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# taz.de -- Schulbeginn in der Ukraine: Unterricht im Bombenhagel
> In der Ukraine beginnt das Schuljahr – wieder in Präsenz. Bunker werden
> zu Klassenräumen umfunktioniert, Wasser und Medikamente eingelagert.
Bild: Klassenzimmer in einem Luftschutzbunker in der Ukraine
Luzk taz | In diesen Tagen kursieren in der Ukraine Fotos, die sehr beliebt
sind. Oftmals ist ein „Klassenzimmer“ zu sehen, das in einem
Luftschutzbunker der jeweiligen Schule eingerichtet ist – in der Regel ist
das der Keller oder ein verlassener Schießstand. Letzteres ist noch ein
Relikt aus Sowjetzeiten. Darunter steht dann zum Beispiel: „Für das neue
Schuljahr ist alles vorbereitet.“
Am 1. September beginnt in der Ukraine das neue Schuljahr. Offiziell heißt
es aus dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft, dass es
Hybridunterricht geben wird. Es ist den Eltern überlassen, ob sie ihre
Kinder mitten [1][im Krieg] in den Präsenzunterricht schicken oder lieber
zu Hause behalten wollen. Doch bis jetzt ist nicht ganz klar, wer wo wie
lernen kann.
Fest steht: Viele Kinder vermissen ihre Schulen und das Miteinander dort.
In den vergangenen Jahren gab es in der Ukraine gigantische Probleme mit
dem Präsenzunterricht. Im Frühjahr 2020 sowie im Herbst und Winter 2021
waren alle Schüler*innen wegen [2][Corona] in häuslicher Quarantäne. Da
das Bildungssystem nicht auf Distanzunterricht vorbereitet war, hat die
Qualität der Wissensvermittlung massiv gelitten.
Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar fiel für die
Mehrheit der Schüler*innen der Unterricht erneut aus. Nach dem ersten
Schock wurde der Unterricht auf online umgestellt, aber nicht alle
Lehrkräfte hatten die Möglichkeit, ins Netz zu gehen. Auch die
psychologischen Voraussetzungen für den Unterricht waren nicht die besten.
Zudem verließen viele Lehrer*innen und Schüler*innen die Ukraine und
gingen in Länder der Europäischen Union. In deutschen, polnischen oder
tschechischen Schulen erhielten sie Präsenzunterricht, nahmen jedoch
gleichzeitig an Onlinekursen ihrer Schulen zu Hause teil.
## Prüfungen im Geheimen
Am schwierigsten war es für Erstklässler*innen, bei denen der direkte
Kontakt zu Lehrkräften besonders wichtig ist. Probleme gab es auch bei
Jugendlichen, die auf eine weiterführende Bildungseinrichtung wechseln
wollten. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen war es unmöglich, die
Leistungen unabhängig zu bewerten – was aber etwa für die Aufnahme an einer
Universität notwendig ist.
Die Regierung hat deshalb den sogenannten nationalen Mehrfächertest
entwickelt, der Prüfungsfragen zur ukrainischen Sprache, Mathematik und
Geschichte kombiniert. Diese Prüfungen fanden unter halb geheimen
Bedingungen statt – die Daten und Orte der Tests wurden zur Sicherheit der
Schüler*innen unter Verschluss gehalten.
Die Entscheidung, Präsenzunterricht wieder aufzunehmen, war schwierig. Aber
bereits im Mai hatte Bildungsminister Sergij Tschkarlet versichert, dass
die Kinder am 1. September wieder zur Schule gehen würden. „Vergessen Sie
nicht, dass Vollzeitunterricht ein weiterer Indikator für die Rückkehr
zur,Normalität' des ganzen Landes ist“, hatte auch der Ombudsmann für
Bildung Sergej Gorbatschow gesagt.
In Elternchats geht unterdessen die Diskussion weiter – eine Mehrheit
spricht sich zwar für Präsenzunterricht aus, es gibt aber auch Stimmen
dagegen. Viele befürchten, dass die Überprüfung von Luftschutzräumen in den
Schulen einfach nur „abgehakt“ werde und Eltern in diesem Fall ihre Kinder
in Gefahr brächten. Die meisten Eltern wünschen sich hybride
Lösungsansätze. Die Regierung beschloss, die Entscheidungsfindung so weit
wie möglich an Eltern und Schuldirektor*innen zu delegieren, und hat
nur wenige Rahmenvorgaben gemacht.
## Unterricht im Schichtsystem
Dort, wo es gelingt, die entsprechenden Schutzräume in den Kellern
herzurichten, soll das Schuljahr im Vollzeitmodus beginnen. Ein Teil der
Kinder kann dann mit der Lehrkraft im Klassenzimmer sein, während die, die
nichts riskieren und von zu Hause aus lernen wollen, dem Unterricht dann
via Internet folgen.
Es gibt aber auch andere Varianten, bei dem die Hälfte der Kinder zwei
Wochen zur Schule geht, und die andere online lernt – danach wird
gewechselt. Oder praktische Übungen und Laborunterricht können direkt in
der Bildungseinrichtung abgehalten werden, Frontalunterricht erfolgt
online.
Einige Schulen reduzieren die Stundenzahl, um den Unterricht in zwei
Schichten zu organisieren. In Präsenz werden dann vor allem Hauptfächer
unterrichtet – Mathematik, Sprachen, Physik oder Chemie. Die restlichen
Fächer werden über Projektarbeit oder im Selbststudium abgedeckt.
Wenn es an oder in der Nähe der Schule keinen Luftschutzbunker gibt, findet
der Unterricht nur online statt. Das betrifft die Regionen, die an Belarus
grenzen. Noch immer drohen von dort russische Angriffe, die Flugzeit der
Raketen ist kurz. Auch Kinder, die in den Frontregionen und in den von
Russland besetzten Gebieten leben, werden nicht zur Schule gehen.
## Die Angst der Eltern sitzt tief
Bis zum 1. September muss das Lehrpersonal in medizinischer Versorgung
geschult werden. Nach den Ferien werden die Lehrkräfte zudem unterwiesen,
wie sie sich bei einem Luftangriff zu verhalten haben. Die Schutzräume
sollen über ausreichend Wasser und Medikamente verfügen und, wenn möglich,
auch über Wi-Fi für den Unterricht.
Das Büro des Bildungsombudsmanns Sergej Gorbatschow hat unlängst eine
Umfrage durchgeführt: Mehr als 60 Prozent der Befragten sind nicht bereit,
ihre Kinder ab September am Präsenzunterricht teilnehmen zu lassen. Das
Bildungsministerium erklärte hingegen, dass es die Ergebnisse der Umfrage
nicht anerkenne und eigene Daten veröffentlichen wolle. Eltern können ihre
Kinder ohnehin vom Präsenzunterricht abmelden – auch wenn die jeweilige
Schule über entsprechende Schutzräume verfügt. „Manche Eltern haben Angst,
ihr Kind in die Schule zu bringen. Sie müssen dann die Schulleitung
benachrichtigen. Diese ist verpflichtet, dem Kind Online-Lehrangebote
zugänglich zu machen“, sagte Bildungsminister Tschkarlet.
Mittlerweile haben 41 Prozent aller Bildungseinrichtungen (Stand vom 15.
August) die Erlaubnis für Präsenzunterricht erhalten. Am schwierigsten ist
die Situation in der Frontstadt Mykolajiw und Umgebung sowie im Gebiet
Donezk. Dort sind nur 16 Prozent aller Schulen mit den erforderlichen
Schutzräumen ausgestattet. Am besten sieht es im Westen der Ukraine aus, wo
etwa 80 Prozent der Schulen ihre Tore öffnen werden. In der Hautstadt Kyjiw
liegt diese Quote bei 68 Prozent – von 1.063 Schulen werden 740 öffnen.
Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen, wird es an den Schulen
keine einheitlichen Lösungen geben. So gibt es in der Kiewer Schule Nr. 225
zwar einen Luftschutzbunker, jedoch keinen zweiten Ausgang und keine
Internetverbindung. Die Schule Nr. 2 in der Stadt Mukatschevo in
Transkarpatien im Westen des Landes kann nicht pünktlich zum Schuljahr
öffnen, weil die Arbeiten an einem Lagerraum noch in vollem Gange sind.
In der Schule Nr. 2 in Lutsk wird es Ersatzunterricht geben, da nicht alle
Schüler gleichzeitig in den Schutzraum hineinpassen. Die Schüler*innen
wechseln sich im Zweiwochenrhythmus beim Online- und Präsenzunterricht ab.
## Unterrichten aus dem Ausland
Derzeit befinden sich 22.000 von 450.000 ukrainischen Pädagog*innen im
Ausland, das sind etwa 5 Prozent. Die Regierung hofft darauf, dass es keine
personellen Engpässe geben wird. Es sei sogar gut, dass ein Teil im Ausland
sei. Die Lehrkräfte könnten in ukrainischen Schulen arbeiten und
Fernunterricht erteilen, sagte Ombudsmann Gorbatschow kürzlich.
Nach unterschiedlichen Schätzungen halten sich derzeit zwischen 700.000 und
1,5 Millionen Schüler*innen im Ausland auf. Daher wird es in diesem Jahr
in der Ukraine viel weniger Schulen geben, schon jetzt gibt es Probleme,
erste Klassen einzurichten.
Schüler*innen im Ausland können auf verschiedene Art und Weise lernen:
online in ukrainischen Schulen, [3][Präsenzunterricht dort, wo die Kinder
und Jugendlichen jetzt wohnen] oder eine Kombination aus beidem.
Eltern mit Kindern im Ausland berichten, dass in einigen Ländern
Geldstrafen verhängt werden können, falls die Kinder die Schulen nicht
besuchten. Das ist ein Problem, denn oft fallen die Unterrichtszeiten in
ukrainischen und ausländischen Schulen zusammen.
Ombudsmann Gorbatschow hält es für ideal, wenn ukrainische Schüler*innen
an ausländischen Schulen täglich zwei bis drei Stunden Zeit hätten, um mit
ukrainischen Lehrkräften zu arbeiten. Dies könne jedoch nur im Einvernehmen
mit den Bildungsministerien der verschiedenen Länder erfolgen.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
31 Aug 2022
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## AUTOREN
Juri Konkewitsch
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