# taz.de -- Buch über die Entwickung Russlands: Der Absturz Russlands | |
> Michael Thumann kennt Russland sehr gut. In seinem neuen Buch erklärt er, | |
> wie und warum Putin sich wirklich aus Europa verabschiedet hat. | |
Bild: Putins System wurde immer autoritärer – nach innen wie nach außen | |
Sie ist noch nicht so weit vorangekommen – die Aufarbeitung, was bei der | |
Einschätzung Russlands eigentlich schiefgelaufen ist. Der russische | |
Überfall auf die Ukraine wurde in vielen Ländern als Schock empfunden, | |
Deutschland traf er aber besonders hart. Nicht nur wegen der Abhängigkeit | |
von russischem Gas, sondern auch weil man hierzulande gern in Anspruch | |
nahm, das riesige Land besser als andere zu verstehen. | |
Allzu oft bedeutete dieses Verstehen aber nur, der zunehmenden | |
Radikalisierung Wladimir Putins mit sehr viel Rücksichtnahme zu begegnen. | |
Russland brauche so jemanden, hieß es. Er garantiere Stabilität. Halbwissen | |
und Klischees über Russland vermischten sich mit deutschen | |
Geschäftsinteressen. Heraus kam „Russland-Kitsch“, der den Blick | |
vernebelte, wie es der Historiker Karl Schlögel formulierte. | |
Einen Beitrag zu einem realistischeren Bild liefert Michael Thumann mit | |
seinem Buch „Revanche“. Thuman ist [1][Russland-Korrespondent der Zeit]. | |
Seit zwei Jahren lebt er wieder in Moskau, wo er bereits von 1996 bis 2001 | |
und von 2014 bis 2015 arbeitete. | |
Er hat den Wandel Russlands von einer defizitären Demokratie über eine | |
autoritäre Herrschaft zum immer totalitäreren System der Gegenwart aus | |
nächster Nähe verfolgt. Und er betont den Zusammenhang zwischen innerer | |
Verfasstheit und äußerer Aggression: „Die autoritäre Gewalt im Innern kehrt | |
sich irgendwann in Gewalt nach außen.“ | |
## Die wilden 1990er | |
Thumann mischt in seinem Buch aktuelle Reportage-Elemente und politische | |
Analyse. Dabei blendet er immer wieder in die Vergangenheit, etwa in die | |
wilden 1990er, die heute in Russland als Zeit des Chaos und der Gangster | |
gelten, damals aber vielen Russen ungekannte Freiheiten boten. Er | |
rekonstruiert den gescheiterten Putsch der alten Eliten im August 1991 und | |
beschreibt seine erste Begegnung mit Wladimir Putin 1999. Der sprach damals | |
als Ministerpräsident viel von Demokratie, begann seine Amtszeit aber mit | |
einem brutalen Krieg in Tschetschenien. | |
In den folgenden Jahren errichtete er als Präsident eine Autokratie mit | |
demokratischer Fassade und einigen Nischen für die Zivilgesellschaft. Als | |
entscheidenden Wendepunkt in Putins Karriere macht Thumann die | |
[2][Massenproteste im Winter 2011/2012] aus. Sie richteten sich gegen seine | |
Rückkehr ins Präsidentenamt nach vierjähriger Pause. Als Folge entdeckte | |
Putin den Nationalismus als Herrschaftsinstrument. | |
Zuvor hatte er zu diesem noch Abstand gehalten. Diese Wende sei keine | |
Reaktion auf mangelnden Respekt des Westens gewesen, wie oft in deutschen | |
Talkshows verkündet, sondern allein der innenpolitischen Krise geschuldet, | |
schreibt Thumann. Russland sei als Land zu groß und unabhängig, als dass es | |
politische Richtungsentscheidungen vom Ausland abhängig mache. | |
Das zeigt Thumann auch anhand der Nato-Osterweiterung, die besonders in | |
linken Kreisen immer noch gern als Erklärung für Russlands Aggression | |
angeführt wird. Das Land fühle sich eingekreist, der Krieg in der Ukraine | |
sei quasi eine Form der Selbstverteidigung, lautet die verquere | |
Argumentation. | |
## Positive Beziehungen zur Nato | |
Demgegenüber erinnert Thumann an die zweite Erweiterungsrunde 2004, bei der | |
mit den baltischen Ländern drei ehemalige Sowjetrepubliken der Nato | |
beitraten. Die Erweiterung wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard | |
Schröder vorangetrieben. | |
Kurz nach dem Beitritt der baltischen Länder stand Putin auf einer | |
Pressekonferenz neben Schröder und lobte, dass sich die Beziehungen zur | |
Nato „positiv entwickeln“, er habe keine Sorgen mit Blick auf die | |
Sicherheit der Russischen Förderation. Zur Gefahr erklärte Putin die | |
Erweiterung erst viel später, als er merkte, wie sie sich propagandistisch | |
verwerten ließ. | |
Anschaulich analysiert Thumann die Säulen von Putins Macht – das | |
Justizsystem mit seinen politischen Urteilen und den Straflagern, das | |
Staatsfernsehen, das den Hass auf den Westen, die Ukraine und alles | |
Abweichende verbreitet sowie die Geschichtserzählungen von imperialer | |
Größe. Es gehe Putin um Revanche für den Zerfall der Sowjetunion. Er sei zu | |
jener imperialen Obsession zurückgekehrt, die Michail Gorbatschow beendet | |
habe, so Thumann. | |
Eine Obsession, die Putin zum Überfall auf die Ukraine führte. Wer die | |
Vorgeschichte dieses Krieges besser verstehen will, sollte das Buch von | |
Michael Thumann lesen. | |
13 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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