| # taz.de -- Berichte aus russischer Gefangenschaft: Verhört, gequält, „Mül… | |
| > Auf russisch besetztem Gebiet gibt es viele willkürliche Festnahmen. Drei | |
| > Männer erzählen, was Gefangenschaft und Folter mit ihnen gemacht haben. | |
| Bild: In Kupiansk, Region Charkiw, werden seit Februar neue Saiten aufgezogen | |
| Charkiw taz | Als sich am 14. August für drei junge Männer die Tore der | |
| Haftanstalt in der Kleinstadt Kupjansk im Gebiet Charkiw öffnen, können die | |
| sich ihre plötzliche Freilassung genauso wenig erklären wie ihre Verhaftung | |
| einige Wochen vorher. Alle drei waren sie von der Einnahme der | |
| 50.000-Einwohner-Stadt Kupjansk in den ersten Kriegstagen Ende Februar | |
| durch die russischen Truppen überrascht worden. | |
| Das [1][Deutsche Rote Kreuz hat jüngst bekannt gegeben], dass es seit | |
| Kriegsbeginn rund 700 Suchanfragen zu vermissten Personen durch Angehörige | |
| erhalten habe. Viele werden vom russischen Geheimdienst, dessen | |
| Helfershelfern aus den Reihen der ostukrainischen Separatisten und | |
| ukrainischen Polizisten, die auf die russische Seite übergelaufen sind, | |
| festgenommen, gefoltert und nach einigen Wochen ohne Erklärung nachts | |
| geweckt, aus der Haft entlassen und auf die andere Seite abgeschoben. | |
| So wie die drei Männer, deren Aussagen zeigen, dass man in den von Russland | |
| kontrollierten Gebieten schon wegen einer Kleinigkeit für Wochen in | |
| Gefängnissen des Geheimdienstes landen kann. Betreut werden sie derzeit von | |
| der Menschenrechtsgruppe Charkiw. | |
| ## Sergej Sasonows Ex-Frau flehte: „Hol mich da raus!“ | |
| Sergej Sasonow sitzt auf der Veranda eines Cafés am Flüsschen Lopan, das | |
| sich mitten durch die zweitgrößte Stadt der Ukraine schlängelt, raucht | |
| Kette und trinkt starken Kaffee. Der Softwareingenieur schreibt und | |
| verkauft Automatisierungsprogramme für Fahrstühle, Kameras, | |
| Getreidespeicher und Kältekammern. Sein Hobby sind schnelle Motorräder. Er | |
| ist es gewohnt, zu bestimmen, was gemacht wird, sagt er. Sein ganzes Leben | |
| habe er in Charkiw verbracht. | |
| Eines Tages [2][nach dem 24. Februar] erhält er einen Anruf von seiner | |
| Ex-Frau, die inzwischen mit der gemeinsamen Tochter nach Kupjansk gezogen | |
| ist. Die Russen stünden vor der Stadt. „Hol mich da raus!“, fleht sie ihn | |
| an. Er macht sich auf den Weg mit seinem Auto, doch er kommt zu spät. | |
| Zwar gelingt es ihm, in die Stadt zu kommen, doch schnell erkennt er, dass | |
| er nicht mehr herauskommt. Und da er jemand ist, der sich von anderen nicht | |
| sagen lässt, was er zu tun und zu lassen hat, gerät er mit den russischen | |
| Besatzern immer wieder aneinander. | |
| Vier Mal wird er festgenommen werden. Mal wird er festgenommen und verhört, | |
| weil er sich nicht an die Ausgangssperre gehalten hat, ein anderes Mal, | |
| weil die Russen seine Schrammen im Gesicht, die er sich bei einem | |
| Motorradunfall zugezogen hat, verdächtig finden. Sie glauben, die habe er | |
| sich im Kampf gegen die Separatisten geholt. | |
| ## Ukrainische Hymne als Weckmelodie | |
| Nach seiner vierten Verhaftung dauert es Wochen, bis er wieder freikommt. | |
| „Dieses Mal bin ich verhaftet worden wegen meiner proukrainischen Position. | |
| Mit mir in Haft war ein Bekannter. Ihn hatten sie wegen Drogenhandel | |
| festgenommen. | |
| Als er die Folter nicht mehr ausgehalten hat, hat er mich verraten, hat | |
| ihnen gesagt, dass ich auf meinem Telefon die ukrainische Nationalhymne als | |
| Weckmelodie habe. Bei den Verhören haben sie uns Klammern an Ohrläppchen | |
| und Genitalien geheftet und dann Strom durchgejagt.“ | |
| Jetzt sei er voller Hass, sinne auf Rache. „Ich war nie ein Nationalist. | |
| Doch nach all den Foltern bin ich zum Nationalisten geworden.“ Er habe | |
| viele Verwandte in Russland. Aber nach dieser Erfahrung habe er alle | |
| Kontakte zu Russen abgebrochen. „Die sind ja alle Zombies“. | |
| Sorge mache ihm nun, dass die sein Smartphone hätten. Nun könnten sie sein | |
| Adressbuch durchgehen, in seinem Namen in den sozialen Netzen irgendwelche | |
| Texte posten, fürchtet er. | |
| ## Maxim Dolenko wurde ein Sack über den Kopf gezogen | |
| Maxim Dolenko arbeitete gerade in Kupjansk auf dem Bau, schwarz, als die | |
| russischen Truppen kamen. Nirgendwo war er registriert. Und so hätte | |
| niemand nach ihm gefragt, wenn er nicht nachts auf der Straße bei einer | |
| Kontrolle angehalten worden wäre. | |
| „Eigentlich wurde ich festgenommen, weil ich die Sperrstunde nicht | |
| eingehalten habe. Doch dann haben sie sich mein Smartphone angesehen und | |
| dabei entdeckt, dass ich einen Freund bei der ukrainischen Armee habe. Und | |
| ja, es stimmt, ich habe ihm auch ein Video einer russischen Militärkolonne | |
| geschickt.“ | |
| Lange, sehr lange habe man ihn verhört, berichtet er stockend. Und immer | |
| wieder hätten sie gefragt, wo denn sein Freund derzeit sei. Er hatte es | |
| ihnen nicht gesagt, einfach auch deswegen, weil er es selbst nicht wusste. | |
| Dann habe man ihn 20 Tage inhaftiert, mit mehr als 20 Personen sei er in | |
| einer Zelle gewesen, die für vier Personen vorgesehen sei. Nach den | |
| schmerzhaften Verhören sei das Schlimmste in den Zellen die schlechte Luft | |
| gewesen. | |
| ## Beistand von Menschenrechtsgruppe | |
| Wer ihn verhört und gequält hat, wird er wohl nie erfahren. Seine Peiniger | |
| hatten ihm einen Sack über den Kopf gezogen, ihn immer nur mit „Müll“ | |
| angesprochen. | |
| Er werde erst einmal in Charkiw bleiben. Da hat ihn auch die | |
| „Menschenrechtsgruppe Charkiw“ unter ihre Fittiche genommen. Die Helfer | |
| unterstützen Opfer russischer Gefangenschaft und Folter „materiell, mit Rat | |
| und Tat, leisten juristischen Beistand“, berichtet der Vorsitzende der | |
| Gruppe, Jewgenij Sacharow, gegenüber der taz. | |
| Maxim Dolenko wird sich erst mal eine Arbeit suchen oder sich freiwillig | |
| zur Armee melden. Seine Mutter und seine Freundin sind noch in Kupjansk. | |
| „Aber ich bin mir sicher, ich werde beide wiedersehen“, sagt er – und zum | |
| ersten Mal im Gespräch lacht er. | |
| ## Jewgenij Hajdarow wurde auf den Kopf geschlagen | |
| „Ich habe einer russischen Militärkolonne den ausgestreckten Mittelfinger | |
| gezeigt. Das habe ich meinem Kumpel gesagt. Und ich habe ihm auch gesagt, | |
| dass ich schon mal zu Hause die ukrainische Nationalhymne singe.“ | |
| Was Jewgenij nicht wissen kann: Dieser „Kumpel“ sympathisiert mit der | |
| russischen Seite. Wenig später holen die ihn ab, die Adresse hat ihnen der | |
| „Kumpel“ verraten. Auch Jewgenij wird gefoltert und geschlagen. Mit dabei | |
| gewesen seien auch ukrainische Polizisten, die zur russischen Seite | |
| übergelaufen seien. | |
| „Immer das gleiche Spiel: die Zellentür geht auf, und sie rufen einen | |
| Namen. Ist es deiner, musst du in den Gang, sie stülpen dir einen Sack über | |
| den Kopf, legen dir Handschellen an. Und kaum im Verhörraum angekommen, | |
| geht es los: Sie schlagen dich, auf die Nieren, die Brust, foltern mit | |
| Strom, an den Ohren, den Fingern, den Genitalien. Einmal haben sie mir | |
| einen Polizeihelm aufgesetzt und dann draufgeschlagen.“ An den nächsten | |
| Tagen sei er am ganzen Körper blau gewesen. | |
| „Die wollten von mir Informationen. Die haben gesehen, dass ich mit | |
| ukrainischen Militärs befreundet bin, selber auf einer Akademie der | |
| Luftstreitkräfte Kurse belegt hatte. Und sie haben auch in meinem | |
| Smartphone gesehen, dass ich über Telegram Informationen über die | |
| russischen Besatzungstruppen weitergegeben hatte.“ | |
| Einmal habe er drei Tage lang Handschellen angehabt, habe zwei Mal eine | |
| ganze Nacht stehen müssen. „Ich bin froh, dass ich noch laufen kann. Bei | |
| meiner Freilassung haben die Russen mir gesagt, mir sei die Einreise in die | |
| 'befreiten Gebiete 25 Jahre verboten. Da kann ich nur lachen. Ich glaube, | |
| ich werde schon viel früher in ein befreites Kupjansk reisen können“. | |
| 30 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.drk-suchdienst.de/presse/internationaler-tag-der-vermissten/not… | |
| [2] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/506913/chronik-24-februar-bis-1-ma… | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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