Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriegsveteranen-Restaurants in Ukraine: Pizza und Patronenhülsen
> In Kyjiw haben Ex-Soldaten die „Pizzeria Veterano“ gegründet. Der Laden
> brummt, mittlerweile gibt es zehn Filialen in acht ukrainischen Städten.
Bild: „Pizzeria Veterano“-Gründe Leonid Ostaltsev in seinem Kyjiwer Restau…
Kyjiw taz | An einem Freitagabend bildet sich kurz nach 20 Uhr am Tresen
eine Schlange. Von elf Tischen in der Pizzeria Veterano in der Kyjiwer
Innenstadt sind zehn besetzt. Der elfte ist reserviert. Allerdings steht
darauf nicht eines der üblichen Schilder, sondern dort liegt ein Stück
Sperrholz, das mit „Vorsicht! Minen!“, beschriftet ist. Ein Kellner
geleitet die wartende Gruppe englischsprachiger Gäste in einen Nebenraum,
in dem noch Platz ist.
Gründer und Chef von Veterano Pizza ist Leonid Ostaltsev. Der 36-Jährige
hat das Handwerk gelernt. „Ich habe Pizza-Meisterkurse für Erwachsene und
Kinder geleitet“, sagt er. Doch als 2014 von Russland gelenkte Separatisten
[1][mehr und mehr Orte des Donbas besetzten], hielt es ihn nicht mehr am
Pizzaofen. „Als sie eine IL-76 mit unseren Fallschirmjägern abgeschossen
haben, konnte ich es nicht mehr ertragen, ich bin zum Einberufungsbüro
gegangen und habe gesagt, dass ich bereit sei, in den Krieg zu ziehen“,
erinnert er sich. Ein Jahr verbrachte er an der Front im Osten des Landes.
## Ein Ort zum Wohlfühlen für alle
Als er 2015 aus der Armee ausschied, sei ihm klar geworden, dass er nicht
mehr arbeiten könne wie früher. So wie er kehrten damals Tausende aus dem
Krieg zurück, oft traumatisiert und ohne Perspektive. Ostaltsev schloss
sich in einem Kyjiwer Stadtteil einer Veteranenvereinigung an.
Er sei für die Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt zuständig gewesen, das
Existenzgründungskurse für Frontheimkehrer anbot. Also habe er auch selbst
so einen Kurs besucht. „Dazu gehörte es, einen Businessplan aufzustellen.“
In seinem sei es um ein Pizzarestaurant gegangen. „Und danach wurde mir
klar, dass ich eine Pizzeria eröffnen wollte.“
Es sollte ein Ort für alle sein, erzählt er. „Veteranen und Soldaten
sollten sich dort wohlfühlen und Zivilisten auch.“ Auch unter den
Mitarbeitern haben viele eine Militärvergangenheit, aber nicht
ausschließlich. Ende 2015 ging es los mit einem ersten Restaurant in einem
Kyjiwer Einkaufszentrum. Aus der Pizzeriagründung wurde eine
Erfolgsgeschichte. Inzwischen gibt es zehn Filialen in acht Städten.
Auf der Karte stehen 29 verschiedene Pizzen, dazu Salate und Desserts. Die
Kunden können auch für Pizza spenden, die dann an Soldaten geliefert wird.
„Wir weisen niemanden ab, der um Essen bittet.“ Das gelte auch für
Obdachlose.
## Frontheimkehrer als gesellschaftliches Problem
Der ukrainischen Regierung ist offenbar bewusst, dass da etwas auf die
Gesellschaft zukommt. Zwar wird momentan [2][verstärkt darüber diskutiert,
wie mehr Soldaten für die Armee mobilisiert werden können] statt darüber,
was aus ihnen nach ihrer Demobilisierung werden soll. Aber immerhin wurden
kürzlich in Kyjiw Ergebnisse einer Befragung im Auftrag der
Veteranenstiftung vorgestellt. Für rund 70 Prozent war die [3][mentale
Gesundheit eine der Hauptsorgen], fast ebenso viele nannten finanzielle
Sorgen.
Gut die Hälfte der Befragten zeigte Interesse daran, sich selbständig zu
machen, viele beklagten aber mangelnde Informationen zu Fördermöglichkeiten
und Bürokratie. „Es ist bemerkenswert, dass viele Veteranen
Beschäftigungsmöglichkeiten bei den Unternehmungen anderer Veteranen
finden“, sagte Ruslana Velytschko-Trifonjuk, stellvertretende Leiterin der
Stiftung.
Den militärischen Hintergrund sieht man dem Lokal an. Die Wände sind
geschmückt mit gerahmten Fotos von Soldaten, Truppenfahnen und Abzeichen
sowie Orden. Unter den Glasplatten der Tische liegen Patronenhülsen.
An der Wand neben dem Tresen hängt eine fast zwei Meter lange Attrappe
eines Sturmgewehrs. Daran ist ein Pappschild mit der Aufschrift „Free Azov“
befestigt. Die gleichnamige Einheit hatte 2022 das Stahlwerk im
eingekesselten Mariupol verteidigt, [4][bis sie sich nach zwei Monaten
ergeben musste]. Viele dieser Soldaten sind seitdem in russischer
Gefangenschaft.
## Begeistert von Pizza
Eine Pizza auf der Speisekarte heißt „für Buslaev“. Sie ist belegt mit
frischem Rucola und reichlich rohem Jamon-Schinken, besprenkelt mit grünem
Pesto. Sie ist einem gefallenem Kameraden Ostaltsevs gewidmet, der im
Winter 2015 bei der Stadt Debaltseve getötet wurde. „Er liebte Jamon“,
erzählt Ostaltsev. „Und so erinnern wir an ihn.“
Wenn er über Pizza spricht, merkt man, dass das mehr als ein Geschäft für
ihn ist. Er ist begeistert von seinem Handwerk und isst auch selbst sehr
gern Pizza. „Ich hatte eine Phase, in der ich sechs Monate lang nur
Sardellen-Pizza gegessen habe. Aber dann mochte ich sie irgendwann nicht
mehr.“
Er setzt auch ungewöhnliche Kreationen auf die Speisekarte. „Wir haben eine
neue Sorte, die heißt „Englisches Frühstück“. Mit Ei, Speck, Würstchen …
Cheddar“, sagt er.
## Als Polizist zurück an die Front
Im Moment trifft man Ostaltsev allerdings nicht mehr in seiner Pizzeria
an. Er ist an der Front. Wieder. Wo genau kann er nicht sagen, im Süden der
Ukraine jedenfalls. Von dort meldet er sich. Als die russische Armee im
Februar 2022 auf die Kyjiwer Stadtgrenze vorrückte, habe er sich bei einem
Bekannten bei der Streifenpolizei gemeldet. Die suchte erfahrene Leute. So
ist er nun Polizeibeamter. Die Polizei hat auch Einheiten an der Front.
[5][Sein Team aus neuen Mitgliedern arbeite mit Drohnen]. „Am wichtigsten
sind im Moment FPV-Drohnen.“ FPV steht für First Person View. Das sind
ferngesteuerte Drohnen, bei denen der Pilot die Perspektive der Drohne
sehen kann, oft mit einer Videobrille.
Diese Geräte können einen Sprengsatz direkt in ein Fahrzeug oder ein
Versteck hinein fliegen. „Wir haben auch Aufklärungsdrohnen.“ Das Kämpfen
gegen die russischen Truppen sei nun wieder sein Beruf. „Ich will, dass sie
schnellstmöglich aus unserem Land verschwinden.“
Die Pizzeria wird derzeit von einem Stellvertreter geführt. „Er ist meine
rechte Hand, mein Fuß, mein Kopf.“ An Gewinn aus dem Geschäft oder Wachstum
sei im Moment nicht zu denken. „Wir bezahlen die Gehälter unserer
Mitarbeiter und kommen unseren Verpflichtungen gegenüber Banken und
Lieferanten nach.“ Es sei nicht einfach, aber es funktioniere.
25 Jul 2024
## LINKS
[1] /Theaterstueck-ueber-den-Donbass/!6021735
[2] /Wehrpflicht-in-der-Ukraine/!5999204
[3] /Ukrainischer-Soldat-ueber-den-Krieg/!5980651
[4] /Ukraine-gibt-Stahlwerk-auf/!5855473
[5] /In-Luhansk-an-der-Front/!6000045
## AUTOREN
Marco Zschieck
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kyjiw
Veteranen
Soldaten
Trauma
Armee
Pizza
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kriegsversehrte in der Ukraine: Zurück ins Leben
Zehntausende Ukrainer:innen haben im Krieg Gliedmaßen verloren, so wie
Oleksii Prytula und Ruslana Danilkina. Wie geht es ihnen heute?
Hundetherapie für Kriegstraumatisierte: Auf den Hund gekommen
Russlands Krieg verursacht bei vielen Menschen in der Ukraine psychische
Probleme. Ein Therapiezentrum in Kyjiw setzt jetzt Hunde bei der Heilung
ein.
Kriegsversehrte in der Ukraine: Vom Feld aufs Feld
Sie wurden im Krieg schwer verwundet und haben ein Bein verloren, nun
spielen sie Fußball. Beim ukrainischen FC Pokrowa geht es um mehr als
Sport.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.