# taz.de -- Nebenklägerin über Koblenzer Prozess: „Ich bin kein leidendes O… | |
> Ruham Hawash saß in Syrien im Folterknast. Als ein Verantwortlicher in | |
> Deutschland vor Gericht kam, wurde sie Nebenklägerin. Warum? | |
Bild: „Der Prozess hat uns einen Platz gegeben, um unsere Geschichte zu erzä… | |
Wir treffen Ruham Hawash beim ECCHR, dem European Center for | |
Constitutional and Human Rights in Berlin-Kreuzberg. Der Verein hat sie als | |
Nebenklägerin im Prozess gegen Anwar R., einen ehemaligen Oberst beim | |
syrischen Geheimdienst, vor dem Oberlandesgericht Koblenz unterstützt. R. | |
war für das Gefängnis verantwortlich, in dem Hawash gefoltert wurde. Wir | |
sprechen auf Deutsch, manchmal muss Frau Hawash nach den richtigen Worten | |
suchen. | |
taz: Frau Hawash, Mitte Januar hat das Oberlandesgericht Koblenz Anwar R. | |
[1][wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.] Wie war Ihr | |
Gefühl, als Sie nach der Urteilsverkündung das Gerichtsgebäude verlassen | |
haben? | |
Ruham Hawash: Es war ein gutes Gefühl. Ich war erleichtert, dass der | |
Prozess zu Ende ist. Und ich war zufrieden mit dem Urteil. | |
Anwar R. ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden, das Gericht hat aber | |
nicht die besondere Schwere der Schuld festgestellt, nach 15 Jahren kann er | |
also freikommen. Spielt die Höhe der Strafe für Sie eine Rolle? | |
Nein, wie lange diese Person im Gefängnis bleibt, ist unwichtig. Wichtig | |
ist, dass ein deutsches Gericht festgestellt hat, dass die syrische | |
Regierung eine Folterregierung ist. Dass sie Verbrechen an der eigenen | |
Bevölkerung begeht. Und dass damit klar ist, dass es keine | |
[2][Normalisierung der Beziehungen mit dieser Regierung] geben darf. | |
Wichtig ist auch, dass das Gericht viele Beweise anerkannt hat, die in | |
anderen Prozessen genutzt werden können. | |
Sie waren Nebenklägerin in dem Prozess. Wie kam es dazu? | |
Ich saß in diesem Gefängnis und ich habe – wie andere syrische Aktivisten | |
in Deutschland und Europa – mitbekommen, dass es diesen Prozess geben wird. | |
Am Anfang dachte ich, es ist nicht wichtig für mich, persönlich Teil davon | |
zu sein. Ich dachte, ich könnte nichts beitragen, was das Gericht nicht | |
sowieso hören würde. Anderen ist es dort noch viel schlechter ergangen als | |
mir. Freunde von mir sind dort gestorben. Ich hatte auch keine Beweise, | |
keine Dokumente oder so, nur meine Erinnerung. Ich dachte, meine Geschichte | |
zählt nicht. | |
Warum haben Sie sich entschieden, doch in den Prozess einzusteigen? | |
Irgendwann dachte ich, okay, ich mache das für mich persönlich. Ich war | |
dort inhaftiert und wurde gefoltert, diese Person war mitverantwortlich | |
dafür. Es ist egal, ob es einen Tag gedauert hat oder hundert oder tausend. | |
Es war Unrecht. Und ich habe das Recht, diese Person anzuklagen. Vielleicht | |
kann ich diese Sache so für mich zu Ende bringen, einen Teil meiner Würde | |
zurückbekommen. Deshalb habe ich mich entschieden, persönlich als | |
Nebenklägerin in den Prozess einzusteigen. Einfach war das nicht. | |
Ruham Hawash hat sich kurz vor der Urteilsverkündung gemeinsam mit drei | |
weiteren Nebenkläger:innen noch einmal direkt an das Gericht gewandt. | |
„Meine Beteiligung an diesem Prozess war – auf der einen Seite – eine | |
leidvolle Erfahrung für mich“, sagte sie. „Ich habe eine Menge an | |
Erinnerungen ausgraben müssen, die ich stets für immer zu begraben und zu | |
vergessen versuchte, eine Angelegenheit, die enorme Auswirkungen auf meine | |
körperliche und geistige Gesundheit hatte.“ | |
Frau Ruham, was heißt das genau? | |
In den vergangenen zehn Jahren habe ich alles getan, um diesen Teil meiner | |
Geschichte zur Seite zu legen. Für meine Aussage musste ich alles wieder | |
hervorholen, obwohl ich es am liebsten vergessen hätte. Ich hatte | |
Flashbacks, viele Flashbacks. | |
Ausführen, was das genau bedeutet, will sie nicht, sie verweist auf die | |
„New York Times“, wo eine lange Geschichte über sie erschienen ist. Der | |
Autorin hat sie geschildert, wie es ihr im Bett in ihrem Hotelzimmer in | |
Koblenz erschien, als würde die Dachschräge auf sie zukommen, und es sich | |
anfühlte, als würde sie wieder in Damaskus in einer Zelle sitzen. | |
Ich habe im Gericht Details erzählt, die ich vorher meinen engsten | |
Freundinnen und Freunden nicht erzählt habe. Und dann musste ich das im | |
Gericht, in der Öffentlichkeit, vor fremden Menschen tun. Das ist nicht | |
leicht. Ich wusste ja auch gar nicht, was mich erwartet. Ich habe Zeit | |
gebraucht, um mich besser zu fühlen, auch im Prozess selbst. Aber wenn man | |
weiß, dass etwas daraus entstanden ist, dann ist das gut. | |
Die Opfer, auch das hat Hawash vor Gericht gesagt, wären durch das | |
Verfahren zum ersten Mal in der Lage gewesen, ihre Mündigkeit | |
zurückzuerlangen, sie seien nun keine Opfer mehr. | |
Was bedeutet das? | |
Der Prozess hat uns einen Platz gegeben, um unsere Geschichte zu erzählen. | |
Und er hat uns unsere Rechte zurückgegeben. Ich wollte kein leidendes Opfer | |
sein und ich bin es auch nicht mehr. Ich bin eine Überlebende. Ich bin so | |
froh, dass es dieses Urteil gibt, das hat für mich vieles verändert. | |
Der „New York Times“ hat Hawash auch von ihrer Angst berichtet, dass | |
Menschen, die ihre Geschichte hören, sie für schwach halten könnten. | |
Wie denken Sie darüber jetzt? | |
Wenn man so eine schwierige Geschichte erzählt wie meine Haftgeschichte, | |
dann haben die Menschen Mitleid. Sie sehen dich anders, da bin ich sicher. | |
Meine Befürchtung war, dass diese Menschen mich für schwach oder | |
verletzlich halten. Sie haben das Gefühl, sie müssen etwas tun für dich, | |
aber das müssen sie nicht. Das ist unangenehm. Aber nachdem dieser Artikel | |
in der New York Times erschienen ist, haben sich viele Leute bei mir | |
gemeldet und mir versichert, dass das nicht so ist. Das hat meine Gefühle | |
verändert. | |
Wie kam es dazu, dass Sie in Al Khatib gelandet sind? | |
Ich bin im März 2012, ein Jahr nachdem die Proteste begonnen hatten, | |
außerhalb von Damaskus auf dem Land an einem Checkpoint angehalten worden | |
und hatte verschiedene Sachen im Auto, darunter Flyer gegen Regierung. Und | |
ich hatte auch Menschen mit mir im Auto, die auch gegen die Regierung sind. | |
Sie haben mir die Sachen abgenommen und meinen Ausweis auch und gesagt, ich | |
soll mich in der Al-Khatib-Abteilung melden. Das habe ich dann auch getan. | |
Und dann wurde ich festgenommen, etwa zwei Monate lang, aber nicht am | |
Stück. Manchmal durfte ich zum Schlafen nach Hause gehen, manchmal musste | |
ich bleiben. Meinen Ausweis habe ich bis heute nicht zurück. | |
Sie wurden geschlagen und gefoltert, unter anderem mit Elektroschocks. Sie | |
sagen aber, das Schlimmste sei die Zeit gewesen. Warum? | |
Dass man einfach dasitzt und nicht weiß, was als Nächstes passiert. Ob ich | |
heute nach Hause zurückgehe oder nicht zurückgehe oder in zwei Monaten oder | |
nie. Man verliert auch die Wahrnehmung von Zeit. Ich erinnere mich nicht, | |
wie lange das alles ging, aber ich erinnere mich an das Gefühl, einfach | |
warten zu müssen. Das ist bis heute geblieben. Ich hasse Warten. Wenn ich | |
verabredet bin, kann diese Person ruhig zwei Stunden zu spät kommen. Aber | |
sie muss mir sagen, wann sie kommt. Ich kann nicht so einfach rumsitzen und | |
warten. Das halte ich nicht aus. | |
Wie leben Sie heute? | |
Ich bin Ende 2012 nach Deutschland gekommen, eigentlich wollte ich nur | |
einen Monat bleiben und mich erholen. Aber seitdem bin ich hier, inzwischen | |
bin ich auch Deutsche. Ich leite eine Organisation, IMPACT – Civil Society | |
Research and Development. Und ja, ich habe einen Kater. | |
Sie sind eine der wenigen, die Anwar R. in Al Khatib wirklich gesehen hat, | |
ganz ohne Augenbinde, die die Gefangenen bei den Verhören tragen mussten. | |
Wie war es, diesen Mann im Gerichtssaal wiederzusehen? | |
Am Anfang hatte ich kurz Angst vor ihm. Er sitzt da und hat saubere | |
Klamotten an, es geht ihm gut. Als ich ihn im Gefängnis gesehen habe, ging | |
es ihm auch gut. Ich habe gedacht, dass er dieselbe Person ist und dass | |
diese Person gefährlich für mich ist. So war das am Anfang, in diesem | |
ersten Moment, als ich ihn gesehen habe. Dann konnte ich es verarbeiten: | |
Wir sind jetzt in Deutschland, wir sind in einem Gerichtssaal, er steht vor | |
Gericht. Dann habe ich ihn anders gesehen. | |
Frau Hawash: Mit Anwar R. und seinem Mitangeklagten sind erstmals weltweit | |
Mitarbeiter des immer noch herrschenden Assad-Regimes verurteilt worden. | |
Was wünschen Sie sich, was nun passiert? | |
Das Urteil darf nicht einmalig bleiben. Ich bin mir sicher, es gibt viele | |
Täter außerhalb von Syrien, die man erreichen kann. Sie müssen vor Gericht | |
gestellt werden. Den Menschen, die jetzt in Syrien im Gefängnis sitzen, | |
muss geholfen werden. Man darf keine Geflüchteten zurück nach Syrien | |
schicken und das Land nicht als sicher bezeichnen. Und es darf keine | |
Normalisierung mit diesem Folterregime geben. Gerechtigkeit ist schwer zu | |
erreichen, aber dieser Prozess zeigt, dass es Gerechtigkeit geben kann. Das | |
gibt uns Hoffnung. | |
17 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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