# taz.de -- Bildungsreform in der Ukraine: Tolstoi in die Verbannung | |
> Mit dem Krieg ändert die Ukraine radikal die Lehrpläne für die Schulen. | |
> Russisch wird faktisch nicht mehr gelehrt, dafür Erste-Hilfe-Training. | |
Bild: Ernste Kindheit: Schulanfang für Kadetten einer Militärschule in Kiew a… | |
LUZK taz | Für das neue Studienjahr hat die ukrainische Regierung den | |
Inhalt der Lehrpläne in Geschichte, Literatur und anderen Fächern | |
überarbeitet. In den Klassenstufen eins bis vier wird den Schüler*innen | |
mehr über Sicherheit, Fliegeralarm und Notfallschutz vermittelt. | |
Für die Klassen fünf bis elf wurde das Programm in den Bereichen | |
Geschichte, Grundlagen der Gesundheit, Recht, Literatur und Verteidigung | |
der Ukraine angepasst. Themen: das ukrainische Militär und die Prinzipien | |
der Kriegsführung unter modernen Bedingungen. Auch im Schießsport und in | |
medizinischen Belangen werden Schüler*innen weitergebildet. | |
Den jungen Menschen wird beigebracht, welche Alarmsignale es gibt, wie sie | |
sich im Falle eines Beschusses verhalten, wie sie einen sicheren Schutzraum | |
einrichten, wie sie mit explosiven Gegenständen umgehen sowie Erste Hilfe | |
leisten und wie sie mit Panik umgehen. | |
„Die Schule muss auf das reagieren, was im Land passiert, sie existiert | |
nicht in einem Vakuum“, sagt Mykola Skyba, Bildungsexperte am ukrainischen | |
Institut für Zukunftsfragen. Die schnelle Umstellung des Bildungssystems | |
ist erklärlich. Denn das Erste, was die russischen Besatzer taten, als sie | |
sich festsetzten, war, ukrainische Lehrbücher zu vernichten und durch ihre | |
eigenen zu ersetzen. | |
## Botschaft: Die Ukrainer*innen wehren sich | |
In sozialen Netzwerken wurde oft darüber geschrieben, wie das russische | |
Militär in Dörfern von ihnen in Besitz genommene Häuser mit Büchern aus | |
Schulbibliotheken beheizten. Die Politik der Vernichtung und Beschlagnahme | |
ukrainischer Lehrbücher sei massiv geworden, berichtete die | |
Hauptnachrichtendirektion des Verteidigungsministeriums der Ukraine. | |
„Die Russen haben alle Bücher vernichtet, die nicht mit den Grundsätzen der | |
Kreml-Propaganda übereinstimmten. Lehrbücher über die Geschichte der | |
Ukraine, aber auch wissenschaftliche und populärgeschichtliche Literatur | |
wurden in die Liste ‚extremistischer‘ Literatur aufgenommen. Die Besatzer | |
haben eine Liste mit Namen, deren Erwähnung verboten ist“, sagt der | |
ukrainische Geheimdienst. | |
„Die Sowjetunion ist ein imperialistischer Staat“, wird jungen | |
Ukrainer*innen in den Schulen ab jetzt erzählt – zum ersten Mal seit der | |
Wiederherstellung der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991. Eine | |
weitere wichtige Änderung besteht darin, dass sich die Programme nicht nur | |
auf die Untersuchung der Gewaltinstrumente konzentrieren, die im 20. | |
Jahrhundert gegen Ukrainer*innen eingesetzt wurden, sondern auch auf den | |
Widerstand dagegen. | |
„In der Vergangenheit wurde dem repressiven Vorgehen der Sowjetunion viel | |
Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt lernen Kinder mehr darüber, wie sich die | |
Ukrainer*innen dieser Repressionsmaschine widersetzt haben“, sagt Juri | |
Kononenko, ein Beamter des Bildungsministeriums. | |
## Bulgakow geht es an den Kragen | |
Das heißt, die [1][Hungerkatastrophe Holomodor] (1932/33) ist | |
Unterrichtsgegenstand, aber auch der Widerstand dagegen. Im Westen der | |
Ukraine fanden nach 1939 unter Stalin Repressionen statt, doch die Antwort | |
darauf waren, wie jetzt gelehrt wird, Aktionen der Ukrainischen | |
Aufständischen Armee (UPA). | |
Für die höheren Klassen ist eine neue Lehreinheit über den Krieg | |
vorgesehen, der 2014 begann und für den der Terminus „russisch-ukrainischer | |
Krieg“ eingeführt wird. Schüler*innen werden zudem [2][Konzepte wie | |
„Russische Welt“ und „Raschismus“] beigebracht, der Begriff des | |
„Kollaborationismus“ wird erweitert – anhand neuer Beispiele aus dem Jahr | |
2022. Anstelle des Ausdrucks „Politik der Russifizierung“ wird der Ausdruck | |
„Politik des Russentums“ verwendet. | |
In der Literatur wird ausgesiebt: Die Bastionen von Michail Bulgakow – in | |
der Ukraine einer der berühmtesten russischen Schriftsteller – bröckeln. | |
Der Schriftstellerverband der Ukraine will das Bulgakow-Museum in Kiew | |
schließen, aber dessen berühmtes Werk „Hundeherz“ wird teilweise noch | |
Schullektüre bleiben, und zwar dann, wenn Lehrkräfte und Schüler*innen | |
das wollen. | |
Der Zustimmung der Lehrkräfte bedarf es auch, um den Roman von Anatoli | |
Kuznenzow „Babi Jar“ ([3][zum NS-Massaker in der Ukraine]) aus dem Jahr | |
2014 im Unterricht zu behandeln. | |
## Dem Hass geschuldet | |
Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat mehrere Kriterien zur | |
Bestimmung „harmloser“ Schriftsteller, die auf Russisch geschrieben haben, | |
formuliert: Ihre Arbeit muss einen engen Bezug zur Ukraine haben, das | |
heißt, sie sind entweder dort geboren oder haben lange in der Ukraine | |
gelebt oder sie reflektieren in ihren Werken ukrainische Themen. Aus diesem | |
Grund wurde beispielsweise der Dichter Nikolai Gogol, der in der ersten | |
Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, im Programm belassen. | |
Aus dem Pflichtprogramm gestrichen wurden dagegen Werke von Anton | |
Tschechow, Iwan Bunin, Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi, Alexander Blok, | |
Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Anna Achmatowa. Stattdessen wurden | |
mehr europäische, amerikanische und asiatische Schriftsteller*innen in | |
das Programm aufgenommen, wie Pierre de Ronsard, Johann Wolfgang von | |
Goethe, Heinrich Heine, Adam Mickiewicz. | |
Eine weitere grundlegende Entscheidung: Alle Lehreinheiten, die sich auf | |
das Studium der russischen Sprache und Literatur beziehen, wurden ersatzlos | |
gestrichen. Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine und der | |
Aufdeckung aller Gräueltaten der Invasoren wächst der Hass auf alles | |
Russische. | |
Das Kiewer Bildungsministerium hat bekannt gegeben, dass die Schül*innen | |
in den Schulen der Hauptstadt kein Russisch mehr lernen (auch nicht | |
optional) und auch andere Fächer nicht mehr auf Russisch unterrichtet | |
werden. | |
## Russisch: Geschmäht, nicht verboten | |
Auch in einer der ältesten Universitäten Osteuropas – der Nationalen | |
Universität Wassil Nazarowitsch Karazin in Charkiw, wurde der Lehrstuhl für | |
russische Sprache und Literatur geschlossen. Stattdessen wird es eine | |
Abteilung für Slawische Philologie geben. Dafür wurden Lehrkräfte für die | |
polnische Sprache angeworben. | |
Wie die Regelung umgesetzt wird, entscheiden die jeweiligen | |
Bildungseinrichtungen selbst. Ein offizielles Verbot des Erlernens der | |
russischen Sprache in der Ukraine wurde zwar nicht eingeführt. Anna | |
Lytschko, Leiterin der Bildungsabteilung des Stadtrats von Mikolajiw, sagt | |
aber, dass „es einfach keine russische Sprache mehr geben wird“. | |
In der Schule für nationale Minderheiten Nr. 18 gab es früher drei erste | |
Klassen mit Russischunterricht. Sie hat am 1. September auf Ukrainisch | |
umgestellt. In dieser und anderen Schulen wurde bereits früher Ukrainisch | |
gelehrt, daher glaubt die Leitung, dass der Wechsel kein großes Problem | |
darstellen werde. | |
„Ich bin nicht dagegen, dass Menschen, die sich als ethnische Russ*innen | |
betrachten, Russisch lernen, aber nur, wenn das die gesamte Elternschaft | |
unterstützt. Ich denke, jede Russischstunde sollte mit den Worten beginnen: | |
Russland ist ein Aggressor, Präsident Wladimir Putin ein Kriegsverbrecher | |
und Russland verantwortlich für den [4][Völkermord am ukrainischen Volk]. | |
Unter solchen Bedingungen kann man diese Sprache lernen“, sagt | |
Bildungsombudsmann Sergei Gorbatschow. | |
## Südkorea, der neue Freund | |
Jewgenija Zachartschenko, Anwältin der öffentlichen Organisation „Elternrat | |
von Kropyvnytskyi“, hat bestätigt, dass das Fach „Russische Sprache“ nur | |
ein Teil des variablen Bestandteils der Ausbildung sei. „Das Erlernen der | |
russischen Sprache ist nicht verpflichtend und richtet sich nach den | |
Wünschen der Eltern. Wenn die Schule versucht, dieses Fach verpflichtend zu | |
machen, haben die Eltern das Recht, eine Verzichtserklärung zu verfassen, | |
in der sie auf die Wahlfreiheit hinweisen.“ | |
Was hingegen künftig Teil des Geografieunterichts sein wird: die Republik | |
Korea und der dortige Reformprozess sowie die positive Haltung Seouls | |
gegenüber dem Unabhängigkeitskampf der Ukraine. Dazu gehört dann auch der | |
Erwerb von Grundkenntnissen im internationalen Völkerrecht. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
6 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://osteuropa.lpb-bw.de/simon-holodomor-als-voelkerm | |
[2] https://www.zeit.de/news/2022-04/18/raschisten-und-orks-die-neue-sprache-im… | |
[3] /Gedenken-an-die-Toten-von-Babyn-Jar/!5803898 | |
[4] /Russische-Massaker-in-der-Ukraine/!5843136 | |
## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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