# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Wie oft werde ich sterben? | |
> Seit einem Jahr wütet der Krieg in ihrem Land. Aus der Ukraine zu | |
> berichten ist alles, was unsere Autorin tun kann. | |
Bild: Nach dem Rückzug russischer Truppen aus der Stadt Cherson geht der Allta… | |
Vier Leichen mit durchschossenen Hinterköpfen, die Hände auf dem Rücken | |
gefesselt, im Keller eines Kinderheims [1][in Butscha]. Rot lackierte | |
Finger einer Toten, die ein Schlüsselbund umklammert, der Anhänger zeigt | |
die Europaflagge. Rot auch die Blutschlieren auf den weißen Sportschuhen | |
eines vierjährigen Mädchens. Ein von Hunden angeknabberter Knochen, der vor | |
einem Monat noch das Bein eines jungen Mannes war. Verbrannte Körper von | |
russischen Soldaten mit zertrümmerten Schädeln. Ein freigelegtes | |
[2][Massengrab im Wald]. Riesige Löcher in der Fassaden mehrstöckiger | |
Wohnhäuser. Blut, Betonbrocken, Leichengeruch – das ist der Krieg Russlands | |
gegen die Ukraine. | |
Wenn du es dir ansiehst, mit deinen eigenen Augen oder in den Medien, ist | |
es, als ob dein Körper und deine Seele eine einzige große Wunde sind. Als | |
ob jedes deiner Moleküle mit deinem Land verschmolzen wäre. Als ob dein | |
Herz sein Puls ist. Bei jedem Raketeneinschlag spürst du Schmerzen. Jedes | |
Mal ist es wie ein kleiner Tod. Wie viele werden es noch sein? | |
So viele Tragödien haben sich in diesen 365 Tagen ereignet. Du erinnerst | |
dich an das Datum jeder einzelnen. Jede hat das Leben einer Ukrainerin oder | |
eines Ukrainers zerstört. Oder ausgelöscht. Es ist ein Schmerz nicht nur | |
für ihre Angehörigen. Dieser barbarische russische Krieg hat alle | |
Ukrainer*innen zu Verwandten gemacht. Er wird sich in ihr persönliches | |
und historisches Gedächtnis fräsen, für viele Generationen. | |
Ich erinnere mich sehr gut an die ersten Tage der großen Invasion. Es war | |
beängstigend, es war unmöglich, das ganze Ausmaß dessen, was da gerade | |
geschieht, zu erfassen. Als vor einem Jahr die ersten Raketenangriffe auf | |
Kyjiw, Odessa und Lwiw niedergingen, schien das etwas aus dem Reich der | |
Fiktion zu sein. Nun, im Februar 2023, ist es der Alltag in der Ukraine. | |
## Leben in einer neuen grausamen Realität | |
Heute wundert es niemanden mehr, wenn Lehrer*innen ihre Schüler*innen | |
online aus [3][U-Bahn-Stationen] unterrichten. Wenn Eltern das Essen für | |
ihre Kinder in Mikrowellen an Tankstellen erhitzen, weil es nur dort Strom | |
von Generatoren gibt. Studierende schreiben ihre Arbeiten in | |
Einkaufszentren, weil sie da Zugang zum Internet haben. Ärzt*innen | |
operieren und entbinden Babys in Kellern, im schwachen Licht von | |
Smartphones. Männer sehen ihre Kinder und Ehefrauen das ganze Jahr über nur | |
auf den kleinen Bildschirmen ihrer Telefone. Eine Großmutter ist [4][in | |
Polen in einer Flüchtlingsunterkunft], ihre ältere Tochter und deren Kinder | |
leben in Deutschland, die jüngere mit den anderen Enkeln in einem | |
italienischen Dorf. | |
Niemand von ihnen hatte sich vorstellen können, wie es ist, im eigenen Haus | |
zu sterben, weil eine Bombe einschlägt. Oder weil Eindringlinge einen vor | |
die Tür zerren und erschießen. Niemand von ihnen hatte es für möglich | |
gehalten, dass die Ukraine zum Ort des größten militärischen Konflikts in | |
Europa seit dem Zweiten Weltkrieg werden würde. Ohne ein Ende in Sicht. | |
Als die Invasion begann, hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich über | |
alles berichten musste, was vor sich gehen würde, egal wie beängstigend und | |
schmerzhaft es sein würde. Hätte ich vor einem Jahr gewusst, was ich alles | |
sehen, welche Tragödien ich ertragen und in Texten beschreiben müsste: Ich | |
hätte es trotzdem wieder gemacht. | |
[5][In einem Krieg voller Propaganda und Manipulation] spielt das Wort von | |
Journalist*innen eine noch wichtigere Rolle als sonst. Die Welt hätte | |
das Ausmaß der russischen Kriegsverbrechen nicht erfahren, wenn | |
Journalist*innen nach der Befreiung von Butscha und Irpin nicht dort | |
gewesen wären. Daher fiel es mir leicht, meine Rolle in diesem Krieg zu | |
wählen. Ich konnte nicht einfach tatenlos zusehen, was passierte. | |
## In Wahrheit tobt der Krieg schon seit dem 20. Februar 2014 | |
Tatsächlich hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht am 24. Februar | |
2022 begonnen. Sondern am 20. Februar 2014, als die ersten russischen | |
Besatzer auf den Straßen meiner Heimatstadt Simferopol auf der Krim | |
auftauchten. Dieser Krieg dauert nun schon seit neun Jahren an, aber viele | |
innerhalb und außerhalb der Ukraine haben versucht, ihn zu ignorieren, ihn | |
„einzufrieren“, kleinzureden. Weil das bequemer war. Doch die Geschichte | |
lehrt uns, dass es nie funktioniert, den Aggressor zu beschwichtigen. | |
Nachdem er seine Stärke aufgebaut hat – nicht ohne die Hilfe von | |
Beschwichtigern – wird er immer wieder zuschlagen, mit immer noch größerer | |
Kraft. Das ist genau das, was jetzt passiert. | |
In letzter Zeit hört man viel über [6][Hassgefühle] von Ukrainer*innen | |
gegenüber Russ*innen. Hass ist ein negatives und destruktives Gefühl. Aber | |
er hat Gründe. Er speist sich aus dem Leid, das russische Truppen auf | |
ukrainischem Boden verursacht haben, aus der unprovozierten Aggression, die | |
Züge von einem Genozid trägt. Es ist klar, dass Russland, geführt von | |
Putin, die Ukraine mit allen Mitteln unterjochen will. Selbst wenn dies die | |
Ausrottung der Hälfte der lokalen Bevölkerung und die Zerstörung aller | |
bewohnten Gebiete erfordert. Die täglichen Angriffe lassen keinen Zweifel | |
daran. | |
Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass die Gefühle der Ukrainer*innen | |
gegenüber ihrem Feind im Laufe des vergangenen Jahres mehrere Phasen | |
durchlaufen haben. Die anfängliche Angst verwandelte sich in Wut, die Wut | |
wurde vom Hass abgelöst – und der Hass wird nun zu Verachtung. Wenn man von | |
seinen eigenen Kräften letztlich überzeugt ist, beginnt man, sich dem | |
Aggressor moralisch überlegen zu fühlen, man blickt auf ihn herab. | |
Wahrscheinlich wird sich dieses Gefühl eines Tages, Jahre nach dem Krieg, | |
in Gleichgültigkeit verwandeln. | |
Oft hört man die Meinung, die Ukraine müsse sich an den Verhandlungstisch | |
mit Russland setzen, um das Blutbad zu beenden. Aber die Ukraine hat | |
bereits einen zu hohen Preis gezahlt, um einen Kompromiss mit denjenigen zu | |
suchen, die weiterhin, Tag für Tag, die Zukunft des Landes töten. | |
Zehntausende von jungen Männern und Frauen, Fachleute und Spezialisten in | |
verschiedensten Bereichen, die eine demokratische und europäische Ukraine | |
hätten aufbauen können: Sie liegen unter der Erde. Russland müsste seine | |
Verbrechen zugeben und Buße tun, damit die Ukrainer*innen ihm vergeben | |
können. Ein anderer Kompromiss wäre für sie angesichts all des Leids kaum | |
zu akzeptieren. [7][Ich finde es immer noch seltsam, wenn das von anderen | |
manchmal nicht verstanden wird.] | |
## Wenige Momente bitterer Freude | |
Blicke ich auf dieses grausame Jahr zurück, denke ich, dass es inmitten all | |
des Schreckens auch ein paar Momente der Freude gab. Zum einen [8][die | |
Zerstörung der widerrechtlich von Russland errichteten „Krim-Brücke“], was | |
der russischen Truppen- und Waffenlogistik an der Südfront erheblichen | |
Schaden zugefügt hat. Zum anderen das, was daraus folgte: [9][die Befreiung | |
von Cherson.] | |
Die Rückeroberung von Cherson, dem einzigen regionalen Zentrum in der | |
Ukraine, das seit dem 24. Februar von den Russen besetzt werden konnte, hat | |
nicht nur die Hoffnung geweckt, dass auch die anderen, schon länger | |
okkupierten Gebiete wieder unter ukrainische Kontrolle gebracht werden | |
könnten. Sie hat den Ukrainer*innen auch gezeigt, dass ihr Land in der | |
Lage ist, einem großen Aggressor wie Russland zu widerstehen – und eine | |
Gegenoffensive zu starten, selbst wenn es dafür keine Aussicht auf Erfolg | |
zu geben schien. Für mich persönlich war es das erste Mal seit der Annexion | |
der Krim 2014, dass ich Zuversicht spürte, meine Heimathalbinsel eines | |
Tages wieder besuchen zu können. | |
Dieser Krieg hat den Ukrainer*innen geholfen, sich selbst besser | |
kennenzulernen. Trotz aller interner Meinungsverschiedenheiten kann das | |
Land im Angesicht des Feindes fest zusammenstehen. Die Ukrainer*innen | |
glauben an ihre Stärke, ihre Tapferkeit und Freiheitsliebe. Nein, das Ende | |
des Krieges ist noch nicht in Sicht, und sein Ausgang ist nicht so klar, | |
wie manche schon glauben mögen. Aber in gewisser Weise haben die | |
Ukrainer*innen schon jetzt gesiegt, denn sie haben nicht nur sich | |
selbst, sondern auch vielen anderen etwas Wichtiges in Erinnerung gerufen: | |
dass Frieden und Freiheit von unschätzbarem Wert sind. So kostbar, dass man | |
im Zweifel dafür sterben muss. | |
17 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Butscha-und-die-Erinnerung/!5893292 | |
[2] /Massengraeber-in-Isjum/!5879394 | |
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838870 | |
[4] /Flucht-aus-der-Ukraine-nach-Polen/!5838211 | |
[5] /Russlands-Ueberfall-auf-Ukraine/!5908122 | |
[6] /Ein-halbes-Jahr-Krieg-in-der-Ukraine/!5873518 | |
[7] /Petition-von-Wagenknecht-und-Schwarzer/!5915002 | |
[8] /Angriff-auf-die-Krim-Bruecke/!5884421 | |
[9] /Cherson-nach-der-russischen-Besatzung/!5895009 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Ukraine | |
Ukraine-Krim-Krise | |
Kriegsgewalt | |
GNS | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Internationaler Strafgerichtshof: Haftbefehl gegen Putin | |
Russlands Präsident wird für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Er | |
habe die Entführung ukrainischer Kinder angeordnet. | |
Journalist über Arbeit im Ukrainekrieg: „Die Spontaneität ist ein Problem“ | |
Denis Trubetskoy arbeitet in Kyiw als selbstständiger Journalist – teils | |
ohne Strom und Internet. Ein Gespräch über den Krieg und die Medien. | |
+++ Nachrichten im Ukrainekrieg +++: Schwere Verluste bei Söldnertruppe | |
Die USA schätzen 9.000 getötete Soldaten der Gruppe Wagner und die Ukraine | |
meldet neue russische Luft- und Raketenangriffe auch auf den Westen des | |
Landes. | |
Russische Offensive in der Ukraine: Heftige Angriffe in der Nacht | |
Vor dem Jahrestag des Angriffskriegs auf die Ukraine nimmt die Gewalt von | |
russischer Seite zu. Auf einem Friedhof wurden frische Gräber entdeckt. | |
Studie zu ukrainischen Geflüchteten: Gekommen, um zu bleiben | |
Seit Beginn des russischen Angriffs sind über eine Million | |
Ukrainer*innen nach Deutschland geflohen. Wie es ihnen hier ergeht, | |
zeigt eine Studie. | |
Rehabilitation in der Ukraine: Im Krieg wieder laufen lernen | |
In einer Klinik in der Westukraine arbeiten Therapeuten mit schwer | |
verletzten Soldaten. Einer der Helfer kommt aus Nepal, ein anderer aus dem | |
Libanon. |