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# taz.de -- Geschichte eines verfemten Judenretters: Im Dickicht des Krieges
> Diese Geschichte ist kompliziert. Sie handelt davon, wie ein ukrainischer
> Bandera-Nationalist im Zweiten Weltkrieg Juden vor dem Holocaust
> bewahrte.
Bild: Retter und Bandera-Kämpfer: Ilko Sawtschin
Bei Recherchen im amerikanischen Holocaust-Memorial-Museum in Washington
und während meines Post-doc-Aufenthaltes in Israel stieß ich auf eine recht
komplizierte Geschichte, die sich in den Jahren 1942 bis 1944 tatsächlich
zugetragen hat. Sie handelt, meine ich, auch davon, dass die historische
Wirklichkeit in der Ukraine, diesem in dieser Zeit von Krieg, Vertreibungen
und dem Holocaust gebeutelten Gebiet, unübersichtlich ist und dass
Reaktionäre und Opfer, Nationalisten und Befreier nicht immer klar zu
unterscheiden sind.
Beginnen wir mit der Vorgeschichte und der Geburt der Helden dieser
Erzählung.
Eine Woche vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde im Dorf Korostow in
der Nähe des Städtchens Skole [1][im damals österreich-ungarischen
Galizien,] ein Mensch namens Ilko Sawtschin in eine ukrainische
Bauernfamilie geboren. Den Ersten Weltkrieg verfluchen viele Bewohner
Osteuropas bis heute. Denn in einer verhältnismäßig ruhigen und
wohlgeordneten Region kam es, nachdem als Folge des Krieges Polen wieder
als Nationalstaat auf der Weltkarte auftauchte, zu ethnischen Konflikten,
die eine lange nicht dagewesene Ausprägung erreichten.
Ilko Sawtschin ist der eine Held dieser Geschichte. Ihr zweiter Held heißt
Benek Lieblain; er hat sie mir auch erzählt. Lieblain erblickte im gleichen
Landkreis wie Sawtschin, nur etwas später, nämlich 1930 in der Familie
eines jüdischen Landwirts das Licht der Welt – also in der Zeit, als die
Organisation Ukrainischer Nationalisten eine antipolnische Sabotagekampagne
durchführte.
## Die Wut der Unterdrückten
Er berichtet, dass sich die Wut der von den Machthabern unterdrückten
Ukrainer nicht nur gegen die Vertreter des wiederauferstandenen polnischen
Nationalstaats richtete, sondern auch gegen die Juden: „Irgendwann im Jahr
1936 wurden in Skole bei den Juden – und diese stellten die Mehrheit der
Bevölkerung – die Scheiben eingeschlagen. Das war schrecklich. Ich erinnere
mich, dass nicht weit entfernt in einem kleinen Dorf eine vierköpfige
jüdische Familie erstochen wurde. Ihre Beerdigung wurde zu einem Ereignis
für den ganzen Ort.“
Diese traurigen Exzesse hinderten die Kinder verschiedener Nationalitäten
jedoch nicht daran, gemeinsam Lapta (Schlagball) zu spielen. Auch konnte
die Familie Lieblain, ohne schräg angeguckt zu werden, im polnischen Laden
gelegentlich Schinken kaufen.
1939 wurde Polen, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, dann wieder
aufgeteilt, nun zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion. An die
Ankunft der seinen Worten zufolge heruntergekommenen Rotarmisten hat Benek
Lieblain zwiespältige Erinnerungen. In der Schule wurde anstelle von zwei
Sprachen – der Unterrichtssprache Polnisch und einer Stunde in der Woche
Ukrainisch – allein Russisch eingeführt, was dem Kind damals als
Erleichterung erschien.
Gleichzeitig musste der Vater unter dem Druck der Machthaber sein gesamtes
Vieh verkaufen und von Erspartem leben. Die Familie zog aus einer großen in
eine kleine Wohnung.
## Eine Zeit des Grauens
Im Jahr 1941, nachdem Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, musste
sich die Rote Armee vor den deutschen Truppen zurückziehen, und in Skole
fielen ungarische Honveds ein, die auf Seiten der Deutschen kämpften und
sich den Einwohnern vor allem durch ihr Marodieren einprägten. Doch wurden
sie bald durch nach außen hin gepflegt aussehende Deutsche ersetzt – und
für die Juden begann eine Zeit des Grauens.
Im Verlaufe der „ersten Aktion“ wurde ein Teil des Ortes bereits im
September 1941 „evakuiert“. Andere, darunter das Familienoberhaupt der
Lieblains, wurden zu Zwangsarbeiten gedungen – Waldarbeiten, Brückenbau,
Reparatur von Straßen. Bezahlt wurde dafür nicht ein Groschen. Die Familie
schlug sich mit Ersparnissen durch und verkaufte heimlich verstecktes Korn
ebenso wie Kleidung, nicht selten an die eigenen ehemaligen ukrainischen
Tagelöhner.
Langsam, aber sicher verbreiteten sich Gerüchte darüber, was mit den
„Evakuierten“ geschah, auch wenn die Menschen sich zunächst weigerten, an
sie zu glauben.
Zur gleichen Zeit, als die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad kämpfte, wurde
in Skole die „zweite Aktion“ durchgeführt. Benek Lieblain erinnert sich,
dass es die jüdische Polizei war, die bewaffnet mit Schlagstöcken in die
Wohnungen stürmte und die eigenen Stammesangehörigen auf den zentralen
Platz zerrte. Seine Mutter rief ihm zu: „Lauf weg!“
## Auf der Flucht
Es gelang ihm zu fliehen, in einem halbverlassenen Örtchen konnte er sogar
seinen Onkel Aron Wilf zusammen mit dessen Frau und zwei Kindern finden.
Etwas später übergab Arons Bruder ihnen außerdem noch seinen Sohn Mejer zur
Rettung. Somit waren es sechs Flüchtlinge.
Beim Überleben half ihnen die feste Freundschaft Aron Wilfs mit einem Mann
namens Michajlo Swistun, der in Korostow lebte. Dieser arbeitsame Bauer
hatte seinerzeit von seinem Vater eine kleine Hütte geerbt, aber inzwischen
für seine Familie eine neue gebaut. Das alte Haus, dessen Fenster längst
mit Bohnenstauden bewachsen waren, richtete er für die sechs Juden her. Den
Dachboden rüstete er zusätzlich mit einem kleinen Geheimversteck aus, für
den Fall einer Durchsuchung. Die Flüchtlinge zogen also ins Dorf.
Im Verlaufe des gesamten Jahres 1942 gewann der im Untergrund agierende
Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten unter der Führung des
heute [2][hoch umstrittenen ukrainisch-nationalistischen
Unabhängigkeitskämpfers Stepan Bandera], welcher damals in KZ Sachsenhaus
saß, schrittweise an Einfluss in der Westukraine.
Ilko Sawtschin, unser erster Held dieser Geschichte, war niemand anderes
als der [3][Anführer der Bandera-Zelle] in der Gegend. Ihn hatte Swistun
vor Beginn der Judenrettung auch um Erlaubnis gefragt. Sawtschin war sein
Schwager, auf dessen Hilfe er ein Recht hatte zu hoffen. Außerdem wäre es
ohne Sawtschins Mitwirken kaum möglich gewesen, die Rettung umzusetzen.
Denn für sechs Menschen musste Essen beschafft werden, und nur wenn diese
Aufgabe auf mehrere Menschen verteilt würde, konnte man vermeiden, Verdacht
zu erregen.
## Eine tödliche Last
In der Zeit, als die Rote Armee ihre Kräfte am Dnepr konzentrierte und Kiew
stürmte, begannen die Deutschen in Skole immer häufiger Razzien
durchzuführen, weshalb die Flüchtigen gezwungen waren, aus der Hütte in den
Wald zu verschwinden.
Auf dem Weg brach sich Mejer ein Bein. Da er glaubte, für die anderen nun
eine tödliche Last zu sein, bat er Ilko Sawtschin, der als Bandera-Anhänger
ein Gewehr bei sich trug, ihn zu erschießen. Michajlo Swistun jedoch war
medizinisch bewandert, er richtete den Bruch und legte eine Holzschiene an.
Ilko Sawtschin fertigte Krücken an und brachte Mejer in das erste Versteck
der Überlebensgruppe. Nach zwei Monaten begann das Kind wieder zu laufen,
die Folgen des Bruchs waren kaum zu bemerken.
Michajlo Swistun war nun gezwungen, im Laufe von anderthalb Jahren drei
Erdlöcher für seine Schützlinge zu graben. Das erste dieser Verstecke
erinnerte an eine Bärenhöhle, er befand sich unter einem großen Baumstumpf.
Doch der Ort war ungünstig gewählt; er war umgeben von altem Wald, der gut
einzusehen war. In der Nähe vorübergehende Leute winkten den Flüchtlingen
schon mal freundlich zu, lange konnte das nicht gut gehen.
## Versteckt im Wald
Das zweite Versteck befand sich in einem dicht bewachsenen Waldstück, in
dem die Baumkronen ausreichend Sichtschutz boten. Aber Anfang 1944 spülte
ein dreitägiger Regen das Erdloch weg. Deswegen wurde eine dritte Behausung
ausgegraben und hergerichtet, sie befand sich relativ weit oben in den
Karpaten; dort zu graben war nicht einfach.
Essen brachten abwechselnd Michajlo Swistun oder Ilko Sawtschin in das
Dickicht, teilweise versorgte sich die Gruppe auch aus dem Wald. Eines
Tages hörten die Flüchtlinge beim Pilzesammeln Gesang – einen ukrainischen
Militärmarsch – und sie ließen sich ins Gras fallen. Wie sie nachher
erfuhren, war gerade eine Einheit der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA)
vorbeigegangen.
Allerdings vermieden die Überlebenden jeglichen Kontakt mit Partisanen,
seien es sowjetische oder nationalistische. Unter anderem auch deswegen,
weil in diesem Gebiet ein Kommandeur einer der Unterabteilungen der
Aufstandsarmee namens Suslenytsch agierte. Über ihn erzählte man sich, dass
seine Kämpfer die sich im Wald versteckenden Juden ermordeten.
## Überfall auf ein Gefängnis
Anfang des Jahres 1944 erwärmten sich in Anbetracht der Offensive der Roten
Armee, die von beiden als Feind betrachtet wurde, die Beziehungen zwischen
der Ukrainischen Aufstandsarmee und der Wehrmacht; zu vollkommenem
Einvernehmen zwischen ukrainischen Nationalisten und deutschen Besatzern
kam es jedoch nicht.
Einmal kam Ilko Sawtschin zu den jüdischen Flüchtlingen ins Erdloch und
blieb dort einige Wochen lang. Wie sich Lieblain erinnert, berichtete der
Bandera-Anhänger, er habe in der Nähe einen Überfall auf ein deutsches
Gefängnis organisiert. Seine Kämpfer hatten die in Gefangenschaft
befindlichen ukrainischen Nationalisten und Juden befreit, weswegen er
gezwungen war, eine Zeit lang unterzutauchen.
Einige Zeit versteckten sich im gleichen Erdloch auch der Bruder Michajlo
Swistuns zusammen mit seiner Frau und seinem Kind vor den Besatzern. Benek
Lienlain erinnert sich, wie der kleine Junge sich verwundert an seinen
Vater wandte, nachdem er die Nachbarn betrachtet hatte: „Das sind Juden,
aber die haben ja gar keine Hörner und Schwänze!“
## Um historische Gerechtigkeit bemüht
Nach der Rückkehr der Roten Armee, deren Vorhut die Holocaust-Überlebenden
fürchteten, kehrten die Flüchtenden in das halb zerstörte Skole zurück, von
wo aus sie einen langen Weg antraten – über Polen und Italien in die USA
und nach Israel. Im Jahr, als der Zweite Weltkrieg endete, erreichten
Benek Lieblain und Mejer Wilf Palästina, wo Benek seinen Namen ins
Hebräische übertrug und von nun an Dow genannt wurde.
Die Arbeit, das fortgeschrittene Alter und familiäre Pflichten hinderten
ihn nicht daran, sich um historische Gerechtigkeit zu bemühen. Im gleichen
Jahr, als Gorbatschow in der UdSSR die Macht übernahm, erhielt Michajlo
Swistun auf Antrag von Dow Lieblain den Status eines Gerechten unter den
Völkern. Und nachdem die UdSSR zerfallen und damit geschehen war, was sich
sowohl die Bandera-Leute als auch die Zionisten erträumt hatten, wurde es
für alle Beteiligten ungefährlich zu versuchen, auch die Verdienste Ilko
Sawtschins anzuerkennen.
Die Tochter dieses Bandera-Anhängers, Irina, die in den Jahren des Krieges
geboren wurde, erzählte mir, dass ihr Vater auch nach dem Krieg im
nationalistischen Untergrund der Ukraine tätig gewesen sei. Nach außen hin
arbeitete er jedoch noch zwei Jahrzehnte nach der zweiten Ankunft der
Sowjets vollkommen legal an seinem Wohnort in der Holzverarbeitung. Das
Holz wurde an die Rote Armee geliefert. Ilko Sawtschin starb im letzten
Jahr des Tauwetters, am 30. Juni 1964, dem Jahrestag des Ausrufens der
ukrainischen Unabhängigkeit durch die Nationalisten in Lwow in 1941.
Auch zur Verewigung der Erinnerung an Ilko Sawtschin als Gerechter der
Völker stellte Dow Lieblain einen Antrag im Museum Yad Vashem. Er wurde
jedoch abgelehnt, weil der Kandidat ein OUN-Mitglied war. Aber für Lieblein
bleibt Sawtschin ein Retter. Nach den Worten des gebürtigen Galiziers
rettet ein Mensch, der einem anderen das Leben rettet, auch dessen
Nachkommen das Leben: „Wir waren zu sechst. Zum Jahr 1985 waren es schon
26, jetzt sind es noch mehr. Zum Beispiel habe ich drei Kinder, acht Enkel
und zwei Urenkel. Alle leben in Israel.“
Der Autor ist Militärhistoriker und forscht an der Freien Universität
Berlin: gogun.org/de.
Dem Artikel liegt ein Studienaufenthalt am Institut für die Untersuchung
des Holocausts in Yad Vashem zugrunde.
21 Feb 2023
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## AUTOREN
Alexander Gogun
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