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# taz.de -- Boykott von Tschaikowsky: Im Krieg mit den Klassikern
> Der ukrainische Kulturminister fordert von Europa, Werke des russischen
> Komponisten Tschaikowsky zu boykottieren. Das Gegenteil zu tun, wäre
> schlauer.
Bild: Harmlose Schwäne lassen sich zwar nationalistisch einspannen. Aber sie d…
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist längst in Theatern,
Opernhäusern, Konzertsälen und Ausstellungshallen angekommen. Vor allem
russische Kulturschaffende sind zwischen die Fronten geraten. Verträge
werden gekündigt, Auftritte abgesagt, Spielpläne ad hoc verändert.
Russische Künstler*innen sollen sich erklären, wie sie es mit Wladimir
Putins „Spezialoperation“ beziehungsweise dem Kremlherrscher überhaupt
halten.
Im März 2022 entschied sich das Waliser Cardiff Philharmonic Orchestra bei
einem Konzert dafür, die [1][Ouvertüre 1812 des russischen Komponisten
Pjotr Tschaikowsky] durch ein anderes Klangerlebnis zu ersetzen. Nicht
abwegig, ist besagtes Werk doch eine musikalische Hommage an die
Verteidigung Russlands gegen die Invasion Napoleons, in der Kanonendonner
zu hören ist. Auch andere Konzertveranstalter legten vergleichbare
„Säuberungsprogramme“ auf. Schon war von einer „cancel culture“ die Re…
Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth merkte an, sie lasse sich den
Tschechow nicht von Putin wegnehmen – ein Problem, das durch den Gang in
eine Buchhandlung leicht zu lösen wäre.
Um Tschaikowsky geht es auch dem ukrainischen Kulturminister Oleksandr
Tkatschenko. In einem [2][Beitrag für den britischen Guardian i]n dieser
Woche fordert er die westlichen Verbündeten auf, Werke von Tschaikowsky zu
boykottieren. Der Komponist solle zwar nicht auf ewig in der Versenkung
verschwinden, aber es gehe darum, bis zum Ende von Russlands „blutiger
Invasion“ eine Pause einzulegen. Zur Begründung führt Tkatschenko an, dass
dieser Krieg ein „zivilisatorischer Kampf um Kultur und Geschichte“ sei,
mit dem Moskau versuche, die ukrainische Kultur und Erinnerung auszulöschen
– Kultur werde als Waffe eingesetzt.
Wie das in der Praxis aussieht, zeigt ein Blick in die von Russland
besetzten Gebiete der Ukraine: Dort bietet sich ein Bild totaler Zerstörung
– seien es Kunstwerke, Museen, Bibliotheken oder Theater. Der Kreml
entblödete sich auch nicht, den Schriftsteller Alexander Puschkin zu
bemühen, um in der Stadt Cherson mit entsprechend gestalteten Billboards
die Landnahme zu legitimieren.
Mit der Rückeroberung durch ukrainische Truppen hat sich dieses Thema in
Cherson erledigt – Puschkin ist weg und nicht nur er. Mittlerweile aber
steht die russische Kultur in ihrer Gesamtheit auf dem Index. Musik, Filme,
Literatur, Theaterstücke – tabula rasa. In den Lehrplänen der ukrainischen
Schulen tauchen russische Autor*innen nicht mehr auf, genauso wenig wie
Russisch als Unterrichtsfach. Russische Bücher werden aus Bibliotheken
entfernt, bei Sammlungen können sich Ukrainer*innen der russischen
Meister entledigen, die im Altpapier landen. Unlängst machte die taz diese
Entsorgungsaktionen in der westukrainischen Stadt Luzk zum Thema und
erntete empörte Reaktionen. Der Subtext: faschistisches Gedankengut in der
Ukraine, was sonst. Man sah sie vor sich – gänsehäutige Leser*innen,
lodernde Bücherberge vor Augen.
Mit derartigen Assoziationen, sind sie allerdings in bester Gesellschaft.
Im November 2022, bei einem Treffen des Waldei-Klubs in Moskau, holte
Wladimir Putin zu einem Rundumschlag aus. Die Nazis seien seinerzeit so
weit gegangen, dass sie Bücher verbrannt hätten, nun seien die westlichen
„Förderer von Liberalismus und Fortschritt so weit gegangen, Dostojewski
und Tschaikowski zu verbieten. Diese cancel culture, die Abschaffung der
Kultur, raube alles Lebendige und Schöpferische und lasse das freie Denken
nicht zur Entfaltung kommen, sagte Putin. Es lohnt, hierzu den russischen
Regisseur Kirill Serebrennikow zu hören. Der verbrachte 2018 „nur“
anderthalb Jahre im Hausarrest. Heute würde er, hätte er Russland nicht
verlassen, wohl im Gefängnis sitzen – auch wegen seines beim diesjährigen
Fimfestival in Cannes uraufgeführten Films „Tschaikowkys Frau“, der die
schwule Identität des Komponisten thematisiert.
Apropos Tschaikowsky, Puschkin und Dostojewski: Niemand muss der
Kulturpolitik der Ukraine zustimmen. Angesichts des Grauens, mit dem
Russland das Nachbarland überzieht, ist die Abgrenzung verständlich. Dessen
ungeachtet krankt die Debatte jedoch daran, dass es an der notwendigen
Differenzierung fehlt. Dass russischen Künstler*innen, die sich Putin
angedient haben, nicht der rote Teppich ausgerollt werden sollte, versteht
sich von selbst. Die russische Sprache? Sie ist, nicht nur in der Ukraine,
ein Politikum. Denn zu Sowjetzeiten genauso wie heute wird sie als
Instrument genutzt, um Russlands Herrschaftsanspruch gegenüber anderen
Völkern und Kulturen, wenn nötig mit Gewalt, durchzusetzen.
Aber Komponisten wie Tschaikowsky in Sippenhaft nehmen? Eindeutig nein. In
Großbritannien beispielsweise wird [3][ein Ballett „Nussknacker“] ganz
bewusst aufgeführt. Die Präsentation solle ein starkes Statement aussenden,
dass Tschaikowskys Werke die ganze Menschheit ansprechen, in kraftvollem
Gegensatz zum nationalistischen Blick des Kreml auf die Kultur, sagte ein
Sprecher des Londoner Royal Ballet. Recht so.
10 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=RMmJ18SW68A
[2] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/dec/07/ukraine-culture-minis…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=UfiEcPCaa0Q
## AUTOREN
Barbara Oertel
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