| # taz.de -- Cherson unter russischer Besatzung: Das Hotel der Geretteten | |
| > Das „Richelieu“ in Cherson hat schon lange keine Touristen mehr gesehen. | |
| > Stattdessen leben hier Geflüchtete – dank des Engagements der Betreiber. | |
| Bild: Kinder im Hotel „Richelieu“ | |
| Ihr Lieben, ihr seid frei!“ – so begrüßt die Stadt Cherson schon bei der | |
| Einfahrt mit großen Werbeleuchttafeln. Der Appell richtet sich freilich | |
| weniger an die Neuankömmlinge, sondern eher an die Chersoner selbst. | |
| Schließlich waren sie es, die fast acht Monate lang unter russischer | |
| Besatzung gelebt haben und erst Mitte November befreit wurden. | |
| Seit dem Rückzug der russischen Streitkräfte auf das linke Ufer des Dnjepr | |
| ist die Metropole das Ziel häufigen [1][Artilleriebeschusses]. Die lokalen | |
| Behörden listen auf, dass seitdem 896 Objekte beschädigt worden sind. Davon | |
| seien 771 Wohngebäude, 44 Bildungseinrichtungen und 34 zählten zur | |
| Infrastruktur. Bis zum Erscheinen dieses Textes dürften die Zahlen noch | |
| einmal gestiegen sein. | |
| Doch die Furcht der Einwohner von Cherson ist nicht neu. Sie sitzt den | |
| Chersonern in den Knochen, seit die Stadt ins Visier der russischen | |
| Streitkräfte geriet und Anfang März letzten Jahres besetzt wurde. Sie hat | |
| aber auch zu bemerkenswerten Akten der Solidarität geführt. | |
| ## Vom Hotel zum Flüchtlingsheim | |
| Als die Russen die Stadt kurz nach Kriegsbeginn eroberten, war der | |
| 36-jährige Serhij Rybalchenko bereits seit mehreren Jahren als Manager | |
| eines der zentralen Hotels in Cherson beschäftigt. Nun übertrug ihm die | |
| Geschäftsführung die Verwaltung des Komplexes. Das Hotel nennt sich | |
| „Richelieu“. Der Name geht ausgerechnet auf den französischen Herzog in | |
| russischen Diensten zurück, der 1805 zum Generalstatthalter Chersons | |
| ernannt wurde. | |
| Reisende, Touristen gar, waren nach dem russischen Einmarsch nicht mehr zu | |
| erwarten. Rybalchenko berichtet: „Mit dem Ausbruch der Kämpfe in unserer | |
| Gegend begann ein Zuwanderungsstrom von Menschen nach Cherson, die ihr Dach | |
| über dem Kopf verloren hatten. Wir öffneten die Türen unseres Hotels. Für | |
| viele von ihnen war es die Rettung“, so erinnert sich der Mann, der vor der | |
| mit Folie und dunklem Stoff bedeckten Tür des Hotels steht. Die Folie dient | |
| der Verdunkelung. Gegen Raketen schützt sie nicht: „Vor ein paar Tagen ist | |
| eine Rakete nur ein paar Dutzend Meter von uns entfernt eingeschlagen. Die | |
| Gebäude in der Umgebung wurden beschädigt, aber wir hatten einfach Glück“. | |
| Ein Hotel und keine normalen Gäste also. Der Manager erzählt: „Schon Ende | |
| Februar trafen die ersten Geflüchteten vor unserer Haustür ein. Es waren | |
| Menschen aus Cherson selbst und aus Dörfern, die beschossen wurden. | |
| Meistens kamen die Leute nur für ein paar Tage hierher, bevor sie | |
| weiterzogen. Aber einige blieben die ganze Zeit, weil sie nirgendwo anders | |
| hin konnten.“ So wurde aus dem Hotel eine Notunterkunft für | |
| Binnenvertriebene. | |
| ## Das Schicksal von Natalia | |
| Eine von ihnen trägt den Vornamen Natalia und kommt aus dem Dorf | |
| Oleksandrivka. Sie lebt seit mehr als sechs Monaten mit ihren vier Kindern | |
| und ihrer älteren Schwiegermutter in dem Hotel. Ihr Heimatdorf sei von den | |
| Besatzern völlig zerstört worden, berichtet die Frau, und obwohl es nicht | |
| besetzt worden ist, hätte sie dort kein Zuhause mehr gehabt. Personal vom | |
| Roten Kreuz habe sie hierher gebracht. „Es war sehr beängstigend, wir | |
| wurden furchtbar bombardiert. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt ein Dach | |
| über dem Kopf haben“, sagt sie. Sie versucht es zu vermeiden, Fragen über | |
| die Zukunft zu beantworten. Die meisten der ständigen Bewohner*innen | |
| des Zentrums haben ähnliche Geschichten wie Natalia. | |
| „Bei uns ist fast alles absolut kostenlos. Komfortable und saubere Zimmer | |
| mit Duschen, drei Mahlzeiten am Tag, relative Sicherheit und vor allem eine | |
| freundliche Atmosphäre“, erklärt Anastasia, die Frau von Serhij | |
| Rybalchenko, dem Verwalter. Im Gegenzug wird erwartet, dass sich die | |
| Bewohner*innen an die festgelegten Regeln für den Aufenthalt halten. | |
| „Wir haben kein Personal mehr, also machen wir alles selbst und | |
| füreinander. Wir haben die Verantwortlichkeiten aufgeteilt – jemand putzt, | |
| jemand kocht, jemand kümmert sich um die Kinder. In dieser Zeit sind wir | |
| füreinander zur Familie geworden“, sagt die junge Frau und lächelt. Sie und | |
| ihr Mann würden von drei weiteren Personen unterstützt. | |
| Die Arbeit in dem Hotel, das keines mehr ist, wird hauptsächlich von | |
| Spenden aus anderen Regionen der Ukraine und aus europäischen Ländern sowie | |
| von Hilfsorganisationen und internationalen Stiftungen finanziell | |
| unterstützt. Die Geflüchteten zahlen selbst für die Lebensmittel. | |
| Derzeit leben etwa 40 Menschen im „Richelieu“. Die meisten von ihnen sind | |
| Frauen mit ihren Kindern und ältere Menschen. Die härteste Zeit hätten sie | |
| im letzten Sommer überstanden, als eigentlich viel zu viele Menschen in die | |
| Unterkunft strömten, sagt Anastasia Rybalchenko. „Das Hotel ist für 150 | |
| Personen ausgelegt, aber wir hatten einen Tag, an dem 390 Personen im Haus | |
| waren. Wir haben es irgendwie geschafft, alle aufzunehmen“, erinnert sich | |
| die Frau. | |
| Die meisten dieser Menschen hätten darauf gewartet, in die ukrainisch | |
| kontrollierten Städte [2][Mykolajiw] und Saporischschja evakuiert zu | |
| werden. „Von Cherson nach Mykolajiw sind es 60 Kilometer oder eine Stunde | |
| mit dem Auto. Während der Besatzung brauchte man für diese Fahrt zwei bis | |
| drei Tage und musste dabei zahlreiche russische Kontrollpunkte passieren. | |
| In das 360 Kilometer entfernte Saporischschja dauerte die Reise für Männer | |
| mehr als eine Woche“, sagt Serhij Rybalchenko, der dabei half, die | |
| Evakuierung zu organisieren. Frauen und Kinder seien die ersten gewesen, | |
| die herausgeholt wurden. | |
| „Wir haben hier alle zusammen viel durchgestanden. Wir haben sogar Kinder | |
| getauft. Leider gab es auch Beerdigungen, aber wir warten auch auf die | |
| Geburt unseres ersten Kindes im Frühjahr“, sagt Anastasia, während sie | |
| durch das Hotel führt. | |
| ## Holzfeuer bei Stromausfall | |
| Die beiden obersten Etagen des siebenstöckigen Gebäudes stehen aus | |
| Sicherheitsgründen leer. Das Hotel verfügt über einen Keller, in dem die | |
| Bewohner*innen während des Beschusses Schutz suchen, aber es ist | |
| schwierig, sich dort länger aufzuhalten, da der Raum nicht nur ungeheizt, | |
| sondern auch viel zu eng ist, um alle Menschen aufzunehmen. | |
| Im sichersten Flügel in den unteren Etagen hat man eine Art Kindergarten | |
| eingerichtet. Ein weiterer großer Raum dient der Bevorratung mit Wasser und | |
| Lebensmitteln. Im Innenhof des Hotels entstand eine Feldküche mit einem | |
| Vorrat an Brennholz, für den Fall, dass der Strom ausfällt. „Es gab eine | |
| Zeit, in der wir in allen umliegenden Straßen Äste für das Feuer gesammelt | |
| haben“, erinnert sich Oleksandr, ein Helfer von Serhij und Anastasia | |
| Rybalchenko. | |
| Angesichts des Dauerbeschusses von Cherson haben die Mitarbeiter und | |
| Freiwilligen inzwischen eine neue Tätigkeit aufnehmen müssen: Sie decken | |
| die Fenster der von Druckwellen beschädigten Häuser mit Folie und Sperrholz | |
| ab. Die Erinnerung an die Zeit der Besatzung beginnt dagegen langsam zu | |
| einem schlechten Traum zu verblassen. | |
| ## Konfrontation mit den Besatzern | |
| „Wir wurden ständig vom russischen Militär, der Polizei und dem | |
| Geheimdienst FSB besucht. Einige wollten hier einziehen, andere wollten | |
| wissen, was wir hier machen und warum wir ihnen eine Unterkunft verweigern. | |
| Kein einziger russischer Militäroffizier war bei uns“, betont Anastasia mit | |
| Nachdruck und erinnert sich daran, wie höflich sie bei den Gesprächen | |
| bleiben musste und ihre Verachtung nicht zeigen durfte. Die ukrainische | |
| Flagge, die jetzt wieder an der Rezeption hängt, lag währenddessen in einer | |
| Tasche unter einem Kühlschrank. | |
| Die Tarnung hat nicht in jedem Fall geklappt: Einer der Gäste erstattete | |
| nach der Abreise eine Anzeige bei der Militärpolizei, in der er Anastasia | |
| der „Schürung des Nationalismus“ beschuldigte. Schließlich musste sie sich | |
| vor den Besatzungsbehörden rechtfertigen. Auch ihr Assistent Maxym ergänzt: | |
| „Ich sagte einmal versehentlich ‚Guten Tag‘ auf Ukrainisch statt auf | |
| Russisch zu einem der Besatzer, was ihn misstrauisch machte. Danach habe | |
| ich mehrere Wochen lang versucht, nirgendwo unnötig aufzutauchen.“ | |
| Auch Serhij Rybalchenko geriet ins Visier, berichtet er: „Sie riefen an und | |
| baten mich, das Hotel zu verlassen. Draußen wartete ein schwarzer Wagen mit | |
| getönten Scheiben auf mich, und ein Mann in Uniform und mit einem | |
| Maschinengewehr machte mir klar, dass er auf mich wartete. Einer stellte | |
| Fragen, ein anderer saß schweigend da und der dritte drückte ständig auf | |
| die Sicherung seines Maschinengewehrs.“ | |
| „Die ganzen 23 Minuten, die Serhij in ihrem Auto saß, stand ich vor der Tür | |
| des Hotels. Ich glaube, ich bin in dieser Zeit fast ergraut“, erinnert sich | |
| Anastasia. | |
| Obwohl die russische Armee seit ihrem Abzug Cherson täglich beschießt, | |
| beschloss das Betreiber-Ehepaar des ehemaligen Hotels, am Silvesterabend | |
| für alle Bewohner ein großes Familienessen mit traditionellen hausgemachten | |
| Gerichten zu organisieren. Die Vorbereitung übernahm der 23-jährige Artem, | |
| der Chefkoch des Hauses. | |
| ## Die Flucht des Chefkochs | |
| Der stammt aus [3][Donezk]. Als die Russen 2014 einen Teil der Region | |
| besetzten, war Artem gerade einmal 15 Jahre alt. Er wuchs bei seiner | |
| Großmutter auf, die dem Untergang der Sowjetunion nachtrauerte. „Ich | |
| gestehe, ich habe Russland unterstützt. Ich bereue es, aber woher sollte | |
| ich, der ich als Kind unter diesen Bedingungen aufgewachsen bin, andere | |
| Informationen bekommen?“, sagt der junge Mann. In Donezk machte er eine | |
| Ausbildung zum Koch und arbeitete als Barkeeper. | |
| „Ich hatte Angst, mich in das ukrainisch kontrollierte Gebiet zu begeben, | |
| weil ich dachte, dass ich sofort zur Armee eingezogen würde. Aber als mein | |
| Onkel mir vorschlug, ihn in [4][Mariupol] zu besuchen und als Koch auf | |
| seinem Fischerboot zu arbeiten, beschloss ich, die Chance zu nutzen“, | |
| erinnert sich Artem. | |
| Den Beginn der russischen Invasion vor elf Monaten erlebte Artem auf dem | |
| Schiff, das gerade von der See zurückgekehrt war. Die Crew beschloss, an | |
| Bord zu bleiben, da Mariupol bereits von Wasser und Land aus beschossen | |
| wurde. „Unser Schiff stand an einem der Liegeplätze von Azovstal. Das | |
| Militär, das die Verteidigung des Stahlwerks hielt, half uns manchmal mit | |
| Lebensmitteln und teilte uns Nachrichten mit, weil wir überhaupt nichts | |
| wussten und nicht verstanden, was vor sich ging“, erinnert er sich an die | |
| Tage Anfang März 2022. Dann begann der Beschuss. | |
| „Ich beschloss, zum Theater zu gehen, weil ich gehört hatte, dass sich dort | |
| Menschen verstecken. Ich bin zwei Tage lang von der Werkstatt ins | |
| Stadtzentrum gelaufen, weil ich mich vor dem Beschuss in den Eingängen und | |
| Kellern der Häuser verstecken musste“, sagt Artem, macht eine Pause, um | |
| dann fortzufahren: „In einem der Häuser sah ich eine Frau gebären. Sowohl | |
| sie als auch das Baby sind gestorben“. | |
| Artem gelang es nach seiner Schilderung, das [5][Theater] zu verlassen, | |
| bevor es zerstört wurde. Der junge Mann beschloss, von Mariupol in eine | |
| andere Hafenstadt, nach Berdjansk, zu laufen. | |
| Für diesen Weg benötigte er etwa vier Tage. An jedem russischen Checkpoint | |
| um die eingekesselte Stadt sei er verhört worden. Man habe ihn nackt | |
| ausgezogen, um seine Tätowierungen zu überprüfen. „Ich bin groß, bärtig … | |
| habe ein großes Tattoo. Die Russen sahen mich als [6][Asow-Kämpfer]“, sagt | |
| Artem. | |
| Nachdem er schließlich Berdjansk erreicht hatte, beschloss der Junge kurz | |
| darauf, in das bereits besetzte Cherson zu gehen. Ohne Bekannte oder | |
| Beziehungen landete er im Zentrum für Binnenflüchtlinge. Dort übernahm er | |
| das, was er liebt und kennt – die Küche. | |
| ## Die Silvesternacht im „Richelieu“ | |
| In der Silvesternacht versammeln sich alle Bewohner*innen des Zentrums | |
| um einen festlichen Tisch, als wären sie eine große Familie. Am | |
| geschmückten Weihnachtsbaum tragen die Kinder Silvestergedichte vor. Der | |
| zehnjährige Vanja ist ein wenig aufgeregt, aber alle unterstützen ihn mit | |
| Lächeln und Applaus. Genau um Mitternacht startet das russische Militär | |
| einen Angriff auf Cherson. Die Erwachsenen versuchen, die Aufmerksamkeit | |
| der Kinder mit Geschenken von den Explosionen abzulenken – und es gelingt | |
| ihnen. | |
| Eine richtige Festtagsstimmung will nicht aufkommen, trotz des guten | |
| Essens, der feinen Kleider und frischen Frisuren der Frauen. „Wir alle | |
| wollen das scheidende Jahr wie einen schlechten Traum vergessen. Lassen Sie | |
| dieses Jahr, zusammen mit den Russen, in der Vergangenheit liegen. Und möge | |
| das nächste Jahr nur Gutes bringen. Gott bewahre uns davor, dass wir jemals | |
| wieder in unserem Leben das erleben, was wir in diesem Jahr erlebt haben“, | |
| wendet sich Serhij Rybalchenko an die Versammelten. Um Mitternacht hebt er | |
| ein Glas Champagner. „Frohes neues Jahr!“ | |
| 18 Jan 2023 | |
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| Anastasia Magasowa | |
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