bild der gemeinsamen Zeit im Gefängnis | |
entsteht. Schließlich sind sich alle einig, dass der „Höhepunkt der | |
musikalischen Welle im dritten Stock links“ stattfand, zwischen 1988 und | |
1992. In den Folgejahren ebbte die Welle wieder ab, da manche Insassen | |
verlegt und alle nach und nach freigelassen wurden. Gegen Ende ihrer Haft | |
begannen die Männer, vom Leben in Freiheit zu träumen und sich mental | |
darauf vorzubereiten, anstatt sich darauf zu konzentrieren, ihr Leben in | |
Gefangenschaft erträglicher zu machen. | |
Es heißt, dass der Mensch die Haft nur aushalten kann, wenn er sein | |
bisheriges Leben völlig ausblendet und ein ganz neues im Gefängnis aufbaut. | |
Der syrische Schriftsteller Yassin Haj Saleh hat dafür einen Begriff | |
entwickelt: „Istihbas“, ins Deutsche vielleicht am ehesten als | |
„Haftifizierung“ übersetzbar, bezeichnet den Vorgang der Eingewöhnung ein… | |
Gefangenen in seiner neuen Umgebung. Der oder die Gefangene macht es sich | |
quasi gemütlich, findet sich in sein neues Zuhause ein, und „Zeit spielt | |
keine Rolle mehr“. Eylaf Bader Eddin beobachtet in den Anfängen von | |
Sednaya, das seit 1987 existiert, einen kulturellen „istihbas“. Die | |
Gefangenen hätten nicht nur im Bereich Essen, Hygiene oder Sozialleben | |
Routinen entwickelt, sondern „sie fingen auch an, Instrumente zu bauen und | |
eine kulturelle Routine innerhalb des Gefängnisses zu etablieren“. | |
Die ersten Ouds in Sednaya bestanden aus einer klebrigen Mischung aus | |
nassem Brot und Pappe. Sie wurde geschichtet und getrocknet, bis sie den | |
runden Hohlkörper formte, der nötig ist, um die Schwingung der Saiten zu | |
verstärken. Da es keine Saiten gab, lösten die Männer die Gummibänder ihrer | |
Socken und Spannbetttücher auf und flochten daraus dünne Schnüre. Die | |
Wirbel, mit denen das Gerät gestimmt wird, fertigten sie aus Obststängeln. | |
„Stell dir vor, du bist sehr, sehr hungrig, so hungrig, wie ein Mensch nur | |
sein kann. In dem Moment bietet dir jemand ein Stück Kuchen an. Es ist zwar | |
alt und vergammelt, aber in diesem Moment ist es die größte Köstlichkeit, | |
die du dir vorstellen kannst. Genauso waren diese Instrumente für uns im | |
Gefängnis“, erklärt Badr Zakariya. | |
Später begann die Gruppe Teile aus den Holzkisten zu lösen, in denen die | |
Wachen ihnen Obst und Gemüse brachten. Eine ganze Kiste zu behalten wäre zu | |
auffällig gewesen, doch sie sammelten die besten Stücke, bis sie genug | |
hatten, um Instrumente daraus zu bauen. Sie versteckten sie in ihren Zellen | |
und fertigten sie teilweise so, dass man sie leicht auseinander- und wieder | |
zusammenbauen konnte. Asaad Shlash, der Musiklehrer, baute schließlich die | |
erste Oud aus Holz in Sednaya. Zwar war sie anders als normale Ouds nicht | |
rund, sondern rechteckig, doch ihr Klang war für die Gefangenen genau | |
richtig. Als er längst wieder frei war, Syrien verlassen hatte und in | |
Europa lebte, baute Shlash das Instrument noch einmal nach. Er hat die | |
eckige Oud nach Brandenburg mitgebracht und spielt darauf mit geschlossenen | |
Augen. | |
Manche von den Männern haben noch nie zusammen gespielt. Bei anderen ist es | |
mehr als drei Jahrzehnte her, dass sie gemeinsam musiziert haben. Doch nach | |
einer kurzen Eingewöhnungsphase klingen die vier Lauten und sieben Stimmen | |
dennoch harmonisch. Der jugendliche Hassaan Abdelrahman gibt mit der | |
Trommel den Takt an und organisiert die Reihenfolge der Lieder. Sänger | |
Haytham Qatrib übernimmt die Rolle des Vorsängers, die anderen folgen ihm | |
im Chor. Faraj Bayraqdar, der Poet, achtet auf die korrekte Aussprache der | |
arabischen Wörter. Und Theatermacher Badr Zakariya klatscht nach jedem | |
gelungenen Lied mit leuchtenden Augen in die Hände und ruft: „Wie schön!“ | |
Die Lieder, die die sieben Männer während der Zeit in Sednaya und wieder | |
beim Workshop spielten, lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Lieder, | |
die die Gefangenen schon vor ihrer Festnahme kannten und die sie im | |
Gefängnis spielten; bekannte Lieder, deren Musik oder Texte sie | |
abwandelten; und Lieder, die in Sednaya komplett neu komponiert wurden. Für | |
Wissenschaftler Bader Eddin gehören all diese Lieder zu einem Genre, das er | |
„Sijniya“ nennt, abgeleitet von dem arabischen Wort „sijn“ für Gefäng… | |
„Ich denke, dass es einen Unterschied macht, ob man einen Song von Britney | |
Spears in einer Disco singt oder als Migrant, der gerade versucht, die | |
Grenze nach Europa zu überwinden. Die Aussage des Liedes ändert sich je | |
nach Kontext. Wenn ein Lied im Gefängniskontext gespielt wird, dann wird es | |
ein Gefängnislied“, sagt er und weist darauf hin, dass die Musiker aus | |
Sednaya selbst heute, in der weitläufigen Landschaft Brandenburgs, nicht | |
dazu in der Lage seien, ihre Lieder laut zu spielen. Sie singen stattdessen | |
mit zurückhaltender Stimme, ihre Hände berühren die Instrumente nur sanft, | |
als müssten sie ihre Musik noch immer vor den Gefängniswärtern verstecken. | |
Sednaya war in den 80er Jahren noch nicht das „Schlachthaus für Menschen“, | |
zu dem es heute geworden ist. Damals war das Gefängnis noch neu und wurde | |
als moderne, humanere Alternative zu den unterirdischen Kerkern von | |
Gefängnissen wie Tadmor oder den Haftanstalten der Geheimdienste gesehen. | |
In Sednaya durften die Gefangenen Besuch empfangen und sich außerhalb ihrer | |
Zellen bewegen, es gab gewisse Annehmlichkeiten wie Papier, Stifte und | |
Bücher. | |
Dennoch war die Erfahrung der jahrelangen politischen Gefangenschaft für | |
viele Betroffene traumatisch. Und Strafen gab es auch in Sednaya, „wenn man | |
die Regeln nicht befolgte“, sagt der Dichter Faraj Bayraqdar. Er erinnert | |
sich daran, was seinem jüngeren Bruder Ibrahim widerfuhr, als dieser beim | |
Spielen der Oud erwischt wurde: Die Wachen zertrümmerten das kostbare | |
Instrument, „dann steckten sie ihn in Isolationshaft sechs Stockwerke unter | |
der Erde“. Auch Asaad Shlash, der Lehrer, wurde auf diese Weise bestraft. | |
„In der Isolationszelle war es komplett dunkel und so feucht, dass seine | |
Kleidung sich auflöste.“ | |
Einen ganzen Monat verbrachte Ibrahim Bayraqdar ohne jeglichen menschlichen | |
Kontakt. Nur zweimal am Tag schoben die Wachen ihm etwas zu essen unter der | |
Tür hindurch. Doch Ibrahim erinnert sich daran, wie er selbst unter diesen | |
Bedingungen alleine Dabke tanzte, tagelang sang und schrie, um sich der | |
Stille und Isolation zu widersetzen, die seine Strafe sein sollte. „Die | |
Musik war eine starke Stütze, die uns durch all diese Jahre beschützte und | |
uns half durchzuhalten“, sagt er. Die Musik habe ihn stolz und optimistisch | |
gemacht, erinnert sich auch Hassaan Abdelrahman. „Wir hatten ein Ziel, das | |
wir in Gefangenschaft verfolgen konnten.“ Allerdings habe sich das immer | |
wieder gewandelt. In depressiven Phasen spielte er manchmal monatelang | |
nicht auf der Oud. Wenn seine Stimmung sich besserte, fing er wieder an. | |
Beim Mittagessen erzählt Badr Zakariya, der Theatermacher, von seiner | |
Festnahme 1987. Es war nicht seine erste, doch es würde die längste werden. | |
Mit eindrücklicher Gestik beschreibt Zakariya, wie die Soldaten sein Haus | |
umstellten und ihn von seiner Wohnung im fünften Stock nach unten auf die | |
Straße zerrten. Ganz der Theatermacher, imitiert er den Dialekt der | |
Soldaten, die ihn nach seinen „roten Büchern“ fragten: Marx, Lenin und so, | |
erklärt er mit einem verschwörerischen Grinsen. „Der Offizier befahl einem | |
seiner Soldaten, den kleinen Esel – gemeint war ich – mit nach oben zu | |
nehmen, um die Bücher aus meiner Wohnung zu holen“, sagt Zakariya grinsend, | |
als würde er einen Witz erzählen, dessen Pointe kurz bevorstehe. | |
Doch als seine Geschichte sich dem Ende nähert, erinnert er sich plötzlich | |
an etwas anderes: wie er mit dem Soldaten an seiner Wohnungstür ankam und | |
wie dort seine Frau im Türrahmen lehnte. Seine Hand beschreibt einen großen | |
Bauch, sie war damals im siebten Monat schwanger, und die Tränen liefen ihr | |
über das Gesicht. Sein Kind würde Zakariya erst sieben Jahre später in | |
Freiheit sehen. An diesem Punkt der Geschichte zögert er und kämpft mit den | |
Tränen. Er scheint selbst überrascht über die Erinnerung zu sein, auf die | |
er gerade gestoßen ist, und widmet sich schweigend seinem Mittagessen. | |
Es ist nicht einfach, sich an die Jahre in Gefangenschaft zu erinnern. | |
Darum ist die jordanische Traumatherapeutin Islam al-Aqeel an allen fünf | |
Tagen des Workshops dabei. Sie will dafür sorgen, dass die Männer, „ihre | |
Erinnerungen an Sednaya hervorholen können, ohne dass jemand verletzt | |
wird“. Zwischen den Gesprächen sorgt sie mit Atem- und Bewegungsübungen | |
dafür, dass die Teilnehmer zurück ins Hier und Jetzt finden. Was die Männer | |
machen, wenn es ihnen schlecht geht, will sie zu Beginn des Workshops | |
wissen. | |
„Schreiben“, sagt Badr Zakariya. „Mit einem Freund reden“, sagt Haytham | |
Qatrib. Und Hassaan Abdelrahman spielt auf seiner Tamburin und raucht. | |
Al-Aqeel ist auf Therapie für Folterüberlebende spezialisiert und führt | |
Gruppentherapien vor allem für Syrer:innen im Exil durch. „Wenn man mit | |
Menschen zusammen ist, die man versteht, die einen verstehen, die auch nur | |
die gleiche Sprache sprechen, dann kann das schon sehr helfen“, weiß sie | |
aus Erfahrung. Manchmal sei die Sprache ehemaliger Gefangener wie das | |
Gezwitscher von Vögeln, sagt sie. „Sie wissen genau, wovon sie reden, weil | |
sie alle diese traumatische Erfahrung geteilt haben. Aber für Außenstehende | |
kann es schwierig sein zu folgen.“ | |
## Musizieren als Therapie | |
Für die ehemaligen Insassen Sednayas waren das Wiedersehen und das | |
gemeinsame Musizieren wie eine Therapie, sagen sie. „Wir haben eine | |
besondere Verbindung, die mit keiner anderen vergleichbar ist“, sagt | |
Hassaan Abdelrahman. „Wir haben zusammen gute und schlechte Zeiten | |
durchlebt. Wir haben die Jahre unserer Jugend geteilt.“ Am letzten Tag des | |
Workshops eilen die Männer vom Mittagessen zurück in den Proberaum. Sie | |
wollen keine Sekunde der gemeinsamen Zeit verlieren und spielen fast ohne | |
Pause die zwölf Lieder durch, die sie als Album aufnehmen wollen. Am Abend | |
geben sie den anderen Künstler:innen und den Angestellten auf dem | |
Brandenburger Gutshof ein Konzert. | |
Es ist ein besonderer Moment: einige von ihnen haben noch nie vor einem | |
Publikum gespielt, das aus freien Menschen bestand. Das wollen sie nun | |
öfter tun: Ende des Jahres ist ein Konzert in dem [9][Theater Hebbel am | |
Ufer] in Berlin geplant. Außerdem hat der Workshop die Männer inspiriert, | |
sich öfter zu treffen, mehr Lieder einzuüben und Konzerte in ganz Europa zu | |
spielen. | |
Auch Bader Eddin will weiter forschen. Die Gefängnislieder der 1980er hat | |
er betrachtet, weil damals Sednaya eröffnete, ein Meilenstein in der | |
syrischen Gefängnisgeschichte. Doch er will noch mehr über die | |
nachfolgenden Generationen von Gefängnisliedern erfahren, vor allem seit | |
2011. Vor seiner Arbeit für SYRASP hat er bereits eine kleine Studie hat | |
mit ehemaligen Insassinnen der sogenannten Todesabteilung des | |
Geheimdienstes in Damaskus durchgeführt. Die Frauen saßen zwischen 2014 und | |
2015 für mehrere Monate dort ein. Was sie erzählten, überraschte Bader | |
Eddin: „Ich hatte damit gerechnet, dass sie Revolutions- und Protestlieder | |
gesungen haben, doch es fanden sich überhaupt gar keine regimekritischen | |
Lieder.“ | |
In den Geheimdienstabteilungen sind die Gefangenen noch nicht verurteilt. | |
„Sie versuchen noch zu beweisen, dass sie keinerlei politischer Aktivität | |
schuldig sind.“ Allerdings hätten sie symbolische Lieder gesungen, wie das | |
Liebeslied „Ich und Leyla“, das eigentlich von Herzschmerz handelt. An | |
einer Stelle singt der Sänger Kadim al-Saher: „Fremde kamen in meine Heimat | |
und raubten alles Schöne.“ Im Gefängnis hätten die Frauen diese scheinbar | |
unschuldige Zeile mehrfach wiederholt, so Bader Eddin. „Und sie brüllten | |
sie, anstatt sie zu singen.“ | |
8 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2016/08/syria-torture-prisons/ | |
[2] https://www.eume-berlin.de/projekte/the-prison-narratives-of-assads-syria-v… | |
[3] https://www.forum-transregionale-studien.de/fellows/vita/2022-2023/eylaf-ba… | |
[4] /Musikalischer-Protest-aus-Tunesien/!5782394 | |
[5] /Aegypten-auf-der-Suche-nach-seiner-Kultur/!5943117 | |
[6] /Integration-von-gefluechteten-Kindern/!5784704 | |
[7] https://www.menaprisonforum.org/ | |
[8] https://www.britannica.com/art/ud | |
[9] https://www.hebbel-am-ufer.de/ | |
## AUTOREN | |
Hannah El-Hitami | |
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