# taz.de -- Anwalt über Verbrechen in Syrien: „Wunden, die niemand überlebt… | |
> Ein mutmaßliches Mitglied einer Assad-Miliz steht wegen Verbrechen im | |
> Syrienkrieg in Berlin vor Gericht. Vor dem Urteil zieht Nebenklageanwalt | |
> Patrick Kroker Bilanz. | |
Bild: UN-Nahrungsausgabe in Jarmuk, dem belagerten palästinensischen Viertel v… | |
taz: Herr Kroker, in Koblenz waren zwei ehemalige syrische | |
Geheimdienstmitarbeiter [1][angeklagt], in Frankfurt steht ein | |
[2][syrischer Folterarzt vor Gericht.] Wer ist der Angeklagte im Berliner | |
Prozess? | |
Patrick Kroker: Moafak D. werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Er soll als | |
Anführer einer Pro-Assad-Miliz im Stadtviertel Jarmuk im März 2014 mit | |
einer Panzerfaust in eine Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um | |
UN-Hilfsgüter entgegenzunehmen, geschossen haben. | |
Das Ganze fand im Kontext der Belagerung von Jarmuk statt, das von Assad | |
als aufständisches Viertel wahrgenommen und daher ab Ende 2013 komplett | |
abgeriegelt wurde. Es gab keinen Strom, kein Wasser, keine Lebensmittel in | |
diesem vor allem von Palästinenser:innen dicht besiedelten Stadtteil. | |
Aus politischen Gründen hatte das Regime sich darauf eingelassen, | |
Hilfslieferungen zuzulassen. Die Verteilung wurde aber immer wieder | |
gestört, indem zum Beispiel von Scharfschützen auf Personen geschossen | |
wurde. | |
Der Angeklagte soll an diesem Tag auch ein persönliches Motiv für die Tat | |
gehabt haben. | |
Sein Neffe soll ein paar Tage vorher bei einem Feuergefecht mit der Freien | |
Syrischen Armee (FSA) getötet worden sein. Die FSA war in einem anderen | |
Teil von Jarmuk präsent und hat sich mit den Pro-Regime-Gruppierungen | |
Gefechte geliefert. Aus Rache dafür soll der Angeklagte auf die | |
ausgehungerten Menschen gefeuert haben. | |
Jarmuk wurde 1948 als Flüchtlingslager für Palästinenser:innen | |
gegründet und hat sich seitdem zu einem eigenen Stadtteil entwickelt. Der | |
Angeklagte war wie die meisten syrischen Palästinenser:innen | |
staatenlos und zunächst Mitglied des Generalkommandos für die Befreiung | |
Palästinas (PFLP), dann der Bewegung Freies Palästina (FPM). Doch auch die | |
Opfer waren syrische Palästinenser:innen. Wie waren sie in den syrischen | |
Bürgerkrieg verwickelt? | |
Milizen gab es im Camp schon seit der Flucht aus Palästina und der | |
Übersiedlung vieler Palästinenser:innen nach Syrien. Mit den | |
palästinensischen Gruppierungen in Palästina haben die meisten nicht mehr | |
viel zu tun. Einige haben sich unter Hafis al-Assad, Baschar al-Assads | |
Vater, dem Regime angeschlossen. Sie wurden wie die palästinensischen | |
Geflüchteten insgesamt von der syrischen Regierung immer wieder für | |
politische Zwecke instrumentalisiert. | |
Als die Aufstände 2011 begannen, war erst mal unklar, auf welche Seite sich | |
die palästinensische Bevölkerung schlagen würde. Dann kam es ab 2012 zu | |
großen Anti-Assad-Demonstrationen in Jarmuk. Und ab da wurden die | |
regimetreuen Milizen wie die PFLP und die FPM vom Assad-Regime weiter | |
militarisiert. Sie sollten das Lager kontrollieren, später auch die | |
Menschen terrorisieren und die Abriegelung durchsetzen. | |
Der Angeklagte flüchtete 2018 nach Deutschland. Wie wurde er hier entdeckt? | |
Mal wieder spielte die syrische Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Der | |
Angeklagte war sehr bekannt in dem Viertel, viele kannten sogar seinen | |
Namen. Leute haben darüber berichtet, dass er selber auf Demonstrierende | |
geschossen habe oder dass an den Checkpoints, die er befehligt hat, Leute | |
vom Geheimdienst verschleppt, gefoltert, vergewaltigt und zum Teil getötet | |
worden seien. | |
Er hatte auch ein sehr markantes Aussehen: einen weißen Vollbart, den er | |
ober- und unterhalb der Lippen schwarz färbte. Und er hat sich auf offener | |
Straße mit einer Panzerabwehrkanone hingestellt und gefeuert. | |
Bald wurde das Ereignis in arabischen Medien und auf Facebook | |
aufgearbeitet, schlimme Bilder und Videos wurden geteilt. Im Frühjahr 2020 | |
haben ehemalige Bewohner:innen Jarmuks dann herausgefunden, dass | |
Moafak D. in Deutschland sein soll, und sie haben sich an den syrischen | |
Anwalt Anwar al-Bunni gewandt. Er hat weitere Leute befragt und seine | |
Erkenntnisse an den Generalbundesanwalt gegeben, der mit den Ermittlungen | |
begann. | |
Welche Beweise sind seit August gegen Moafak D. vorgebracht worden? | |
Es gibt keine Tatwaffe, keinen Zugang zum Tatort, keine Leichen – alles, | |
was es in einem klassischen Mordprozess zu den Beweisen gehört. Das ist bei | |
Völkerstrafverfahren oft der Fall. Im Verfahren am Kammergericht waren | |
bisher die Aussagen von neun Augenzeug:innen die wichtigsten | |
Beweismittel. Drumherum gibt es Bildmaterial, das in einem längeren | |
Zeitraum vor der Tat und danach in den Krankenhäusern aufgenommen wurde. | |
Von den Minuten direkt vor und nach der Tat gibt es nichts. | |
Man muss also rekonstruieren, was die Augenzeug:innen für eine Waffe | |
gesehen haben – deckt sich das mit den Aussagen der anderen Personen und | |
den Wunden, die sie davongetragen haben? Zwei Personen, die den Schuss | |
überlebt haben und die nun Nebenkläger in dem Prozess sind, haben ihre | |
Wunden untersuchen lassen. Bei der einen Person konnten Splitter | |
festgestellt werden, die sich mit einer Rakete decken, die in der | |
vermuteten Tatwaffe Verwendung findet. Darüber hinaus haben wir | |
Sachverständige zur [3][Situation in Syrien] gehört. | |
Es gibt keine Leichen – aber weiß man, wer die Toten sind? | |
Einige Namen kursieren, doch ich weiß nicht, ob die Identität der Opfer mit | |
der notwendigen Exaktheit festgestellt werden kann. Das muss das Gericht | |
bewerten. Kein:e Zeug:in konnte bisher eine Person benennen, die sie | |
gekannt hat und die gestorben ist. Aber Zeug:innen kannten Namen von | |
Facebook oder vom Hören von anderen Leuten. | |
Wir haben als Nachweis vor allem die Aussagen der Personen, die in der | |
Umgebung standen, wo die Granate einschlug. Die haben zum Teil gesagt, dass | |
sie Wunden gesehen haben, die kein Mensch überleben kann. Aus dem | |
Krankenhaus gab es Berichte von sehr vielen Toten. | |
Allerdings hat es im Anschluss an die Tat wohl noch einen Schusswechsel | |
gegeben. Ein Zeuge konnte aber mit Sicherheit sagen, dass er Tote im | |
Krankenhaus gesehen hat, deren Verletzungen von einer größeren Explosion | |
stammten. Dass Menschen gestorben sind, ungefähr 20, steht für mich | |
persönlich fest, wenn diese auch nicht unbedingt namentlich identifizierbar | |
sind. | |
Wer waren die Opfer? | |
Alle Opfer und Umstehenden waren ganz normale Zivilist:innen, die nur | |
selten ihre Häuser verlassen haben, weil sie wussten, das ist gefährlich. | |
Sie mussten aber, weil sie Hunger gelitten haben. Es müssen furchtbare | |
Zustände gewesen sein in Jarmuk. Eine Person hat erzählt, dass sie ihre | |
Katze gegessen hat, weil sie so Hunger hatte. Die Menschen hatten sich an | |
keinerlei Konflikten beteiligt. Sie standen aus Verzweiflung für | |
Lebensmittel an. | |
Zwei der Überlebenden sind nun Nebenkläger im Prozess, vertreten durch Sie | |
und einen Kollegen. Was haben sie erlebt? | |
Die zwei Männer, 48 und 57 Jahre alt, waren Einwohner von Jarmuk, die sich | |
ein Lebensmittelpaket geholt haben. Mein Mandant wurde nach der Tat in der | |
Notaufnahme gefilmt, als er gerade an der Aorta am Oberschenkel operiert | |
wurde. Das ist eine lebensbedrohliche Operation, doch er fragte nur immer | |
wieder, wo sein Lebensmittelpaket sei. | |
Bei dem anderen Mann wurden noch Splitter im Körper gefunden und er hat bis | |
heute massive Rückenprobleme als Folge der Verletzungen. Zudem sind beide | |
bis heute stark psychisch gezeichnet. | |
Im Dezember hat sich der Angeklagte erstmals zur Tat geäußert. In dem von | |
seinen Anwälten verlesenen Statement behauptet er, seit Ende 2012 nicht | |
mehr in Jarmuk gewesen zu sein. | |
Die Einlassung kann ich mir aus prozesstaktischer Sicht nicht erklären. Das | |
scheint mir eine Verzweiflungstat des Angeklagten gewesen zu sein, ich | |
würde sogar vermuten gegen den Rat der Anwälte. Es ist überhaupt nicht | |
nachvollziehbar, dass er sagt: „Ich war nie dort.“ Ich habe Bilder von ihm | |
vor und nach der Tat gesehen, die ihn in Jarmuk zeigen. | |
Bis zu dieser Einlassung hat die Verteidigung vor allem versucht, die | |
Diskrepanzen zwischen den Zeug:innenaussagen herauszuarbeiten. Dabei | |
gibt es die ja immer, wenn verschiedene Personen mehrmals über das gleiche | |
Ereignis zu reden. Abweichungen gab es zum Beispiel bei der genauen | |
Lokalisierung des Tatorts. Die Leute haben in Jarmuk nie Google Maps | |
benutzt, sondern das erste Mal in Deutschland bei den Asylanhörungen. Da | |
gab es dann zum Teil abweichende Angaben, ich sehe diese aber als marginal | |
an. | |
Der Prozess nähert sich dem Ende. Welches Urteil erwarten Sie? | |
Ich erwarte, dass Moafak D. für die ihm vorgeworfenen Kriegsverbrechen, | |
Morde und die versuchten Morde an unseren Mandanten verurteilt wird. Das | |
ist dann eine obligatorische lebenslange Freiheitsstrafe. | |
Die Nebenklage hat beantragt, den Angeklagten nicht nur wegen | |
Kriegsverbrechen, sondern auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
anzuklagen und zu verurteilen. Warum ist das wichtig? | |
Das ergibt sich aus den Schilderungen der Umstände, die in Jarmuk | |
geherrscht haben. Der UN-Sonderberichterstatter für Syrien hat Jarmuk | |
damals als „den untersten Kreis der Hölle“ bezeichnet. Die Assad-Regierung | |
hat ab April 2011 einen ausgedehnten und systematischen Angriff auf die | |
Zivilbevölkerung geführt und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
begangen. | |
Dazu gibt es jetzt auch das erste rechtskräftige Urteil aus Koblenz. In dem | |
Prozess dort ging es vor allem um Folter von Gefangenen, aber dieses | |
Abriegeln und Aushungern wie in Jarmuk war ein wichtiger Teil des | |
Menschheitsverbrechens. Damit bestrafte die Regierung vermeintlich nicht | |
loyale Bevölkerungsgruppen, etwa auch in Daraa und Zabadani. | |
Wurde das im Gerichtssaal thematisiert? | |
Alle Tatzeug:innen, die hier im Gericht erschienen sind, haben damit | |
angefangen zu sagen: „Ich muss erst mal erzählen, wie furchtbar das alles | |
war, wie wir gelitten haben, wie wir von diesen Gruppen terrorisiert | |
wurden.“ Der Tatbestand des Kriegsverbrechens wird dem Unrecht, das in | |
Jarmuk geschehen ist, und dem Leid der Opfer nicht gerecht. | |
3 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Hannah El-Hitami | |
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