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# taz.de -- Bürgerrechtler über Knäste in Ukraine: „Relikt aus Sowjetzeite…
> Die Ukraine will Teile ihres Strafrechts reformieren. Der
> Menschenrechtler Andri Didenko begrüßt die Änderungen, prangert aber
> weiter Missstände an.
Bild: In vielen ukrainischen Gefängnissen sind die Haftbedingungen schlecht
taz: Herr Didenko, Sie beschäftigen sich für die Menschenrechtsgruppe
Charkiw seit zehn Jahren intensiv mit der Lage in ukrainischen
Gefängnissen. Nun stehen einige Gesetzesreformen an. Setzt das Parlament an
der richtigen Stelle an?
Andri Didenko: Ich finde gut, dass man nun endlich Paragraf 391 des
Strafgesetzbuchs abschaffen will. Der ist ein Relikt aus Sowjetzeiten und
besagt, dass ein Gefangener, der mehrfach Anordnungen der
Gefängnisverwaltung nicht nachgekommen ist, von einem Gericht zu
zusätzlichen drei Jahren Haft verurteilt werden kann. Wenn er also zum
Beispiel sein Namensschild nicht getragen hat, er nicht rechtzeitig
aufgestanden ist, unrasiert war, in einen Konflikt verwickelt war. Das
heißt, man kann für eine Sache zweimal bestraft werden: entsprechend der
Gefängnisordnung und dann auch noch strafrechtlich.
In der Praxis sieht das so aus: Zuerst erhält der Häftling für sein
Fehlverhalten eine Rüge und muss in die Strafzelle. Das können bis zu 14
Tage sein. Dann kommt er für drei Monate in eine andere Strafzelle,
allerdings mit etwas weniger strengem Regime. Da darf man zum Beispiel
rauchen. Und anschließend wird er nach Paragraf 391 Strafgesetzbuch zur
Verantwortung gezogen. Gut, dass man sich endlich an die Abschaffung dieses
Paragraphen macht.
Ihre NGO, die Menschenrechtsgruppe Charkiw, [1][besucht regelmäßig
Gefängnisse,] um sich ein Bild von der Situation zu machen. Geht das, ohne
sich vorher anzumelden?
Menschenrechtler, die sich für die Lage von Häftlingen interessieren,
suchen sich in der Regel einen Abgeordneten, der sie als Mitarbeiter führt.
Auch ich bin Mitarbeiter eines Abgeordneten, wenn auch ehrenamtlich. Als
solcher habe ich aktuell das Recht zu unangekündigten Besuchen in
Gefängnissen. Doch dieses Recht soll nun abgeschafft werden.
Warum sind diese Besuche so wichtig?
In einigen Haftanstalten sind die Bedingungen und der Umgang mit den
Häftlingen schrecklich. Da herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung. Da
haben Häftlinge natürlich Angst, sich zu beschweren. Wir erfahren von
Schlägen und sogar Folter oder anderem brutalem Umgang erst dann, wenn die
Personen wieder in Freiheit sind oder wenn sie in ein Krankenhaus oder
einen anderen externen Ort gebracht werden.
Deswegen sind die Besuche in diesen Haftanstalten so wichtig. Wir sprechen
die Menschenrechtsverletzungen immer wieder öffentlich an und informieren
das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie die
UNO-Menschenrechtskommission über unsere Kenntnisse. Dadurch haben sich die
Haftbedingungen und vor allem der Umgang mit den Häftlingen verbessert.
Können sich die Gefangenen direkt an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte wenden?
Ja, aber in der Praxis scheitert es oft an der Umsetzung. Ein Beispiel: Der
Häftling Ruslan Ilin hat ein Tablet und kann per Mail mit dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte kommunizieren. Der wollte die Kommunikation
über eine Online-Plattform fortsetzen. Die jedoch hat die Haftanstalt
blockiert. Das ist eine eindeutige Verletzung der Rechte des Häftlings.
Gibt es viele Beschwerden von Häftlingen über unmenschliche Bedingungen?
Ich habe alle Strafkolonien in der Ukraine angeschrieben, um zu erfahren,
wie häufig sich Verurteilte schriftlich an den Menschenrechtsbeauftragten
des Parlamentes, an einen Staatsanwalt oder Rechtsanwalt oder den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. 87 Haftanstalten haben
geantwortet. Davon haben 37 gesagt, dass sie in anderthalb Jahren weniger
als fünf Beschwerden hatten. Bei den anderen 50 lagen die Zahlen höher.
Können Sie uns einige Menschenrechtsverletzungen nennen?
Es gibt ein Gefängnis im Gebiet Chemlnizkij, ein ehemaliges Kloster. Da
hatte es immer wieder Hungerstreiks gegeben, Gefangene hatten sich die
Venen aufgeschnitten. Grund waren unmenschliche Behandlung und sogar
Folter. Dort gab es zum Beispiel die Kältefolter. Wir haben dort im
vergangenen Winter elf Grad gemessen. Nachdem wir dort waren und das
angesprochen haben, hat sich die Situation deutlich gebessert.
Ein weiteres Beispiel ist die Haftanstalt Nummer 77 von Berdjansk (derzeit
unter russischer Besetzung; d. Red.). Dort sind die Häftlinge nackt
geschlagen worden. Man hatte sie so im Hof stehen lassen, mit infizierten
Nadeln gestochen, einige Tage mit Klebeband ans Bett gebunden. Da lagen sie
in ihrem Kot, der Körper wurde von Würmern angegriffen. All das hat man
gemacht, weil man Geld von den Angehörigen erpressen wollte. Als Folge
unserer Besuche wurden der Chef der Haftanstalt und sein Stellvertreter
wegen Folter und der Gründung einer kriminellen Vereinigung angezeigt und
festgenommen.
Würden Sie sagen, die Häftlinge haben faire Gerichtsverfahren bekommen?
Ich weiß von 20 Personen, die unschuldig lebenslänglich bekamen. Sie haben
die Taten, derentwegen sie angeklagt sind, nicht begangen. Außerdem sind
sie noch nach der alten sowjetischen Prozessordnung verurteilt worden, die
bis 2012 galt. Ihre Geständnisse hat man mit Folter erpresst. Das haben sie
vor Gericht gesagt. Und dass sie zum Tatzeitpunkt ganz woanders waren.
Trotzdem wurden sie verurteilt. Sie konnten nicht einmal in Berufung gehen.
Wie sieht es mit Resozialisierungsmaßnahmen aus?
Ich finde, der Staat sollte sich um diese Menschen mehr kümmern. Sie haben
oft niemanden, der auf sie wartet. Sie sind voller Wut darüber, wie man sie
behandelt hat. Die Häftlinge sitzen 10, 15 Jahre, arbeiten die ganze Zeit
und bekommen gerade einmal 10 Euro im Monat. Und dann wird ihnen die Zeit
auch nicht auf ihre Lebensarbeitszeit angerechnet. Also haben sie auch
keine Rentenansprüche. Was sollen sie machen? Sie fangen erneut an zu
klauen, zu töten, zu rauben. Sie haben gar keine Wahl.
Gibt es keine Sozialarbeiter, die sich nach der Entlassung um die
ehemaligen Gefangenen kümmern?
In der Gesellschaft gibt es, und das ist auch ein Relikt aus der
Sowjetzeit, große Vorurteile. Ein ehemaliger Sträfling ist in den Augen der
Gesellschaft ein Nichtsnutz, ein Mensch, der keine Beachtung verdient. Und
nein, Sozialarbeiter gibt es keine, die sich um sie kümmern würden.
8 Aug 2023
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## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Gefängnis
Haftbedingungen
Folter
Strafrecht
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Ukraine
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