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# taz.de -- Diskussion um Kriegsprotagonisten: Stauffenberg und Bandera
> Der Nationalistenführer ist in der Ukraine keineswegs unumstritten.
> Anders in Deutschland, wo man nichts auf die Helden kommen lässt.
Bild: Ex-Botschafter Andrij Melnyk bei einer Veranstaltung am 8. Mai
Mitten in Europa tobt ein völkisch-kolonialer Vernichtungskrieg gegen die
ukrainische Staatlichkeit. Als Osteuropahistoriker, deutscher und
ukrainischer Staatsbürger will ich das Anerkennungs- und Erlösungsbedürfnis
von niemandem verletzten, der mit der methodenfernen
Unvergleichbarkeitsklausel „Nie wieder“ hantiert. Und selbst wenn. Mein
jüdischer Großvater hat in den Reihen einer der vier ukrainischen Fronten
der Roten Armee an der Zerschlagung der NS-Beteiligungsdiktatur mitgewirkt.
Viel später wurde die gewaltsame Kapitulation zur (Entlastungs-)Formel
einer „Befreiung“ der Deutschen. Diese Befreiungsformel war zugleich eine
diskursive Erlösungshoffnung,welche [1][Richard von Weizsäcker] in seiner
Rede anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985 folgendermaßen
formulierte: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“
Die Erlösungshoffnung, die auch der verdienstvolle Soziologe Harald Welzer
als Talkshow-Liebling mit missionarisch artikulierten deutschen
Kriegserinnerungen zur Untermauerung seiner friedensdiplomatischen
Überlegenheit [2][instrumentalisiert], folgt dem Credo: „Das ganze Leben
ist eine Erfindung.“ In der erinnerungskulturellen Zeitenwende erfindet er
mit anderen Talkshow-Lieblingen, wie dem eloquenten Universalphilosophen
Richard David Precht, die „Nie wieder“-Formel neu.
Unter dem offenen Emma-Brief steht dazu das Motto an die Leser- und
Zuhörerschaft: „Bleibt mutig!“ Was für ein Hochmut! Der Historiker Timothy
Snyder, der von der Ukraine viel mehr Ahnung hat, schreibt: „Dreißig Jahre
lang haben Deutsche die Ukrainer über Faschismus belehrt. Als der
Faschismus tatsächlich kam, haben die Deutschen ihn finanziert, während die
Ukrainer im Kampf gegen ihn sterben.“
## Sieg auf dem Erinnerungsschlachtfeld
Derweil gewinnen nennenswerte Teile der deutschen Empörungslandschaft
wenigstens auf dem eigenen Erinnerungsschlachtfeld den Zweiten Weltkrieg
neu. In deutschen Erinnerungsressourcen mangelt es zwar an sauberen
Held*innen, aber nicht an Heroisierungsbedürfnissen.
Auch in diesem Jahr wird die Bundesregierung ihrem unheroischen Heldenkult
huldigen, sich selbst, ihre „wehrhafte Demokratie“ in Anbetracht der in
Zahlen fassbaren Zögerlichkeit der Waffenlieferungen feiern – und die
späten Attentäter des 20. Juli um den Nationalsozialisten und Antisemiten
Graf Claus Schenk von Stauffenberg und seine zum Teil im Holocaust
sozialisierten Mitattentäter.
Es handelt sich um einen Gründungsmythos und amnes(t)iepolitischen
Heldenkult, der in Auftritten vergangenheitsüberwältigter Bundesregierungen
grob nachlesbar ist. So bei Ex-Bundespräsident [3][Joachim Gauck]: „Denn
der 20. Juli und all die anderen Versuche des Widerstands gegen Hitler und
das NS-Regime, sie haben nicht nur eine faktische Bedeutung, sondern auch
eine sehr klare moralische – und […] natürlich auch eine eminent
politische. Aus diesem Erbe konnte die neu gegründete Bundesrepublik, als
sie – allerdings verspätet – die Bedeutung des militärischen Widerstands
begriffen hatte, Legitimation schöpfen.“ Zwar waren die Attentäter des 20.
Juli nicht erfolgreich, obwohl sie nur die Führung zum Sturz bringen
wollten – sie werden aber mangels anderer heroischer Figuren gerne zur
symbolischen deutschen Neuerfindungsfähigkeit zitiert.
## Stauffenberg war Nazi und Antisemit
Weder ihre langjährigen NS-Verstrickungen noch der Umstand des
systeminternen Umsturzversuchs noch ihr rassischer Antisemitismus, ihr
militanter Slawenhass oder die Holocaust-Verwicklungen nehmen ihnen den
Nimbus. Dieser wird von höchsten deutschen Repräsentant*innen
gefeiert. Der Historiker Stephan Stach hat zu Recht in der ausufernden
Debatte über Stepan Andrijowytsch Bandera und den ehemaligen Botschafter
Andrij Melnyk deutsche Mythen erwähnt, die in Empörungsritualen über die
Umdeutungsmythen der anderen gerne vergessen werden.
Zugleich ist der mir unangenehme Bandera-Kult in Teilen der (West-)Ukraine
mitnichten unumstritten, nur zwischen „West“ und „Ost“ gespalten, gar
flächendeckend – trotz seiner erinnerungspolitischen Vereinnahmungen und
vergessenspolitischen Ausblendungen als Freiheitskampfsymbol im deutlich
längeren Kampf gegen die Nazis und – noch länger – gegen die Sowjets.
Seit 2019 wird Bandera von der moderateren und explizit reflexionsbereiten
neuen Leitung des Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedächtnisses nicht
mehr als geschichtspolitisches Symbol gestärkt. Der neue Chef, Anton
Drobovych, setzt, anders als sein Vorgänger, auf eine kritischere
Aufarbeitung auch der Schattenseiten der eigenen Nationalgeschichte.
[4][Wolodimir Wiatrowitsch] leitete bis 2019 das Ukrainische Institut für
„Nationales Gedächtnis“. Sein Geschichtsbild ähnelte dem von Melnyk.
Das scheint der [5][Podcaster Tilo Jung] nicht zu wissen oder es
interessiert ihn nicht. Insofern ähnelt das Melnyks Apologetik zu
ethnischen Säuberungen von bis zu 100.000 ermordeten
römisch-katholisch-polnischen Zivilist/innen wie zudem zum Holocaust. In
seinem viralen Interview mit dem ukrainischen Ex-Botschafter hat Jung eine
nun durch die Zeitungslandschaft geisternde Zahl von „800.000“
Holocaust-Opfern durch die Hand von namenlosen „Nazis“ und
„Bandera-Leuten“, was nummerisch und relational verzerrt ist.
Die Zahl hat erst das Redaktionsnetzwerk Deutschland infolge eines
Interviews mit dem Fachkenner Kai Struve und nur als kurzen Nachsatz hinter
dem Interview in Bezug auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten um
Bandera korrigiert. Und so scheinen Teile des deutschen
Vergangenheitsbewältigungsbetriebs den Weltkrieg zumindest moralpolitisch
wieder gewonnen zu haben, können die Ukraine und ihren jüdischen
Präsidenten belehren. Stauffenberg sei ein gut gewordener Nazi.
Aber: Im Gegensatz zu Stauffenberg bleibt Bandera ein Faschist und Symbol
der deutschen Gutwerdung.
26 Jul 2022
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/35-jahre-weizsaecker-rede-zum-kriegsen…
[2] https://ukraineverstehen.de/worschech-davies-die-verhandlungsfalle/
[3] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/201…
[4] https://foreignpolicy.com/2016/05/02/the-historian-whitewashing-ukraines-pa…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=JVEGR7apzoI
## AUTOREN
Felix Heinert
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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NS-Widerstand
Ukraine
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Botschafter
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