# taz.de -- Musik für die Ukraine: Die Stille der Steppe hören | |
> Die ukrainische Technoproduzentin Kateryna Zavoloka lebt in Berlin. Mit | |
> einem Label setzt sie sich für Empathie mit ihrer geschundenen Heimat | |
> ein. | |
Bild: Kateryna Zavoloka, Musikerin, Technoproduzentin und Grafikdesignerin | |
Leises Flötenspiel kommt von weit her. Manchmal hört man auch das ferne | |
Zupfen von Saiten. Die Klangfärbung ist ungewohnt. Kateryna Zavoloka setzt | |
in ihrem neuen Album „Amulet“ bewusst traditionelle ukrainische Instrumente | |
ein wie die gitarrenähnliche Kobza oder die charakteristischen Flötenarten | |
Spilka und Kolianka. Manchmal hört man auch das rhythmische Schnalzen einer | |
Drymba. Das ist ein mundgroßes Instrument aus Stahl, dessen Feder man mit | |
der Zunge zum Vibrieren bringt, verwandt mit der Maultrommel. | |
Zavoloka nutzt diese Instrumente, um in ihren Kompositionen überliefertes | |
ukrainisches Liedgut anzudeuten. Die Klänge verlieren sich schnell in einer | |
imaginären Ferne und bekommen dadurch einen fast meditativen Charakter. Im | |
Vordergrund aber wabern elektronische Beats, pushen nach vorn und scheinen | |
doch an ein und demselben Punkt zu bleiben. Die Kiewer | |
Elektronik-Komponistin kreiert hier einen extrem beharrenden Zeitmesser. | |
Gleichzeitig haben die stampfenden Beats etwas Bedrohliches. | |
Es ist kein angenehmes Zuhören, denn die Bässe evozieren Bilder von | |
marschierenden Soldaten und hören sich manchmal sogar an wie Sirenen. Am | |
Ende jedes Instrumentalstücks aber „siegen“ die analogen Instrumente, deren | |
langgezogene Rhythmik weite Landschaften vors innere Auge transportiert. | |
Veröffentlicht wurde das Album beim Label „I shall sing until my land is | |
free“, gegründet von Zavoloka und [1][ihrem Partner Dmytro Fedorenko] im | |
April vergangenen Jahres als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg | |
gegen die Ukraine. | |
Beide leben seit 2019 in Berlin, haben von 2006 bis 2018 Werke von | |
ukrainischen und internationalen Elektronik-Musiker:Innen auf ihrem Label | |
„Kvitnu“ herausgebracht, um dann mit dem Label „Prostir“ nur noch eigene | |
Musik zu produzieren. Und jetzt haben sie mit dem Sublabel [2][„I shall | |
sing until my land is free“] doch wieder eine Plattform aufgebaut, die | |
verschiedene Musiker:Innen zusammenführt. | |
In den vergangenen neun Monaten sind dort immerhin zehn Alben erschienen. | |
Von der japanischen Noiselegende Masami Akita alias Merzbow bis zur | |
italienischen Technoproduzentin Liza Aikin und dem Ukrainer Edward Sol | |
reicht die musikalische Palette. Alle zehn Alben sind auf der Webseite von | |
„I shall sing until my land is free“ zugänglich. Der Download kostet ein | |
paar Euro, physische Tonträger verschiedener Formate sind ab 12 Euro zu | |
haben. Summen, die auf der Webseite durch Merchandising oder Spenden | |
generiert werden, fließen direkt in die Ukraine, um dort tätige Stiftungen | |
und Organisationen zu unterstützen. | |
Das Layout der Alben wurde jeweils von Kateryna Zavoloka, die eigentlich | |
als Grafikdesignerin arbeitet, künstlerisch anspruchsvoll gestaltet. So hat | |
sie bei der Gestaltung des Covers von „Askanian Virgin“ mit dem bildenden | |
Künstler Alexander Khaverchuk zusammengearbeitet. Herausgekommen ist eine | |
extrem haptische Oberfläche, die an Karton erinnert und sogar im digitalen | |
Raum noch erahnbar ist. Es trifft eine zart psychedelische Formensprache | |
auf einen mit schwarzer Tusche skizzierten Storch, der sein Zielobjekt | |
fixiert. | |
## Intensiver Klangteppich | |
Edward Sol stellt auf diesem Album eine zwölfminütige Komposition vor, | |
deren Grundstock Tonaufnahmen sind, die Sol in der südukrainischen Steppe | |
gemacht hat. Sol nennt es „die Stille hören“. Es ist ein irritierender und | |
gleichzeitig intensiver Klangteppich, der sich außerhalb der üblichen | |
Schubladen Musik oder Geräusch verortet. | |
Für das Mini-Album „From Wreck and Ruin“, das Ende November erschienen ist, | |
greifen Liza Aikin und der ukrainische Techno-Produzent Vitalii Symonenko | |
auf Tonaufnahmen zurück, die der ukrainische Toningenieur Andrii Nidzelskyi | |
in der ersten Kriegswoche in der Nähe von Kiew gemacht hat. Die Beats sind | |
verzerrt, periodisch hört man Vogelstimmen und immer wieder Einschläge und | |
Explosionen. | |
Symonenko und Aikin wollen so die internationale Elektronik-Musik-Community | |
zu mehr Empathie mit der im Krieg stehenden Ukraine bewegen. Sie werfen der | |
Community vor, sich in Bezug auf den russischen Angriffskrieg immer noch | |
nicht klar positioniert zu haben. Sich aus allem heraushalten zu wollen, | |
zeuge von der Infantilität der Community, konstatieren sie. | |
„Unser Land ist verwundet und braucht Hilfe,“ schreiben Zavoloka und | |
Fedorenko auf der Webseite. „Und wir brauchen einen langen Atem,“ sind sie | |
sich sicher. Sie leben ihr durch Hoffnung und Tatkraft durchzogenes Motto, | |
das es bis zum Namensgeber ihres dritten Musiklabels gebracht hat: „Ich | |
singe so lange, bis mein Land frei ist.“ | |
16 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Vier-Rueckblicke-auf-das-Popjahr-2022/!5904187 | |
[2] https://ishallsinguntilmylandisfree.com/ | |
## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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